1.2.3 (lut1p): Die Innenpolitik

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 1.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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Die Innenpolitik

Das innenpolitische Geschehen im Frühjahr 1926 stand zunächst vorwiegend im Zeichen einer ausgesprochen krisenhaften Wirtschaftsentwicklung, deren wesentliche Ursache – stark abfallende Konsumnachfrage und dementsprechend geringer werdende industrielle Kapazitätsauslastung – zu erschreckend raschem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen (1. Dezember 1925: 673 000, 1. Februar 1926: 2 Millionen) geführt hatte. Um dem entgegenzuwirken, beschloß die neugebildete Reichsregierung – unmittelbar nachdem der Reichstag ihr mit äußerst knapper Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen hatte106 – verschiedene wirtschaftsbelebende Maßnahmen und begann wenig später die Vorbereitung eines Steuersenkungsprogramms. Sie wurde bei ihren weiteren konjunkturpolitischen Bemühungen, die in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit merklich an Intensität einbüßten, offenbar nicht unwesentlich durch den Umstand behindert, daß in den folgenden Wochen, insbesondere nach dem unglücklichen Ausgang der Genfer Völkerbundsversammlung im März 1926, gleichzeitig drei größere, zum Teil ganz überraschend in den Vordergrund tretende innenpolitische Streitfragen ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr in Anspruch nahmen: der Konflikt über die Abfindung der früher regierenden Fürstenhäuser, die Auseinandersetzung um die Bestrafung des Zweikampfes („Duellfrage“)107 und der zunächst bedrohlich erscheinende, im Juli 1926 aber überraschend[LXI] sicher abgewehrte Versuch des Hypothekengläubiger- und Sparerbundes, die Aufwertungsregelungen von 1925 im Wege der Volksabstimmung zu Fall zu bringen108. Alle diese Vorgänge trugen, da sie in der Öffentlichkeit tiefe Gegensätze und Spannungen auslösten, in anscheinend nicht geringem Maße dazu bei, daß bereits die erste große Krise der zweiten Lutherkoalition, die sich im Mai 1926 an der Flaggenfrage entzündete, nicht mehr überwunden werden konnte.

106

Dok. Nr. 273; 274, P. 4.

107

Dok. Nr. 290; 293. P. 3; 295; 300; 316; 318, P. 1; 322, P. 4; 323; 333, P. 5; 338. Vgl. auch Politisches Jahrbuch 1926, S. 474 ff.

108

Dok. Nr. 327; 332; 335, P. 2; 340, P. 3; 344; 348, P. 1.

Schon bei den ersten Kabinettsberatungen und vor dem Reichstag betonten Luther und der neue Finanzminister Reinhold die Überwindung der Wirtschaftskrise als entscheidenden Gesichtspunkt ihrer finanz- und wirtschaftspolitischen Überlegungen. Es sei notwendig, einen großzügigen Abbau wirtschaftshemmender Steuern und – insbesondere durch Bereitstellung von Geldern der Produktiven Erwerbslosenfürsorge – wirkungsvolle Maßnahmen zur Anregung von Ausfuhr, Binnenmarkt und Bauwirtschaft einzuleiten. Vor dem Kabinett legte Reinhold im einzelnen dar, daß eine sorgfältige Durchrechnung der Kassenbestände unter Berücksichtigung der Haushaltsreste und Überschüsse aus den vorangegangenen Rechnungsjahren die Möglichkeit eröffne, eine Senkung der Umsatzsteuer von 1% auf 0,5 bzw. 0,6% vorzunehmen. Dadurch würden sowohl den Konsumenten als auch der produzierenden Wirtschaft spürbare Erleichterungen gewährt. Der hierdurch eintretende Steuerausfall von 470 bzw. 500 Millionen RM könne ohne Gefährdung des Haushaltsausgleichs 1926 verkraftet werden. Darüber hinaus regte er weitere Erleichterungen durch Herabsetzung der Fusionssteuer und der Börsenumsatzsteuer an.

