1.170.2 (mu22p): 2. Außerhalb der Tagesordnung: Forderung des Zentrums zur Verabschiedung des Haager Konferenzergebnisses.

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Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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2. Außerhalb der Tagesordnung: Forderung des Zentrums zur Verabschiedung des Haager Konferenzergebnisses.

Der Reichskanzler teilte mit, daß er am Tage vorher, also am 29. Januar, von den Zentrumsabgeordneten Brüning und Esser aufgesucht worden sei, und daß diese ihm über die Einstellung ihrer Fraktion zur Verabschiedung des Haager Abkommens bestimmte Erklärungen abgegeben hätten. Der Inhalt dieser Erklärung ergebe sich aus einer offiziellen Verlautbarung der Fraktion, die der Presse übergeben worden sei. Diese Verlautbarung habe folgenden Wortlaut:

„Im Auftrage des Vorstandes der Zentrumsfraktion haben heute Mittag die Abgeordneten Brüning und Esser dem Reichskanzler die nach zweitägigen[1403] Beratungen beschlossene Stellungnahme des Zentrums zur politischen Behandlung des Haager Abkommens zur Kenntnis gebracht. Das Zentrum verlangt, daß vor der endgültigen Entscheidung über den Young-Plan eine Klärung der Finanzlage erfolgen müsse; diese Klärung hat zur Voraussetzung die Verabschiedung der zur dauernden Gesundung der Kassenlage notwendigen Gesetze und stärkere Bindung der Regierungsparteien in Bezug auf die Durchführung der Finanz- und Steuerreform.

Ferner wünscht die Zentrumspartei vor ihrer entscheidenden Fraktionssitzung eine ausreichende Darlegung der Reichsregierung über den Stand und Fortgang der Saarverhandlungen und die Behandlung des polnischen Liquidationsabkommens.“9.

9

Über eine gemeinsame Sitzung von Vorstand und RT- und LT-Fraktion der BVP am 30. 1. berichtete v. Haniel: „Ein Communiqué über die Sitzung teilt mit, daß darüber sich Einmütigkeit ergeben hat, daß zu dem Haager Abkommen so lange eine endgültige Stellungnahme nicht möglich sei, als nicht feststehe, welche Maßnahmen zur Gesundung der deutschen Finanzwirtschaft erfolgen und welche Reichstagsgruppen die Verantwortung dafür tragen sollten. Wie das Zentrum verlange auch die Bayerische Volkspartei daher eine Sicherung dieser Maßnahmen zur dauernden Gesundung der Finanzwirtschaft im Reich, Ländern und Gemeinden, bevor die Entscheidung über das Haager Abkommen falle […]“ (31.1.30; R 43 I /2257 , Bl. 132 f., hier: Bl. 132 f.).

