1.95.1 (bru2p): Aussprache über eine zoll- und wirtschaftspolitische Angelegenheit.

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Aussprache über eine zoll- und wirtschaftspolitische Angelegenheit.

Der Reichskanzler stellte den Antrag der Stickstoffindustrie auf Erlaß eines Einfuhrverbots zur Erörterung1.

1

Zu den bisherigen Forderungen des Stickstoff-Syndikats an die RReg. s. Dok. Nr. 319, Anm. 9. Mit Schreiben an den RK vom 24.6.31 hatte das Stickstoff-Syndikat unter Hinweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ein Einfuhrverbot für Stickstoff mit Wirkung vom 29.6.31 verlangt; zu diesem Zeitpunkt würde, wenn bis dahin keine Einigung erzielt werden würde, das internationale Stickstoffkartell außer Kraft treten, die ausländischen Produzenten würden Stickstoff zu Dumpingpreisen nach Dtld einführen, und als Folge dieser Importe würde die dt. Stickstoffindustrie ihre Betriebe schließen und rund 32.000 Arbeiter entlassen müssen (Schreiben und Anlage, mit Sichtparaphe des RK in R 43 I /2421 , Bl. 338 bis 349). Während StS Trendelenburg den Antrag in mündlichen Besprechungen bereits abgelehnt hatte (Vermerk Feßlers vom 29.6.31, R 43 I /2421 , Bl. 350), hatte der RFM in einer Aufzeichnung trotz handelspolitischer Bedenken dem Einfuhrverbot für Stickstoff zugestimmt und einen entsprechenden VOEntw. vorgelegt (Abschrift einer undatierten Aufzeichnung Dietrichs mit VOEntw. in R 43 I /2421 , Bl. 355–361). Der bayer. Gesandte v. Preger hatte sich am 29.6.31 im Auftrage seiner Reg. gleichfalls für das Einfuhrverbot eingesetzt (Vermerk des MinDir. v. Hagenow, R 43 I /2421 , Bl. 362).

Ministerialdirektor ErnstErnst führte aus: Auf Grund der Notverordnung sei der Erlaß eines Einfuhrverbots nicht möglich. Die Stickstoffindustrie beantrage ihn mit der Begründung, daß die öffentliche Sicherheit gefährdet wäre, wenn die Überschwemmung Deutschlands mit billigem ausländischen Stickstoff zum Zusammenbruch der Stickstoffindustrie und damit zu Arbeiterentlassungen in politisch bedenklichen Bezirken führen würde.

Würde gemäß § 2 des Zollgesetzes2 mit dieser Begründung ein Einfuhrverbot für Stickstoff erlassen, so wäre ein schwerwiegender Präzedenzfall geschaffen. Andere Interessenten würden in Deutschland ein gleiches Vorgehen fordern. Das Ausland könnte mit gleicher Begründung andere Einfuhrverbote erlassen. Gefahr von Repressalien drohe insbesondere von Holland und Belgien3.

2

Der VOEntw. des RFM stützte sich auf § 2 des Vereinszollgesetzes vom 1.7.1869 (Bundesgesetzbl. des Norddt. Bundes, S. 317), der die Reg. ermächtigte, die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Gegenständen „beim Eintritt außerordentlicher Umstände“ zu verbieten.

3

Der RFM hatte in seiner o. a. Aufzeichnung darauf hingewiesen, daß der belg. LegR Joly am 13.6.31 im AA mitgeteilt habe, daß nach Ansicht der belg. Reg. das Einfuhrverbot gegen den dt.-belg. Handelsvertrag verstoßen würde (R 43 I /2421 , Bl. 358).

Mit wirtschaftlichen Gründen könne nach Lage der handelspolitischen Bindungen ein Einfuhrverbot nicht begründet werden.

[1249] Staatssekretär Dr. TrendelenburgTrendelenburg erklärte folgendes: Es sei damit zu rechnen, daß die internationalen Verhandlungen der Stickstoffindustrie scheitern würden. In diesem Falle würde bereits am 30. Juni, mittags 12 Uhr, der freie Verkauf von Stickstoff möglich sein.