Allerdings werde sich eine solche Steuersenkungsaktion nur durchführen lassen, wenn sichergestellt werden könne, „daß der Reichstag nicht Ausgaben beschließen kann, ohne gleichzeitig für ihre Deckung zu sorgen“. Um negative Rückwirkungen auf die Gestaltung kommender Haushalte auszuschließen, schwebte ihm sogar eine „Änderung des Etatrechts“ dahin vor, daß in Zukunft ausgabenwirksame Beschlüsse nur bei gleichzeitigem Deckungsvorschlag oder bei Einvernehmensregelung mit der Reichsregierung möglich sein sollten. Da eine derartige Regelung des Etatrechts nicht zustande kam, sah sich die Regierung im Reichstag mit Anträgen und Interpellationen konfrontiert, die eine erhebliche Gefährdung des Haushaltsausgleichs nach sich ziehen mußten. In dieser Situation kam das Kabinett mit den Parteien zu einer Ersatzlösung: In die Richtlinien für den Anfang März gebildeten „Interfraktionellen Ausschuß der Regierungsparteien“, der dem besseren Zusammenhalt der Koalition dienen sollte, wurde die Bestimmung aufgenommen, daß Anträge von erheblicher finanzieller Auswirkung vor ihrer Einbringung mit der Regierung und den Koalitionsfraktionen abzustimmen seien.

Dennoch erschien das neue Steuerprogramm kurz vor den abschließenden parlamentarischen Beratungen plötzlich in Frage gestellt, als unerwartet mehrere Regierungsparteien – wohl vor allem angesichts scharfer Eingaben der Winzerverbände und großer Protestdemonstrationen in den Weinbaugebieten, die von[LXII] Ausschreitungen gegen Finanzbeamte begleitet waren – die Forderung nach völliger Aufhebung der Weinsteuer erhoben. Das Kabinett sprach sich zunächst mit großer Entschiedenheit hiergegen aus, mußte sich aber angesichts des nachdrücklichen Drängens der Fraktionen schließlich doch zur Aufhebung der Steuer verstehen. Um den hierdurch bedingten Einnahmeausfall wenigstens annähernd ausgleichen zu können, mußte das Steuermilderungsgesetz, ehe es Ende März zur parlamentarischen Verabschiedung kommen konnte, noch dahin abgeändert werden, daß die Umsatzsteuer nur auf 0,75% ermäßigt wurde.

Ein weiterer wichtiger Punkt in den finanzpolitischen Überlegungen Reinholds war die auch von Luther nachdrücklich unterstützte Forderung, daß – neben äußerster Sparsamkeit bei den öffentlichen Ausgaben – die Finanzierung des Extraordinariums nicht länger durch Steuereinnahmen erfolgen dürfe, sondern in Zukunft mehr und mehr durch Anleihen gedeckt werden müsse. Reinhold war sich bewußt, daß diese Finanzierungsmethode nicht kurzfristig Grundlage der Finanzplanung werden konnte, dazu war die Aufnahmefähigkeit des inländischen Kapitalmarktes noch bei weitem zu gering. Auch mußte hierbei auf den Kapitalbedarf der Wirtschaft besondere Rücksicht genommen werden109.

109

Dok. Nr. 275; 281; 286; 292, P. 7; 304; 305, P. 8; 318, P. 2; 321, P. 2; 322, P. 1; 346, P. 3; 349, P. 3.

Wenn es auch zunächst die erklärte Absicht der Regierung Luther war, die außerordentlichen Ausgaben auf das denkbar niedrigste Maß zu beschränken, so ließ sich diese Linie angesichts der fortdauernden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der hohen Arbeitslosigkeit nicht lange durchhalten. Schon bald sah sie sich daher zu weitergehenden Aktionen genötigt, z. B. zur Finanzierung von Krediten für wichtige unterbeschäftigte Wirtschaftszweige. Hierzu gehörte auch die Förderung des Exports in die Sowjetunion durch eine Ausfallbürgschaft des Reiches für eine große Anzahl von „Lieferungsgeschäften“ im Gesamtwert von 300 Millionen RM, deren endgültige vertragliche Fixierung aber erst im Sommer 1926 zustande kam110.

110

Dok. Nr. 274, P. 2; 277, P. 3; 279; 292, P. 2.

