2.109 (cun1p): Nr. 109 Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Reichstags. 27. März 1923

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[342]Nr. 109
Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Reichstags. 27. März 1923

R 43 I /1017 , Bl. 84-93 Durchschrift1

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Das Protokoll ist nicht unterzeichnet und weist einige Lücken auf. Auf der 1. Seite findet sich eine handschriftliche Anmerkung Wevers vom 4. 4.: „Der Herr RK hat Kenntnis erhalten. Geheim!“ Eine Anwesenheitsliste fehlt; nach Angaben der DAZ vom 28. 3. (Nr. 144/ 145) nahmen von Seiten der RReg. teil: v. Rosenberg, Oeser, Albert, Luther und StS v. Maltzan; der RK war wegen Krankheit verhindert. Lt. Mitteilung Hamms an Stresemann vom 24. 3. sollten von der Rkei teilnehmen: Hamm, Kempner, Wever und v. Bornstedt (R 43 I /1017 , Bl. 83).

Müller-Franken2: Wir waren der Meinung, daß im Ausschuß offene Aussprache möglich ist, nachdem auch in anderen Ländern so verfahren wurde3. Im Plenum mehr oder weniger Parade; das war der allgemeine Grund. Ich bemerke das ausdrücklich, weil die „Deutsche Zeitung“ gestern von Brechen der Einheitsfront sprach usw. Wer es ernst mit Deutschland meint, muß froh über Verbindungen sein, deren Träger Beweis für Einsicht gegeben haben. (Bezieht sich auf die sozialistische Konferenz4.) Wir sind mit dem Außenminister der Meinung, daß von Kapitulation Deutschlands keine Rede sein kann. Das ist kein Streitpunkt. Der Widerstand ist möglich nur, weil die Arbeiter, besonders die sozialistischen Arbeiter, wie ein Mann aufstanden und in der Abwehr ihre Pflicht getan haben und weiter tun werden. In der Öffentlichkeit wird vielfach behauptet, daß die Arbeiter von Gerede über Verhandlungen nichts wissen wollen. Das ist falsch. Soweit meine Freunde Fühlung nehmen konnten, haben die Arbeiter selbstverständlich von der Notwendigkeit der[343] Verhandlungsbereitschaft gesprochen. Sie sehen nicht ein, daß das als Schwäche gedeutet werden kann, gerade weil sie in der Lage und gewillt sind, den Widerstand auch noch für lange Zeit aufrecht zu erhalten. Die Redewendung des Reichskanzlers: „Jede Diskussion muß daher …“ ist verschieden ausgelegt worden5. Man kann sie so auffassen, daß am Ausgangspunkt der Diskussion die Frage der Räumung stehen muß, aber auch so, als ob erst dann in Verhandlungen eingetreten werden solle, wenn das Ruhrgebiet bedingungslos geräumt ist. Wir glauben, daß es in der gegenwärtigen Lage das Falscheste wäre, wenn sich irgendwie Prestigerücksichten bemerkbar machen würden. Frankreich wird sich in eine Lage hineinmanövrieren, in der schon von der anderen Seite mehr als wünschenswert Prestigegründe geltend gemacht werden. Selbstverständlich muß Ziel der Verhandlungen die Räumung auf allerkürzeste Sicht sein. Andererseits ist nicht anzunehmen, daß wir politisch und wirtschaftlich die Macht haben, die Franzosen zu zwingen, das Ruhrgebiet zu räumen, ehe Verhandlungen über Reparationsfragen zum Zuge kommen.