Der Erlaß eines Einfuhrverbots würde international nicht anerkannt werden können. Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne der handelsvertraglichen Bestimmungen würde vorliegen, wenn sie sich aus den Eigenschaften der Ware selbst ergäbe, wie bei kommunistischen Hetzschriften, bei Giftgasen, Sprengstoffen und ähnlichem, nicht aber, wenn indirekt aus wirtschaftlichen Wirkungen eine Gefährdung zu befürchten wäre.

Bei den Beratungen der Kommission für Ein- und Ausfuhrverbote in Genf4 sei eine Katastrophenklausel vorgesehen worden, nach der der Erlaß eines Einfuhrverbotes bei ernsthafter Gefährdung der Wirtschaft möglich war. Diese Ausweitung der Handelsvertragsbestimmungen sei aber schließlich nicht beschlossen worden.

4

Diese Kommission hatte als Unterausschuß der Zollfriedenskonferenz im Frühjahr 1930 getagt: vgl. Schultheß 1930, S. 456–459.

Belgien und Holland würden ernsthafteste Gegenmaßnahmen ergreifen: Retorsionen, Einfuhrverbote und andere Druckmittel.

Im Grunde handele es sich nur um Vorteile der Industrie im Quotenkampfe. Retorisionen würden die Arbeitslosigkeit auf anderen Gebieten herbeiführen.

 

Geheimrat Bosch5 habe durchblicken lassen, daß voraussichtlich nur Oppau geschlossen würde6. Würde eine privatwirtschaftliche Verständigung vor Erlaß des Einfuhrverbots möglich sein, so wäre dieses weniger bedenklich. Der Vertreter der Stickstoffindustrie bei den internationalen Verhandlungen in Scheveningen7 habe erklärt, eine Einigung würde zustande kommen, wenn das Einfuhrverbot vorher erlassen würde, anderenfalls nicht. Die Lage der deutschen Industrie würde sich aber auch bei Erlaß des Einfuhrverbots nicht wesentlich verbessern, weil die Industrien in Holland und Belgien, die starken Einfluß auf die Regierung hätten, sofort Retorsionen veranlassen würden, die die deutsche Maßnahme ausglichen. Deutschland sei eben in sehr schwacher Position und nach seiner ganzen wirtschaftlichen Lage in hohem Grade verwundbar.

5

Vorstandsvorsitzender der IG Farbenindustrie AG, Frankfurt a. M.

6

Das Stickstoff-Syndikat hatte in dem Schreiben an den RK neben Oppau noch ca. 20 weitere Betriebe genannt, die stillgelegt werden müßten (R 43 I /2421 , Bl. 392).

7

Hermann Schmitz, Vorstandsmitglied der IG Farbenindustrie AG.

Würde der Stickstoffpreis im Innern aufrechterhalten und eine Vereinbarung dahin getroffen, daß der ausländischen Industrie Kontingente zum Inlandpreise abgenommen würden, so würde die Spanne, die beim Inlandpreis von 93 Pfg. und einem Auslandpreis von 30 Pfg. 63 Pfg. betrüge, von der deutschen Landwirtschaft für die ausländische Stickstoffindustrie gezahlt werden müssen. Bei einem Kontingent etwa in Höhe von 20 Millionen kg seien das rund 12 Millionen RM im Jahr.

[1250] Belgien widerstrebe in der Reparationsfrage dem amerikanischen Vorschlage noch sehr heftig8. Maßnahmen auf dem Stickstoffgebiet würden voraussichtlich auch bei der bevorstehenden Regelung Opfer fordern, die mit 10 Millionen RM veranschlagt werden könnten.

8

In einem als persönlich bezeichneten Gespräch mit MinDir. Ritter hatte der Finanzbeirat in der belg. Gesandtschaft in Berlin, Frère, den Hoover-Plan für Belgien abgelehnt. Belgien habe jetzt schon ein Defizit von 1 Mrd. Francs. Wenn das einjährige Moratorium ohne Änderungen angenommen würde, so würde ein weiteres Budget-Defizit von über einer halben Mrd. Francs entstehen. Deshalb habe auch das belg. Parlament eine Sonderstellung für Belgien während des Moratoriums verlangt (Abschrift eines Aktenvermerks Ritters vom 26.6.31, R 43 I /313 , Bl. 285–288; Telegramme des dt. Gesandten in Brüssel, Graf Lerchenfeld, über die Haltung der belg. Reg. zum Hoover-Moratorium sowie Presseberichte vom 22. 6.–15.7.31 in R 43 I /313 , Bl. 279–284, 289–316).