Eine weitere Großaktion auf dem Gebiet der arbeitsmarktfördernden Maßnahmen betraf den Wohnungsbau. Hier entschied sich das Kabinett, obwohl der Reichswirtschaftsminister starke Bedenken zum Ausdruck brachte und den Wohnungsbau als nicht geeignet bezeichnete, für die Bereitstellung von 200 Millionen RM an „Zwischenkrediten“ ab Mitte April. Damit sollte der bestehende Fehlbedarf von 600 000 Wohnungen insbesondere durch den Bau von Kleinwohnungen verringert werden111.

111

Dok. Nr. 289; 312, P. 7; 314, P. 1.

Schließlich wurde ein Kredit von 100 Millionen RM an die Deutsche Reichsbahngesellschaft beschlossen, die hierdurch in die Lage kam, umfangreiche Aufträge an die Eisen-, Holz- und Steinindustrie zu vergeben112. Alle diese Maßnahmen waren erste Anfänge und Vorläufer des großangelegten Arbeitsbeschaffungsprogramms, das von der nachfolgenden Regierung Marx im Sommer 1926 eingeleitet wurde.

112

Dok. Nr. 294; 352, P. 4.

[LXIII] Größere Bedeutung im Rahmen der wirtschaftsfördernden Anstrengungen wurde auch den verschiedenen Siedlungsprojekten beigemessen, von denen man sich starke Impulse vor allem für den notleidenden Bausektor erhoffte. In den umfangreichen, gegen Ende Januar 1926 erstmals im Kabinett erörterten Planungen Luthers zur systematischen Besiedelung bevölkerungsarmer Gebiete in den östlichen Provinzen Preußens spielte dieser Gesichtspunkt allerdings eine eher sekundäre Rolle. Weitaus wichtiger erschien demgegenüber die nationalpolitische Motivierung des Vorhabens, als dessen erstes und eigentliches Ziel Luther einmal die „Eindämmung“ der nach Westen „vorflutenden Slawenwelle“ bezeichnet hatte. Über seine organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen ergaben sich in der Folgezeit schwere Meinungsverschiedenheiten mit der Preußischen Staatsregierung, die es rundweg ablehnte, der Schaffung einer Reichsorganisation für Ostsiedlungszwecke zuzustimmen, und stattdessen die Bildung eines „Ministerrats“ aus den zuständigen Landes- und Reichsministern vorschlug, der die Verwendung der zur Verfügung stehenden Reichsgelder – jährlich etwa 50 Millionen RM – kontrollieren und die Durchführung noch zu vereinbarender siedlungspolitischer Grundsätze überwachen sollte. Mit derart geringen Einwirkungsmöglichkeiten wollte sich die Reichsregierung jedoch unter keinen Umständen zufriedengeben, und da Preußen ihr nicht weiter entgegenkam, wurden die Verhandlungen schließlich Anfang Mai 1926 ergebnislos abgebrochen113.

113

Dok. Nr. 262; 268, P. 1; 285; 297; 305, P. 1; 351; 353.

Neben den konjunktur- und beschäftigungspolitischen Angelegenheiten war die Frage der Fürstenabfindung im ersten Halbjahr 1926 das am meisten umstrittene Problem der inneren Politik. Sie hatte in der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahres erstmals wieder besondere Aktualität gewonnen, nachdem das Reichsgericht im Normenkontrollverfahren die durch Landesgesetz im Juli 1919 verfügte Enteignung der Herzogsfamilie von Sachsen-Coburg und Gotha für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben hatte. In ärgerlicher Reaktion auf diese weithin Befremden erregende Entscheidung, die mehr den privatrechtlichen Gesichtspunkten als den historischen und staatsrechtlichen Gegebenheiten zur Zeit des Vermögenserwerbs Rechnung getragen hatte, brachten Demokraten und Kommunisten alsbald Gesetzesanträge im Reichstag ein, wobei die ersteren vorschlugen, die Länder zu ermächtigen, unter Ausschluß des Rechtsweges die Vermögensauseinandersetzung mit den früher regierenden Fürstenhäusern durch Landesrecht zu regeln, die letzteren dagegen die vollständige und entschädigungslose Enteignung der Fürstenfamilien verlangten114.

114

Dok. Nr. 256, dort bes. Anm. 6–8. Vgl. auch Rittstieg, H.: Eigentum als Verfassungsproblem. Zu Geschichte und Gegenwart des bürgerlichen Verfassungsstaats. – Darmstadt 1975, S. 260 ff.