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Vor MdR Müller hatte offenbar der RAM gesprochen, dessen Rede im Protokoll aber nicht wiedergegeben wird. Doch läßt die RReg. am 27. 3. über WTB eine Mitteilung über die Rede v. Rosenbergs an die Presse gehen. Danach schlug der RAM vor, entsprechend der Anregung des amerik. Außenministers Hughes vom 29.12.22 eine internationale Sachverständigenkommission einzuberufen, die über die Höhe der dt. Reparationsleistungen zu befinden und einen Weg zur Ausführung dieser Leistungen aufzuzeigen hätte. „Die Deutsche Regierung habe im Laufe der diplomatischen Konversationen die wichtigsten an Europas Schicksal interessierten, aber nicht unmittelbar am Ruhrkonflikt beteiligten Mächte, ohne Anträge zu stellen oder Wünsche zu äußern, von dieser Anschauung in Kenntnis gesetzt [ein entsprechendes Memorandum hatte die RReg. am 14. 3. in London und am 16. 3. in Washington übergeben lassen, anschließend auch die ital. Reg. informiert; Akten dazu im AA, Büro RM 5 k, Bd. 1], habe sie aber gleichzeitig auf die Schwierigkeit des Problems hingewiesen, wie Deutschland Sicherheit dafür verschafft werden könne, daß die über den Vertrag von Versailles hinaus besetzten Gebiete geräumt und vertragsmäßige Zustände im Rheinland wiederhergestellt werden. Das Problem sei, abgesehen von den täglich sich verschärfenden Leiden der Bevölkerung und der dadurch bedingten Gefahr eines Ausbruchs der Volksleidenschaften deshalb so wichtig, weil die Regierung sich nicht denken könne, daß irgendein sachverständiges Gremium in der Lage sein werde, ein sicheres Urteil über die Leistungsfähigkeit Deutschlands abzugeben, bevor dem gewaltsamen Eingriff in das deutsche Wirtschaftsleben und der dadurch verursachten Wertvernichtung Einhalt geboten sei. Auch sehe die RReg. keine Möglichkeit, daß das deutsche Volk seine einzige Waffe, den passiven Widerstand, aus der Hand legen könne, ohne daß auch der Gegner sich auf die Linie des status quo zurückziehe.“ (R 43 I /1017 , Bl. 94; in der DAZ Nr. 146 vom 28. 3.). Zu den Hintergründen des dt. Memorandums und der Erklärung v. Rosenbergs s. auch Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918 – 1937, ²1961, S. 363 ff.

3

Müller hatte Stresemann am 23. 3. um die Einberufung des Auswärtigen Ausschusses gebeten (Nachlaß Stresemann  Bd. 257, Film Nr. 3098).

4

Am 26.3.23 war in Berlin die Konferenz des SPD-Parteivorstandes mit Vertretern der sozialistischen Fraktionen Englands, Frankreichs, Belgiens und Italiens beendet worden.

5

Der RK hatte am 22.3.23 in München erklärt: „Jede Diskussion über die Beendigung des gegenwärtigen Konfliktes muß daher von der vorbehaltlosen Räumung des Einbruchsgebietes ausgehen.“ (Nach dem von WTB verbreiteten Wortlaut der Rede Cunos in R 43 I /1904 , Bl. 29-31.)

