2.209.1 (bau1p): 1. Die Lage im rheinisch-westfälischen Industriegebiet.

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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1. Die Lage im rheinisch-westfälischen Industriegebiet2.

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Der Widerstand gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch vollzog sich im rheinisch-westfälischen Industriegebiet zunächst auf der Basis des von der SPD und ihren Regierungsmitgliedern sowie vom ADGB und der Afa erlassenen Generalstreikaufrufs (vgl. Dok. Nr. 194, Anm. 6). Begleitet wurden die Arbeitsniederlegungen vom Aufbau einer politischen Abwehrfront, in der sich streikende Arbeitnehmer, Gewerkschaftler, Beamtenvertreter, Anhänger der drei Linksparteien, der DDP und des Zentrums zunächst zur Verteidigung verfassungsmäßiger Zustände zusammenfanden. Da der zuständige Wehrkreisbefehlshaber, GenLt. Frhr. von Watter, ungeachtet der vermittelnden Versuche RuStKom. Severings anfangs eine zweideutige Haltung einnahm und sich einige der ihm unterstellten Freikorpseinheiten offen zu Kapp und Lüttwitz bekannten, drohte die Streikbewegung von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen überrollt zu werden, als die die Abwehr tragenden lokalen Aktionsausschüsse, Arbeiter- und Vollzugsräte zunehmend damit begannen, die Arbeiterschaft zu bewaffnen und örtlich Verwaltungsbefugnisse an sich zu ziehen. Die auf diese Nachrichten hin einschreitenden Reichswehr-, Sicherheitswehr- und Polizeikräfte wurden von den Arbeitertruppen geschlagen bzw. ließen sich entwaffnen. Als dem am 16. 3. für das Industriegebiet proklamierten Streikabbruch und dem am 17. 3. erfolgenden Rücktritt Kapps nicht die Demobilmachung der Arbeiterstreitkräfte folgte, vielmehr der Kampf von der inzwischen zentral geführten sog. Roten Armee offensiv fortgesetzt wurde, zogen sich die nichtsozialistischen Kräfte aus der ursprünglichen Abwehrfront zurück. Damit mündete die Bewegung endgültig in einen von zwei Aktionszentren in Essen und Hagen aus geleiteten Aufstand unter Führung der drei sozialistischen Parteien ein, als dessen allgemeines Ziel die Fortsetzung der 1918/19 unvollendet gebliebenen sozialen Revolution angegeben werden kann. Faktisch beherrschten die Aufständischen, nachdem sie am 21. 3. entlang der Lippe eine Frontlinie aufgebaut hatten, zur Zeit das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet. – Materialien hierzu, im wesentlichen jedoch zur weiteren Entwicklung, in: R 43 I /2715 –2718 und 2728, darunter insbesondere der von MinR Brecht Anfang Mai vorgelegte Bericht u. d. T. „Die Vorgänge im Ruhrgebiet im März 1920“ (R 43 I /2717 , Bl. 154–158); vgl. zusammenfassend – aus linkssozialistischer Sicht – Erhard Lucas: Märzrevolution im Ruhrgebiet, März–April 1920. Frankfurt/M. 1970; ders.: Märzrevolution 1920. Frankfurt/M. 1973; ergänzend George Eliasberg: Der Ruhrkrieg von 1920. Bonn-Bad Godesberg 1974.

Der Abgeordnete Schluchtmann gibt einen Überblick über die Lage im[733] rheinisch-westfälsichen Industriegebiet3. Die kommunistische Armee müsse man auf 15 bis 20 000 Mann schätzen. Die militärischen Stellen in Münster und der Reichskommissar Severing seien der Ansicht, daß militärisch der Aufruhr nicht niederzuwerfen sei. Man müsse ihn vielmehr in sich selbst ausbrennen lassen. Zunächst sei es erforderlich, die operierenden Truppen, von denen ein Teil noch glaube, gegen Kapp zu kämpfen, durch Aufklärung auseinander zu bringen; Zeitungen, Flugblätter müßten hier wirken. In kurzer Zeit werde die Lebensmittelversorgung den kommunistischen Machthabern unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten; man solle daher erst verhandeln, wenn ihnen das Feuer auf den Nägeln brenne. Truppen in größerer Stärke müßten in der Nähe gehalten werden, dürften aber zunächst nicht eingreifen.