Zum ernsten Konflikt weitete sich die Frage jedoch erst im Frühjahr 1926 aus, als ein von Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam beantragtes Volksbegehren auf entschädigungslose Enteignung mit überraschend hoher Stimmenzahl angenommen wurde. Schon mehrere Wochen zuvor waren Vertreter der Koalitionsparteien – in der Hoffnung, die Sozialdemokraten durch[LXIV] entgegenkommende Vorschläge von der Weiterverfolgung des Volksbegehrens abbringen zu können – zu einer Reihe von Besprechungen über die Aufstellung eines Kompromißgesetzentwurfs in der Fürstenfrage zusammengetreten. Ihre gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen (Interfraktioneller Ausschuß, Besprechungen mit der Reichsregierung), insbesondere aber im Rechtsausschuß des Reichstages fortgesetzten wochenlangen Bemühungen führten nicht zum gewünschten Erfolg. Zwar kam es hierbei zur Ausarbeitung eines umfangreichen Gesetzentwurfs, in dem unter anderem die Schaffung eines „Reichssondergerichts“ zur Regelung der zwischen Ländern und Fürsten bestehenden Streitfragen sowie die Möglichkeit vorgesehen war, erhebliche Teile des Fürstenvermögens als sogenanntes „Staatseigentum“ in den Besitz der Länder übergehen zu lassen. Angesichts des negativen Echos von SPD und DNVP wurde jedoch bald deutlich, daß keine der beiden Parteien auf der Linie des Kompromißentwurfs mitgehen würde. Die Ausschußberatungen wurden daher auf Veranlassung der Koalitionsparteien am 28. April auf unbestimmte Zeit vertagt.

Nur wenige Tage zuvor hatte die Reichsregierung auf Verlangen der Mittelparteien und auf Drängen des Reichspräsidenten zur Verfassungsmäßigkeit des Kompromißentwurfs in einem ausführlichen Gutachten Stellung genommen. Sie hatte sich eindeutig dahin ausgesprochen, daß auch ein solches Gesetz mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen werden müsse.

Als letzte Handlung in der Fürstenfrage verabschiedete sie am 30. April eine eigene, von dem Kompromißentwurf nur unwesentlich abweichende Gesetzesvorlage. Diese wurde am 14. Mai – am Tage nach ihrer Demission – vom Reichsrat mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Das kommende Kabinett des Reichskanzlers Marx erbte damit und mit dem unvermeidlichen Volksentscheid ein außerordentlich emotionsgeladenes innenpolitisches Problem115.

115

Dok. Nr. 272; 277, P. 6; 292, P. 6; 298, P. 7; 302; 305, P. 3; 308; 310; 322, P. 5; 329; 334; 335; 341; 342; 343, P. 5; 348, P. 2; 349, P. 2.

 

Um einen ebenso ernsten, in den Verlauf der Dinge schlagartig eingreifenden Vorgang handelte es sich Anfang Mai 1926, als Luther das Kabinett zur Änderung der seit 1921 geltenden Flaggenordnung veranlassen konnte. Durch führende Mitglieder des Hamburger Senats kurz zuvor darauf hingewiesen, daß die deutschen Minderheiten in fast allen lateinamerikanischen Ländern aus sentimentaler Erinnerung an die vergangene Größe des Reiches nur die schwarz-weiß-roten Farben als Symbol des Mutterlandes akzeptierten und vielfach mit den offiziellen deutschen Vertretungen „wegen abweichender Haltung in der Flaggenfrage aufeinanderprallten“, hatte er – um die Bindungen der Auslandsdeutschen an das Reich zu fördern – in den letzten Apriltagen vorgeschlagen, die verfassungsmäßige schwarz-weiß-rote Handelsflagge für die deutschen Auslandsmissionen neben den schwarz-rot-goldenen Reichsfarben offiziell als zweite Dienstflagge einzuführen. Im Verlauf der kurzen Kabinettsberatungen sah er sich jedoch angesichts massiver Proteste aus den Fraktionen von Zentrum, SPD und DDP genötigt, seinen Vorschlag dahin abzuändern, daß nur den konsularischen und gesandtschaftlichen Behörden des[LXV] Reiches in europäischen Hafenorten und an „außereuropäischen Plätzen“ das Führen der genannten beiden Flaggen im Verordnungswege vorgeschrieben werde116.