Die Stelle vom Gesumme von Vermittlungsbitten und Verhandlungsfühlern ist mißverständlich. Es heißt dort: „Bei aller Bereitwilligkeit … konnten wir uns auf derartige Fühler nicht einlassen6.“ Ich habe das derartig betont, weil meiner Ansicht nach in dieser Wendung die Fühler gemeint sind, die gegen Ehre und Vernunft gehen. Es wird aber vielfach so aufgefaßt, als ob überhaupt von Verhandlungen nicht geredet werden solle entsprechend der Rede des Reichskanzlers im Reichstag, wo er mit besonderem Nachdruck sagte: „Weg mit dem Verhandlungsgerede7!“ Ich habe es auch taktisch für klug gehalten8, derartige Dinge auszusprechen. Es ist für die Propaganda falsch und erleichtert den Franzosen ihre Arbeit. Die wirtschaftliche Lage verschärft sich zusehends. Die preußischen Oberpräsidenten haben große Sorge über Ausbreitung der Arbeitslosigkeit, Verhältnisse in der Pfalz. Frage an Außenminister, ob alles noch so steht wie vor 2 Monaten. Die Träger des Widerstandes verharren[344] im Widerstand vor allem, weil sie glauben, daß die Regierung alles tut, um zu Verhandlungen zu kommen. Der Minister hat die Überzeugung vertreten, daß es beim passiven Widerstand bleiben muß und aktiver Widerstand nicht geleistet werden kann. Passiver Widerstand allein ist aber keine Politik. Es muß aktive Politik dazu kommen, d. h. Politik, die, selbst wenn von der anderen Seite keine Lösung vorbereitet wird, geneigt ist, Lösung vorzubereiten. Ich habe bedauert, daß das Programm für Paris nicht veröffentlicht wurde. Es hätte veröffentlicht werden können, nachdem am Bonar Law-Plan die Differenzen der Pariser Konferenz sich entzündet hatten. Ich glaube nicht, daß dieser Plan einfach wieder aus der Schublade gezogen werden kann, sondern daß es anders gemacht werden muß, zu tragbaren Vorschlägen zu kommen. Die französischen Sicherungspläne sind Gegenstand von Verhandlungen mit England. Die Pläne, die auf internationale Gendarmerie hinausgehen, scheinen mir sehr gefährlich, weil sie schwerer herauszubringen sind als französische und belgische Truppen… . Eben jetzt können wir verhandeln, weil wir auf der Höhe stehen. Die Kurve wird einmal sinken, wennschon gleichzeitig die Kurven der französischen Verlegenheiten steigen werden. Die Zeit arbeitet gegen uns; jeder Schritt erschöpft unsere Wirtschaft9. Dem Erlaß des Reichsverkehrsministers kann man zustimmen10.

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Der entsprechende Passus der Münchener Rede lautete: „Herr Loucheur hat in Grenoble angekündigt, daß es auf nicht weniger abgesehen sei, als auf die Loslösung des Rheinlandes von der deutschen Souveränität. Solchen Plänen gegenüber gibt es nur ein unbeugsames Nein! Daran vermag das Gesumme von den angeblichen deutschen Vermittlungsbitten und Verhandlungsfühlern, mit denen von Paris aus die Luft erfüllt wird, nichts zu ändern. Kein Wort ist wahr daran. Die RReg. hat niemand um Vermittlung gebeten, dagegen gar manche Fühler empfangen, nicht, wie Herr Herbette vom Quai d’Orsay behauptet, täglich drei, wohl aber jede Woche einen. Wir sind allen nachgegangen, aber immer waren die Vermittler schlecht legitimiert oder die Vorschläge ein Attentat auf Ehre und Vernunft. Bei aller Bereitwilligkeit zu einer vernünftigen und ehrenhaften Verständigung konnten und können wir uns auf derartige Fühler nicht einlassen.“ (R 43 I /1904 , Bl. 29-31). Über den Hintergrund dieser Erklärung teilte der RAM am 24. 3. den dt. Missionen im Ausland mit: „Drei Missionen [Paris, Washington, Stockholm] hatten uns gemeldet, daß im Auslande das von Berlin bisher nicht widersprochene Gerede von deutschem Verhandlungswillen und Vermittlungsbitten den Glauben an unsere Widerstandskraft erschüttere; eine schnelle und klare Richtigstellung deutscherseits sei erforderlich. Darauf hat RK sich entschlossen, seiner Münchener Rede entsprechenden Passus einzufügen.“ (AA Abt. II Handakten v. Mutius, Demarche London – Washington).

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Am 6.3.23.

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Muß offenbar heißen: „für unklug gehalten“.