Er habe die Darstellung der Abgeordneten Brüning und Esser dahin verstanden, daß das Zentrum vor dem Abschluß der dritten Lesung des Haager Abkommens eine Verabschiedung der zum Finanz- und Steuerreformprogramm gehörigen Gesetze verlange. Ferner sei der Wunsch geäußert worden, daß eine möglichst weitgehende Festlegung auf das erst vom Etatsjahr 1931 praktisch werdende Steuersenkungsprogramm erfolge. Er habe diese Erklärung lediglich zur Kenntnis genommen mit dem Hinweis, darauf, daß er sie in der heutigen Kabinettssitzung vortragen werde. Seine schweren Bedenken hinsichtlich der Möglichkeit der Erfüllung der Forderung habe er jedoch nicht verschwiegen. Die Forderung aufstellen, heiße alle die Schwierigkeiten aufzeigen, die sich der Sanierung des Etats und der gesamten Finanzlage des Reichs entgegenstellen. Dieses Problem zu meistern, erfordere Zeit und langwierige Verhandlungen. Das Zentrum komme zu seinen Forderungen offenbar aus der Befürchtung heraus, daß die jetzigen Koalitionsparteien nach der Verabschiedung des Haager Abkommens auseinanderfallen würden; es wünsche daher vorher möglichst weitgehende Bindungen für die Zukunft durchzusetzen. Die Durchführung der Wünsche des Zentrums sei gleichbedeutend mit einer erheblichen Verzögerung in der Verabschiedung des Haager Abkommens. Die Zentrumsabgeordneten hätten zwar nur von einer Verzögerung von 8–10 Tagen gesprochen. Er sei nicht so optimistisch. In einer Verzögerung der Verabschiedung des Haager Abkommens liege eine große Gefahr, denn je länger sich die Verhandlungen hinzögen, je größer und je gefährlicher werde der Druck der Strömungen werden, die auf eine Ablehnung der Gesetze hinauslaufen.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte, daß nach seiner Auffassung das Ergebnis der Haager Konferenz möglichst schnell ratifiziert werden müsse. Man müsse mit einer Ablehnungsbewegung nicht nur in Deutschland, sondern auch mit wachsenden und gefährlichen Widerständen gegen den Young-Plan in den[1404] Gläubigerländern rechnen. Ferner dürfe man den Franzosen keinen Vorwand zur Hinauszögerung der Räumung des Rheinlandes geben. Eine Verzögerung der Ratifizierung um 8–10 Tage sei an sich nicht allzu bedenklich. Aber in dieser Frist sei eine Bereinigung der Finanzlage, so wie das Zentrum sie wünsche, unmöglich. Äußerstenfalls könne in dieser Frist der Gesamtplan für den Etat 1930 soweit gefördert werden, daß er vom Kabinett verabschiedet werden könne. Das weitergehende Finanz- und Steuerreformprogramm hänge mit dem Finanzausgleich und vielen anderen Dingen zusammen, die sich erst nach monatelangen Beratungen und Kämpfen zu Ende führen ließen. Vor der Verabschiedung des Haager Abkommens könne man sich im Kabinett über den Etat 1930 und gewisse Grundzüge des Finanzprogramms einigen. Eine gleichzeitige Verabschiedung von dazugehörigen Gesetzen im Reichstag sei undenkbar. Vielleicht könne man auch soweit gehen, daß man schon vor der dritten Lesung über das Haager Abkommen mit den Parteien über den Etatplan 1930 und über die Richtlinien eines Finanzprogramms verhandele. Einer Verbindung aller dieser Fragen mit dem Haager Abkommen könne er nicht dringlich genug widerraten.

Der Reichsverkehrsminister erklärte, im Reichstage seien Strömungen vorhanden, die nach Verabschiedung des Haager Abkommens an eine Auflösung des Reichstags und eine Durchführung der Finanz- und Steuerreform im Wege der Notstandsverordnung auf Grund des Artikel 48 der Reichsverfassung dächten. Weil dem so sei, halte es das Zentrum für dringend geboten, daß die Regierungsparteien sich schon vor der Verabschiedung des Haager Abkommens zum mindesten über die Gesetze einig würden, die für die Verabschiedung des Etats 1930 nötig seien. Wenn das gesamte Sanierungswerk der Reichsfinanzen nicht so schnell gelinge, wie man sich das im Augenblick im Zentrum wohl denke, dann müsse man wenigstens schon jetzt möglichst feste Bindungen hinsichtlich der notwendigen Maßnahmen zur dauernden Gesundung der deutschen Finanzwirtschaft eingehen. Die Möglichkeiten zur Lösung dieses Problems seien gering; es bedürfe daher keiner langen Verhandlungen darüber. Die Erzwingung einer Einigung über die Maßnahmen zur Sanierung sei in der Hauptsache eine politische Willensfrage.