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Schluchtmann war von RuStKom. Severing und vom Wehrkreiskommando VI beauftragt, dem RK persönlich „Bericht über die Verhältnisse im Industriegebiet zu erstatten, sowie die Maßnahmen mitzuteilen, die hier [d. h. in Münster] zur Wiederherstellung der Ordnung für notwendig gehalten werden“ (Vollmacht – gez. Mehlich – vom 20.3.20; R 43 I /2728 , Bl. 74). In diesem Zusammenhang überreichte er dem RK folgende Proklamation: „Nach Besprechungen, die zwischen dem Reichskommissar Severing und mehrheitssozialistischen Arbeiterführern unseres Industriebezirks stattfanden, teilte der Reichskommissar mit, daß er sich bei der Regierung für die Erfüllung folgender Forderungen einsetzen wird: 1. Sobald die Verhältnisse wieder ihren normalen Gang angenommen haben, soll der Ausnahmezustand aufgehoben werden. Die Aufhebung des Ausnahmezustandes bedeutet selbstverständlich die Freilassung der in Schutzhaft befindlichen Personen. 2. Amnestierung für alle politischen Vergehen und Freilassung aller politischen Gefangenen, soweit sie an dem Kampf gegen die Rechtsputschisten mit teilgenommen haben. 3. Von der Nationalversammlung und der Reichsregierung wird verlangt, daß sie alle Personen, die an dem verbrecherischen Putsch von Kapp und Konsorten beteiligt sind, in schärfster Weise zur Rechenschaft ziehen. 4. Alle in der Reichswehr und in den Verwaltungsbehörden vorhandenen unzuverlässigen Elemente sollen entfernt und die Wehrmacht der deutschen Republik soll entsprechend den Erfordernissen der Demokratie organisiert werden. 5. Die sozialistischen Fraktionen der National- und preußischen Landesversammlungen sind aufgefordert, sich mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln für die Durchführung dieser Forderungen einzusetzen. Der Reichskommissar hat Beauftragte nach Berlin entsandt, die die obenstehende Forderung der Regierung vorzulegen und zu vertreten haben. Arbeiter und Bürger! Die furchtbare Gefahr, in der wir jetzt stehen, der Hunger und der Zusammenbruch, der uns droht, machen es notwendig, daß wir die ruhige Besonnenheit bewahren und gemeinsam daran arbeiten, Ruhe und Ordnung wieder aufzurichten, damit jeder einzelne ungehindert seiner Tätigkeit nachgehen kann“ (ebd. Bl. 75).

Der Herr Reichskanzler teilte mit, daß die in Berlin anwesenden kommunistischen Deputationen und ebenso die Oberbürgermeister von Essen und Hagen[734] verlangt hätten, daß die Reichsregierung ihnen die Lebensmittelzufuhr aus Holland ermögliche4. Es sei ihnen erwidert, daß Holland Lebensmittel so lange nicht liefere, als die kommunistische Herrschaft im Industriegebiet bestehe. Der holländische Gesandte habe dies ausdrücklich bestätigt.

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Angesichts der prekären Lage in der Lebensmittelversorgung und der drohenden Gefahr einer mit allen Mitteln unternommenen Reichsexekutive hatten sich die Vertreter der Stadtverwaltungen und der Vollzugsräte aus einer Reihe von Städten des Ruhrgebiets am 19. 3. in Essen versammelt und die Entsendung einer Delegation nach Berlin beschlossen, zu der u. a. die Oberbürgermeister von Essen und Hagen, Luther und Cuno, der kommunistische Redakteur Düwell aus Essen sowie zwei Essener USPD-Funktionäre, darunter Blopp, gehörten. Über die von ihnen geführten Gespräche liegt kein Protokoll vor. UStS Albert fertigte jedoch einige hschr. Notizen an, aus denen neben diesen und anderen auf die Aufstandsbewegung bezüglichen Namen (Stemmer, Meyenberg [muß heißen: Meinberg], Ernst) vor allem die mangelnde Orientierung der RReg. über die Lage abzulesen ist: „Wo sitzt d[ie] Führung? Militärisch: Hattingen? Politisch: Hagen?“; „KPD: Zentralleitung der Partei, getrennt von Zentralleitung der Truppen; aber wo?“; „überall Vollzugsräte u. Vollzugsausschüsse; kein allg[emeiner] Kopf“ (R 43 I /2715 , Bl. 34). Diese Notizen Alberts finden sich auf einem Begleitschreiben des Gesandten Riezler vom 21. 3., mit dem dieser der Rkei ein dem RK sofort vorzulegendes Telegr. des Hagener USPD-Parteisekretärs Ernst an den RPräs. übersandte. Darin sprach Ernst im Namen „der 3 sozialistischen Parteien des gesamten Industriegebiets“, deren Vertreter am 20. 3. in Hagen eine Konferenz abgehalten und einmütig festgestellt hatten, „daß alle Kräfte eingesetzt werden müssen, um die Reaktion endgültig niederzuschlagen“. Die Konferenzteilnehmer verlangten die sofortige Einstellung der Truppenbewegungen im Industriegebiet, da sie andernfalls gezwungen wären, „in berechtigter Abwehr zum Angriff auf diese noch nicht zusammengezogenen Truppenkörper überzugehen, um zu verhindern, daß sich größere Truppenkörper zusammenballen, um konzentrische Angriffe auf die Arbeiterklasse im Industriegebiet zu verhindern, da diese den weißen Schrecken im Gefolge haben müßten“. Die Konferenz habe einstimmig die Einführung der Rätediktatur abgelehnt und glaubt, sich bei ihrem Vorgehen „auf durchaus legalem Boden“ zu befinden. Sie verlange aber Garantien, „um vor der Reaktion gesichert zu sein“. In diesem Zusammenhang war bereits vorher im Text auf die Unzuverlässigkeit Gen. Watters hingewiesen und seine Abberufung gefordert worden (R 43 I /2715 , Bl. 35–37). – Zu der Essener und Hagener Konferenz vgl. George Eliasberg: A.a.O., S. 166 ff.