9

Ähnliche Gedanken hatte Stinnes in einem Gespräch mit Stresemann am 19. 3. vertreten. In der Aufzeichnung Stresemanns heißt es u. a.: „Auch in Bezug auf das Ruhrgebiet sehe er nicht, wie wir gegenüber Frankreich durchhalten wollten, das unzweifelhaft länger aushalten könne. Die Bestrebungen der Franzosen gingen dahin, das Rheinland und das Ruhrgebiet von Deutschland abzulösen und in irgendeiner Form der internationalen Kontrolle zu unterstellen. Die gemäßigten Elemente in Frankreich dächten daran, zwar das Ruhrgebiet bei Deutschland zu belassen, aber doch die Kontrolle durch eine internationale Gendarmerie auszuüben und die Kontrolle denjenigen Mächten zu übergeben, welche die internationale Anleihe aufbrächten, die für die Lösung der Reparationsfrage notwendig wäre. Er sei in den letzten Wochen nicht in Berlin gewesen, um seine Opposition gegen die Regierung nicht zeigen zu müssen. […] In einer Unterredung mit Herrn v. Rosenberg habe er diesen dringend ersucht, nunmehr endlich das deutsche Angebot von der Pariser Konferenz [Dok. Nr. 34] zu veröffentlichen. Er sei der festen Überzeugung, daß es gar nicht zum Abbruch der Pariser Konferenz gekommen wäre, wenn das Angebot damals veröffentlicht worden wäre.“ (Nachlaß Stresemann , Bd. 257, Film Nr. 3098; gedruckt in Vermächtnis, Bd. I, S. 42 f., und in ‚Ursachen und Folgen‘, Bd. V, S. 89 f.).

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Gemeint ist offenbar die Anordnung des RVM vom 25. 3. (s. Anm. 5 zu Dok. Nr. 95).