Der Reichsminister des Auswärtigen meinte, die Annahme des Ergebnisses der Haager Konferenz sei eine Frage der Außenpolitik. Wenn man diese Frage mit der Innenpolitik verquicken wolle, komme man zu unmöglichen Konsequenzen. Vom Standpunkt der Außenpolitik, auf die es bei dem Haager Abkommen ausschlaggebend ankomme, sei eine möglichst schnelle Ratifizierung eine gebieterische Notwendigkeit.

Der Reichsminister des Innern befaßte sich mit den vom Reichsverkehrsminister erwähnten Strömungen auf Auflösung des Reichstags und ein Regieren unter Zuhilfenahme der Möglichkeiten des Artikel 48 der Reichsverfassung. Er meinte, daß Steuerverordnungen selbst in den Zeiten der schlimmsten Finanznot des Reiches nicht mit Hilfe des Artikel 48 der RV, sondern nur auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes erlassen worden seien. Er halte es daher für ausgeschlossen, daß nach der Verabschiedung des Haager Abkommens an eine Lösung des Finanzproblems mit Hilfe des Artikels 48 gedacht werden[1405] könne. An einer Auflösung des Reichstags habe keine der Regierungsparteien Interesse. Denn eine Auflösung des Reichstags werde wohl nur zu einer Stärkung der radikalen Oppositionsparteien führen. Er riet dringend, daß das Zentrum seine ultimative Forderung fallen lassen möge. Das Haager Abkommen eigne sich nicht zur Ausübung einer Pression in dem vom Zentrum angestrebten Sinne. An eine Verabschiedung von Finanz- und Steuergesetzen vor der Erledigung des Haager Abkommens sei auch um deswillen nicht zu denken, weil der Reichsrat eingeschaltet werden müsse und dieser mindestens 3 Wochen Frist für diese Gesetze für sich in Anspruch nehmen werde.

Der Reichskanzler erklärte, daß auch nach seiner Meinung das Haager Abkommen nicht als Druckmittel für die Erreichung der Wünsche des Zentrums geeignet sei. Eine alsbaldige Einigung über gewisse Grundzüge des Finanzprogramms und des Etats 1930 werde sich im Kabinett wohl möglich machen lassen. Man könne mit den Parteien auch darüber verhandeln. Er beabsichtige, das vom Zentrum aufgeworfene Problem in der für Montag, den 3. Februar in Aussicht genommenen Parteiführerbesprechung zur Erörterung zu stellen, und er werde versuchen, die Angelegenheit unter den Parteien zur Klärung zu bringen.

Der Reichsverkehrsminister erwiderte auf die gegen das Zentrum gerichteten Ausführungen, daß es dem Zentrum fernliege, auf die übrigen Regierungsparteien mit dem Haager Abkommen einen ungehörigen Druck auszuüben. Das Zentrum werde aber daran festhalten, daß, bevor die Entscheidung über das Haager Abkommen falle, Klarheit über die notwendigen Maßnahmen zur dauernden Gesundung der deutschen Finanzwirtschaft bestehe, und daß die Durchführung der als notwendig erkannten Maßnahmen gesichert sei. Nur auf diese Weise werde sich übrigens eine Verabschiedung des Etats 1930 vor den parlamentarischen Osterferien in Aussicht nehmen lassen.

Der Reichskanzler schloß die Aussprache mit dem Bemerken, daß er das Thema in der für Montag, den 3. Februar, in Aussicht genommenen Parteiführerbesprechung zur Erörterung stellen werde, und daß er je nach dem Ausgang dieser Erörterung eine nochmalige Kabinettsberatung veranlassen werde, bei der dann auch die heute verhinderten Minister des Zentrums v. Guérard und Wirth sowie der Vertreter der Bayerischen Volkspartei, Reichsminister Schätzel, anwesend sein könnten10.

10

Die erste Etatsbesprechung des Kabinetts fand am 5. 2. statt, Dok. Nr. 434, P. 3; die Besprechung mit den Parteiführern erfolgte am 7. 2., Dok. Nr. 437.

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