116

Dok. Nr. 337; 339; 350; 354.

Unmittelbar nach Ausfertigung der Verordnung durch den Reichspräsidenten (5. 5.) begann sich die parlamentarische Lage erheblich zuzuspitzen. Dies nicht nur wegen der von den Sozialdemokraten sofort angekündigten Einbringung eines Mißtrauensantrages gegen die Reichsregierung, sondern auch und vor allem wegen der teils undurchsichtigen, teils schwankenden Haltung der DDP, die zunächst auf Zurückziehung der Verordnung zu bestehen schien, wenig später aber durch ihren Vorsitzenden Koch-Weser erklären ließ, eine Äußerung des Reichspräsidenten etwa dahin, daß „man an die verfassungsmäßigen Farben ‚schwarz-rot-gold‘ im Prinzip nicht heran wolle“, werde ihre Haltung günstig beeinflussen.

Als daraufhin Hindenburg diesem Verlangen in einem Schreiben an den Reichskanzler durch die Versicherung entgegenzukommen suchte, daß er weiterhin fest entschlossen sei, „die Flaggenfrage nur auf der Grundlage der Verfassung zu behandeln“, und darüber hinaus die Hoffnung äußerte, daß es in „absehbarer Zeit“ gelingen werde, durch eine neue, sowohl dem „gegenwärtigen Deutschland“ als auch der jüngeren „Geschichte des Reiches“ gerecht werdende Flaggengestaltung einen „versöhnenden Ausgleich zu schaffen“, gaben die Demokraten zwar einer gewissen Befriedigung Ausdruck, fügten aber hinzu, daß der Reichspräsidentenbrief ihr starkes Mißtrauen gegen den Kanzler in keiner Weise verringert habe. Ungeachtet der dringenden Vorstellungen des Kabinetts und der übrigen Koalitionsfraktionen, daß ein weiterhin unelastisches Vorgehen unter Umständen zur Auflösung des Reichstages führen oder sogar eine Reichspräsidentenkrise heraufbeschwören könne, verlangten sie nicht nur „personelle Änderungen“ in der Regierung, damit ganz offensichtlich auf den freiwilligen Rücktritt Luthers abzielend, sondern auch die „Suspendierung“ der Flaggenverordnung und brachten, nachdem letzteres von der Reichsregierung abgelehnt worden war, einen allein gegen den Reichskanzler gerichteten Mißbilligungsantrag ein.

Inzwischen hatte der Kanzler vor dem Plenum des Reichstages bekanntgegeben, daß die Reichsregierung die Flaggenverordnung spätestens bis Ende Juli 1926 zur vollen Anwendung bringen, sie aber sogleich aufheben werde, wenn es den verfassungsmäßigen Organen bis dahin gelingen sollte, einen versöhnenden Ausgleich im Sinne des Reichspräsidentenbriefes herbeizuführen.

Am 12. Mai kam es im Reichstag zu den entscheidenden Abstimmungen. Während der sozialdemokratische Mißtrauensantrag einer deutlichen Ablehnung verfiel, wurde der Mißbilligungsantrag der DDP mit beträchtlicher Mehrheit angenommen. Luther, der es entschieden abgelehnt hatte, einer eventuellen Abstimmungsniederlage durch seinen Rücktritt zuvorzukommen, weil er den Reichspräsidenten nicht „desavouieren“ wollte, war jetzt zur[LXVI] sofortigen Demission fest entschlossen und ließ sich weder durch das Kabinett noch durch den Reichspräsidenten dazu bestimmen, die Geschäfte des Reichskanzlers bis zur Bildung einer neuen Reichsregierung fortzuführen. Um die Kontinuität der Reichsleitung sicherzustellen, sah sich Hindenburg daher am 13. Mai – dem offiziellen Rücktrittstage des Kabinetts – genötigt, den Reichswehrminister Geßler mit der „Stellvertretung des Reichskanzlers in der derzeitigen Geschäftsführenden Reichsregierung“ zu betrauen117.

117

Dok. Nr. 355, P. 5; 357; 358; 360; 361; 362; 363; 364; 365.

Karl-Heinz Minuth

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