Helfferich: Reichsminister hat Bemerkung an die Spitze gestellt, der ich nicht zustimme: Reparationsfrage auch heute noch Kernfrage. In Wirklichkeit ist die Kernfrage der Rhein; Verhandlungen in Versailles. Keinen Augenblick haben die Maßgebenden den Rhein aufgegeben, am ehesten vielleicht noch Briand. Auch die Sicherheit ist nur Vorwand. Diplomatie ohne Macht ist die schwerste Aufgabe. Wir sind bereit, diese Schwierigkeit der Reichsregierung zuzubilligen. Man hat gemeint, die Zeit würde für uns wirken seit Versailles. Die Rechnung war falsch. Soviel wir an Lloyd George auszusetzen haben, wäre doch von ihm energisches Wort gegenüber Frankreich eher zu erwarten als von dem Vorsitzenden Bonar Law. Es soll nichts versäumt werden, was die unbedingte Entschlossenheit unseres Widerstandes der Welt vor Augen führt und den Gedanken ausrotten kann, als ob wir uns mit dauernder Festlegung der Franzosen im Ruhrgebiet und Abtrennung des Rheinlandes abfinden könnten. Daraus gehen unsere leider noch nicht erfüllten Forderungen hervor. Für[345] Ehre nahezu unerträglich, diplomatische Beziehungen aufrecht zu erhalten. Kontrollkomitees zu dulden… . Unsere Forderung nach Abbruch der Beziehungen ist nicht erfüllt. Anfrage wegen Kontrollkommission11. Ich bin kein Fanatiker des Krieges (Zwischenbemerkung Crispiens), wir leiden unter dem Fluch der Machtlosigkeit. Infolgedessen kommt Verstärkung des passiven Widerstandes durch aktive Gegenwehr nicht in Frage. Kein Land der Welt, das dazu in der Lage wäre, würde sich das gefallen lassen, was wir uns gefallen lassen. Aktive Politik kann in der Tat so, wie die Dinge zur Zeit liegen, angesichts der Haltung der großen Mächte nur aktive Diplomatie sein. Auch wir wünschen nicht, daß man sich auf passiven Widerstand beschränkt. Wir müssen alles tun, alle Kräfte des Auslandes auszulösen, die für uns sprechen. Müller hat in Anknüpfung an die Rede des Kanzlers eine Frage gestellt. Ich würde es für verhängnisvoll für das gemeinsame Ziel halten, wenn diese Frage im Sinne Müllers beantwortet würde. Ich kann mir nichts Schlimmeres denken, als wenn draußen bekannt würde, die Deutsche Regierung stehe auf dem Standpunkt, daß sie Verhandlungen einleiten wolle, auch solange der Franzose im Ruhrgebiet stehe. Denn das wäre eine Einladung an die Franzosen, nicht in der Absicht, aber im Effekt: bleibt ruhig im Ruhrgebiet, denn die Deutsche Regierung wird daran keinen Anstoß nehmen. Ich bin der festen Überzeugung, daß eine rasche Liquidation nicht in Frage steht. Als Mittel der raschen Liquidation gibt es nur Kapitulation, also Anerkenntnis für das Rheinland, ein Saarstatut anzunehmen und in dieser Form (politisch beim Reich, aber Wirtschaftskontrolle, Militär, Gendarmerie vom Reich getrennt) darauf zu verzichten. Wenn wir das akzeptieren, gehen die Franzosen auch aus der Ruhr und verlangen nur einige Beteiligungen. Solche Kapitulation ist das einzige Mittel, rasch zu liquidieren. Wenn Sie das nicht wollen, denken Sie nicht daran, daß Poincaré im Laufe der nächsten Wochen [einlenken wird]. Die Relation von Opfer und Ziel spricht zu unseren Gunsten und wird uns befähigen, größere Opfer zu bringen, längeren Druck zu überstehen als die Franzosen. Das jetzige Verhältnis zwischen Frankreich und England ist unhaltbar. Der Minister erinnerte, wie die Erörterungen über die Luftflotte an die Erörterungen über die Flottenfrage erinnern. Mit solch brutaler Offenheit ist damals nicht gesprochen worden. Jetzt wird ganz offen davon gesprochen, daß England mindestens den Ein-Mächte-Standard herstellen muß, während es nur den ⅓-Standard hat12. Die eingehenden Erörterungen haben die Bedeutung, denen, die eine englische Intervention verlangen, einen deutlichen Wink zu geben, zum anderen die Vorbereitung der öffentlichen Meinung in England, daß die Verhältnisse geändert werden müssen. Flugzeuge werden rascher gebaut als Dreadnoughts. Infolgedessen ist die Relation der Zahl heute ganz anders als in der Flottenfrage. England hat im Laufe der letzten Monate Demütigungen von Frankreich[346] erduldet, wie nie in seiner Geschichte. Daß es sie einsteckt, um sie zu vergessen, ist unenglisch. Wir müssen uns auf einen langen Zeitraum – zu beziffern wage ich ihn nicht – einrichten. Die Meinung der Welt muß bleiben, daß Deutschland unbeugsam ist und lieber alles erduldet, als zu kapitulieren. Ein Zeichen der Kapitulation wäre für das Ausland, oder es bestände doch die Gefahr einer solchen Auffassung, wenn heute in die Öffentlichkeit sickern würde, die Regierung ist bereit, in Verhandlungen einzutreten, solange die Franzosen im Ruhrgebiet stehen. (Dittmann: So tapsig ist doch die Regierung nicht!). Ich habe den Eindruck, daß die Regierung in Verhandlungsfühlern vielleicht eher zuviel getan hat, (Müller: Sie hat ja keine ausgestreckt!) in Handlungen, die als Fühler von anderer Seite aufgefaßt werden. Die Regierung scheint doch mit den Botschaftern der nicht unmittelbar beteiligten Mächte in engster Fühlung beständig zu sein, in fortgesetzter Konversation; besonders scheint rege Konversation in Washington, Rom und London zu sein13. Wir sind für die stärkste Aktivität in der Auslösung günstiger Kräfte, aber ich bin gegen ein Allzuviel und gegen Nervosität.

11

Am 17. 3. hatte die DNVP eine Anfrage wegen der Tätigkeit der IMK an die RReg. gerichtet (RT-Drucks. Nr. 5676, Bd. 377 ).

12

In der ersten Märzhälfte war im Unterhaus verschiedentlich auf die Bedeutung einer verstärkten engl. Luftrüstung hingewiesen worden. Hoare bezifferte in der Etatdebatte am 13. 3. das Kräfteverhältnis zwischen Frankreich und England, nach der Zahl der Flugzeuge gerechnet, auf 1260: 408 (Schultheß 1923, S. 263). Im Oberhaus erklärte Lord Grey am 21. 3., daß man in der Luftrüstung am Rande eines neuen Rüstungswettstreits stände (ebd. S. 264).

13

Akten dazu im AA RM 5 k, Internationale Geschäftsleutekonferenz; RM 6, England Bd. 1; Abt. II, Bes. Geb., Handakten v. Mutius, Demarche London – Washington (Intermezzo Mussolini).