Die Kabinette beraten in eingehender Aussprache darüber, ob es zweckmäßig sei, daß zwei Minister sich in die Nähe des Aufruhrgebiets begeben, um dort, ohne mit den Kommunisten zu verhandeln, für die nötige Aufklärung zu sorgen, oder ob es zweckmäßiger sei, sich abwartend zu verhalten, bis der Aufruhr in sich zusammengebrochen sei. Die Kabinette beschließen, daß Reichspostminister Giesberts und Landwirtschaftsminister Braun sich alsbald nach Rheinland-Westfalen begeben sollen. Eine Verhandlung mit den Kommunisten soll nicht stattfinden. Es sollen vielmehr von den Ministern die bereits in Berlin von der Reichsregierung Vertretern aus Rheinland-Westfalen abgegebenen Erklärungen an Ort und Stelle wiederholt werden5. Der Bevölkerung soll gesagt werden:

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Mit dieser Sprachregelung könnte unter Umständen das in Anm. 3 zit. Fünf-Punkte-Programm gemeint sein, da RK Bauer am 21. 3. hschr. auf dem Blatt vermerkt: „Die Punkte 1 bis 5 sind von der Regierung angenommen.“ Sinngemäß und mit nuancierenden Abweichungen gehen die Forderungen des o. a. Programms in das sog. Bielefelder Abkommen vom 24. 3. ein, an dessen Vorbereitung die Minister Giesberts und Braun seit dem 22. 3. beteiligt sind (vgl. Dok. Nr. 212).

1.

Holland liefere keine Lebensmittel, solange die Kommunistenherrschaft andauere;

2.

bei Fortdauer der Unruhen würde die Entente einmarschieren;

3.

die Regierung Kapp sei endgültig erledigt.6

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Diese Beschlüsse teilt der RK dem Parteisekretär Ernst in einem auch zur Veröffentlichung bestimmten Antworttelegramm vom 21. 3. mit. Darin heißt es u. a.: „Die Reichsregierung nimmt mit Dank davon Kenntnis, daß die drei sozialistischen Parteien alle Kräfte zur Niederschlagung der Reaktion eingesetzt haben. Dieses Ziel ist in Berlin durch Zusammenbruch der Kappgruppe erreicht. Entwaffnung der Kapptruppen auch im Ruhrrevier wird durchgeführt. General Watter gehört jedoch nicht zu reaktionären Offizieren, sondern hat sich nachweisbar in loyalster Weise hinter die Reichsregierung gestellt. Entfernung wirklich reaktionärer Offiziere wird erfolgen. Truppenbewegungen werden eingestellt. Voraussetzung ist, daß Ablehnung der Rätediktatur nicht nur versprochen, sondern in die Tat umgesetzt wird, daß insbesondere die verfassungsmäßigen Organe und Behörden wieder in ihr Recht eingesetzt werden, daß Arbeiter Waffen niederlegen und zur Arbeit zurückkehren. Sofortige Durchführung dieser Maßnahmen unerläßlich“ (R 43 I /2715 , Bl. 39). Nach Erhalt dieses Telegramms warnt Ernst den RK am 22. 3. nochmals vor den „auf dem Boden der Kappregierung stehenden Truppen“ und dem Doppelspiel Gen. Watters. „Wenn Sie nicht eingreifen, geht der Industriekessel in Flammen auf, und wir haben die Entente in 1 oder 2 Tagen im Ruhrgebiet“ (ebd., Bl. 42 f.). – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 212.

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