Die Stützungsmaßnahmen der Stickstoffindustrie für ihre Preise brächen jetzt zusammen. Der Staat solle die Auswirkung hintan halten, obwohl die Stickstoffindustrie bei relativ hohen Preisen bisher auf Kosten der Landwirtschaft glänzende Geschäfte gemacht habe. Mit dem Gewinn habe sie die Kohleverflüssigung ausgebaut, die jetzt durch die Mineralölabgabe der Notverordnung9 gestützt wurde. Sie müsse in der Lage sein, der kommenden Schwierigkeiten Herr zu werden.

9

Vgl. den 2. Teil, Kapitel III der NotVO vom 5.6.31 (RGBl. I, S. 284 ).

Es sei nicht möglich, Deutschland überall vom Weltmarkt abzuhängen. Es müßte eine Preiskontrolle einsetzen, um eine vernünftige Relation zum Weltmarktpreise durchzusetzen, wenn es zu einem Kontingentsabkommen käme. Die Industrie sei aber gegenüber dem Auslande in ihrer Produktion keineswegs unsicher; allerdings werde die Produktion konzentriert werden müssen, da eine enorme Überkapazität vorliege. Die guten Preise hätten zu neuen Gründungen von Stickstoffwerken geführt, die teilweise in der bestimmten Erwartung erfolgt seien, daß die IG Chemie10 sie mit einem Überpreise aufkaufen würde.

10

Korrekt: IG Farbenindustrie AG.

Ministerialdirektor RitterRitter teilte die Auffassung, daß der Industrie weder durch Zölle noch durch ein Einfuhrverbot zu helfen sei. Ein Verbot würde bald wieder aufgehoben werden müssen, weil es voraussichtlich Gegenstand eines schiedsgerichtlichen Verfahrens wäre, in dem die Entscheidung bestimmt gegen Deutschland fallen würde. Die schwierige handelspolitische Lage Deutschlands würde dadurch verschärft. Das Einfuhrverbot würde den Anlaß geben, daß der Handelsvertrag mit Belgien gekündigt würde. Andere Länder würden in gleicher Weise vorgehen. Die Stimmung dafür sei an sich bereits im Wachsen.

Staatssekretär Dr. ZweigertZweigert schloß sich den rechtlichen Ausführungen der Ressortvertreter an. Die Frage sei von größter grundsätzlicher Bedeutung. Die Konstruktion einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sei weit hergeholt und deswegen bedenklich.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft befürchtete von einer starken Einfuhr von Stickstoff die Vernichtung der deutschen Industrie und die Auslieferung der deutschen Landwirtschaft an die ausländischen Erzeuger.[1251] Gleichwohl verschloß er sich den Bedenken nicht, die geäußert waren, und trat dafür ein, daß Vereinbarungen getroffen würden, die sowohl der Stickstoffindustrie wie der Landwirtschaft helfen könnten.

Der Reichskanzler stellte fest, daß zur Zeit ein Einfuhrverbot für Stickstoff nicht erlassen werden könne, wenn auch mit Rücksicht auf die Interessen der Landesverteidigung eine Begründung der Maßnahme möglich wäre.

Auf seinen Vorschlag beschloß das Reichskabinett, daß der Vertreter der Stickstoffindustrie bei den internationalen Verhandlungen, Direktor Schmitz, sofort nach seiner Rückkehr von dem Reichswirtschaftsminister und dem Reichsminister der Finanzen empfangen werden solle, um mit diesen über die Möglichkeiten anderer Lösungen der Stickstoffrage zu verhandeln11.

11

Zur weiteren Behandlung dieser Frage s. Dok. Nr. 373, P. 2.

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