Stresemann: Ich stimme Helfferich zu, daß Kernfrage nicht Reparation, sondern Rhein ist. Aber ich stimme deshalb nicht dem Vorwurf von Martin Spahn zu14, daß offenbar nur Wirtschafter die Sache behandeln und die Politik zu kurz kommt. Wir müssen dem Verlangen Frankreichs, das Rheinland in wirtschaftlicher Form zu erhalten, entgegenstellen, daß Frankreich in Paris die wirtschaftliche Lösung nicht zuließ. Es bleibt nichts übrig, als die internationale Diskussion immer wieder auf die Reparationsfrage hinzuweisen… . Frankreich würde unter dem Hohngelächter der Welt aus den Großmächten ausscheiden, wenn es sich dazu verstände, eines schönen Tages aus der Ruhr abzuziehen, ehe mit Deutschland über Reparation[szahlungen] verhandelt ist. Kapitulation scheidet aus. Es bleibt nur ein Drittes. Die internationale Diskussion fortführen zur Erhaltung von Rhein und Ruhr. Zu dieser Diskussion können wir alle in Unterhaltungen beitragen, die keineswegs gegen die nationale Ehre gehen. Der Reichskanzler hat niemals gesagt, daß nicht verhandelt werde, ehe nicht die Franzosen das Ruhrgebiet geräumt haben. Er ließ mir vielmehr auf Anfrage vor längeren Wochen bestätigen, daß er das nicht gesagt habe… .

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Nach der DAZ vom 28.3.23 sprachen in der Sitzung des Ausw. Ausschusses nach dem Abg. Müller die Abg. Spahn, Helfferich, Stresemann, Gothein, Breitscheid und Koenen. Im Protokoll fehlen die Beiträge Spahns und Koenens.

Gothein: Wir müssen uns auf passive Resistenz bis zum nächsten Winter rüsten, evtl. noch länger. Dazu muß aktive Politik kommen. Volle Übereinstimmung mit Stresemann.

Breitscheid: Was will Frankreich? Drei Möglichkeiten. Rhein, Ruhr, Reparationen. Müßig zu streiten. Wir müssen eine Politik treiben, als ob Frankreich nichts anderes beabsichtige, als Reparationen zu erhalten. Wir haben nicht nur mit der französischen Regierung und Poincaré zu tun, sondern mit dem ganzen Volk, von dem ein großer Teil Reparationen und Geld will. Wenn die[347] Masse der französischen Arbeiter und Bauern der Meinung wäre, es gibt einen Plan, der Frankreich befriedigen und Geld bringen kann, dann würde diese Masse einen Druck auf die Regierung ausüben, auf Annektionsgelüste zu verzichten. Wir müssen die Reparationsfrage nach wie vor, wie der Minister sagt, als Kernpunkt betrachten. Minister sagte ganz recht, es gibt in Frankreich zahlreiche Elemente, die sich unsicher fühlen, in Belgien noch mehr. Ich bin weit entfernt, den Schluß zu ziehen, daß in absehbarer Zeit sie so stark werden, die französische Regierung zur Räumung der Ruhr zu bestimmen. Auch in diesem Kreis ist der Gedanke an nationale Ehre, Prestigefrage so stark, daß sie noch lange Zeit die Regierung unterstützen werden, auch wenn sie im Grunde einer anderen Lösung zustimmen möchten. Aber wenn sie sehen, es ist ein greifbarer Reparationsplan vorhanden, Deutschland ist bereit, Frankreich kommt zu dem von ihm beanspruchten Recht, in diesem Augenblick werden diese Elemente stark genug sein, die Bereitwilligkeit zu Verhandlungen zu schaffen, die sich nicht auf Annektionen erstrecken. Wir sind einig darin: Kein Mensch verlangt Kapitulation. Es gibt niemand in der sozialistischen Partei, der in der Lage wäre, autorativ zu sprechen, der eine Kapitulation wünschte oder forderte. Wir sind ferner [nicht bereit] – auch Helfferich hat mit erfreulicher Deutlichkeit das ausgesprochen –, aktiven Widerstand zu leisten. Leider ist die Einmütigkeit der Freunde Helfferichs hier nicht ganz so stark wie die der Sozialdemokratie in der Ablehnung der Kapitulation. Die Gründe gehen auseinander. Auch wenn wir bewaffnet wären, würde das Spiel für uns so ungleich, denn andere Mächte gingen mit Frankreich, und nur um der Ehre willen einen Krieg zu führen, würden wir unter allen Umständen ablehnen. Wir sind also einig: keine Kapitulation, kein aktiver Widerstand. Es bleibt der passive Widerstand, den wir unterstützen, dessen Hauptträger die Arbeiter sind. Können wir hoffen, mit passivem Widerstand allein herauszukommen, auch wenn wir Termine stecken wie Gothein, Kampf bis in den Winter? Ich lasse dahingestellt, ob es möglich sein würde, den passiven Widerstand bis zum Winter durchzuhalten vom Standpunkt des Arbeitertums, des Unternehmertums; der Druck zermürbt zuletzt auch die Entschlossenen. Wenn wir dazu die wirtschaftlichen Folgen in Betracht ziehen, die jeder sehen kann, wenn er sich den Ausweis der Reichsbank ansieht15, so kann der Widerstand so lange nicht dauern. Wir würden zuletzt zerbrechen und kapitulieren müssen. Also nicht Verhandlungen in einem Zeitpunkt, wo der Niederbruch offenbar wird. Helfferich sagt, die Zeit arbeitet für uns. Auch im Kriege sind ähnliche Vermutungen aufgestellt worden. Wenn die Wahlen in Frankreich kommen – vor dem Mai 1924 –, während noch die Ruhrbesatzung andauert, so werden sie anders ausfallen als später, im nationalistischen Sinne. Der versteht die Lage falsch, [der glaubt], wir wollten, daß die Regierung auf den offenen Markt gehe und erkläre, sie sei bereit zu verhandeln, solange die Franzosen im Ruhrgebiet stehen. Was wir wollen, ist, daß die Regierung nicht so fest davon spricht, als sie tut und bereit ist, diese Verhandlungen zu führen, und ferner, daß, wenn die Regierung spricht, sie so spricht, daß es nicht mißverstanden[348] werden kann. Stresemann und Gothein interpretieren sehr freundlich, aber niemand ist dazu in der Lage, als die Regierung selbst. Wenn wir dermaßen mißverstanden werden, dann wäre es besser, die Regierung sagte überhaupt nichts über die Frage, wann sie verhandeln will. Es darf im Ausland nicht der Eindruck erweckt werden, als sperre sich die Regierung gegen Verhandlungen, solange die Truppen im Ruhrgebiet stehen. Ich würde für zweckmäßig halten, wenn nach außen sobald als möglich in vorsichtiger Form die Erklärung gegeben würde, daß die vom „Lokal-Anzeiger“ vertretene Auslegung falsch ist. Was wir wollen, ist nicht sowohl reden, als handeln, daß die Regierung sowohl in der Annahme als in der Unterbreitung von Vorschlägen nichts unterläßt, was zum Ziele führen kann. Wenn die Arbeiter wissen … Wir sind glücklicherweise mit der Regierung Cuno weder verwandt noch verschwägert, nur der Meinung, daß die Regierung die Pflicht hat, die Politik des Reichs zu führen. Wir werden unseren ganzen Einfluß ausüben, daß die Verhandlungen nicht geführt und beendet werden können in einem Sinne, der zum Nachteil der Arbeiterschaft ausschlägt. Wenn wir, um zu Verhandlungen zu kommen, den Weg Koenen gehen würden, so müßten wir uns zunächst mit dem Regierungssturz und der Regierungsbildung beschäftigen. Das würde lange Zeit erfordern, nicht die Zeit der Beseitigung – denn die Regierung ginge wohl in einigen Mitgliedern sehr gerne –, sondern in der Regierungsbildung, und diese Zeit wäre für die Ruhrbefreiung verloren.

15

Vgl. Dok. Nr. 101.

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