2.60.1 (lut1p): [Zolltarifnovelle]

Zur ersten Fundstelle. Zum Text. Zur Fußnote (erste von 6). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 1.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

Extras:

 

Text

RTF

[Zolltarifnovelle]

Einleitend führte der Reichskanzler aus, daß die Verhandlungen über das Ermächtigungsgesetz so weit vorgeschritten seien2, daß eine Schlußerörterung notwendig werde. Er habe von jeher die Notwendigkeit der Verabschiedung der Zollvorlage betont, obwohl diese keine endgültige Lösung des deutschen Zolltarifs bringe. Der Unterschied zwischen der sogenannten großen und kleinen Zollvorlage bestehe nur darin, daß die große einige Agrarzölle, insbesondere Getreide- und Fleischzölle, und wenige Industriezölle mehr enthalte als die sogenannte kleine Vorlage. Ohne ein Ermächtigungsgesetz könnten die schwebenden Handelsvertragsverhandlungen nicht weitergeführt werden; denn Einzelverhandlungen über jede Tarifposition würden mehrere Monate in Anspruch[217] nehmen. Zur Einbringung eines Ermächtigungsgesetzes müsse aber vorher innerhalb der Regierungsparteien festgestellt werden, ob die erforderliche Mehrheit vorhanden sei.

2

S. dazu Dok. Nr. 59, dort bes. Anm. 1.

Der Reichskanzler erbat daher eine Äußerung der anwesenden Parteivertreter darüber, ob ihre Fraktionen einem Ermächtigungsgesetz zustimmen würden oder welchen anderen Weg sie vorschlagen könnten, damit die handelspolitischen Verhandlungen nicht zum Stillstande kämen.

Der Abg. Thomsen erklärte für die DNVP, daß das für die Weiterführung Nötige im Wege des Ermächtigungsgesetzes geschaffen werden solle und müsse. Seine Fraktion werde einem allgemein gehaltenen Ermächtigungsgesetz zustimmen.

Der Abg. Becker-Arnsberg teilte mit, daß die Meinungen im Zentrum geteilt seien. Wenn eine Einigung in seiner Fraktion herbeigeführt werden solle, werde das nur möglich sein, wenn zwischen der Regierung und anderen Parteien bezüglich bestimmter Zollsätze, insbesondere der landwirtschaftlichen Zölle, feste Bindungen eingegangen werden würden. Die Fraktion selbst sei sich aber noch nicht schlüssig, müsse erst noch Beschluß fassen.

Der Abg. Scholz erklärte für die DVP, daß diese bereit sei, einem Ermächtigungsgesetz in der jüngst besprochenen Fassung3 zuzustimmen.

3

Über eine diesbez. Besprechung nichts ermittelt. In den Akten lediglich der maschschrl. „Entwurf eines Gesetzes über Änderungen des Zolltarifs“, den Wachsmann in der Anlage eines Referentengutachtens über diesen Entwurf dem RK am 9. 4. vorlegt. Angaben über Datum und Herkunft des Entwurfs sind in dem Referentengutachten nicht enthalten. Der Entwurf bestimmt in § 1: „Mit Rücksicht auf dringende wirtschaftliche Bedürfnisse wird die Reichsregierung ermächtigt, einen vorläufigen allgemeinen autonomen Zolltarif festzusetzen und zu diesem Zwecke: a) die Eingangszölle für bestimmte zollpflichtige Waren zu erhöhen und nach dem Zolltarif zollfreie Waren mit Eingangszöllen zu belegen, b) die noch gültigen Bekanntmachungen über vorübergehende Einfuhrerleichterungen aufzuheben.“ Außerdem (§ 2) soll die RReg. bei Vorliegen wichtiger wirtschaftlicher Gründe für bestimmte zollpflichtige Waren die Zölle vorübergehend ganz oder teilweise außer Kraft setzen dürfen (R 43 I /2417 , Bl. 252-254).

Der Abg. Leicht teilte mit, daß in seiner Fraktion wegen der früheren Ermächtigungsgesetze4 gegen ein neues Ermächtigungsgesetz erhebliche Bedenken bestehen. Ein Teil seiner Freunde vertrete den Standpunkt des Abgeordneten Becker-Arnsberg, ein anderer sei bereit zuzustimmen, wenn irgendeine Umschreibung oder Begrenzung der Vollmachten möglich wäre.

4

S. die Ermächtigungsgesetze vom 13. 10. und 8.12.23 (RGBl. I, S. 943  und 1179). Ein Spezialermächtigungsgesetz über Zölle und Umsatzsteuern war von der RReg. am 22.8.24 dem zweiten RT vorgelegt (RT-Drucks. Nr. 457, Bd. 383 ), von diesem aber nicht erledigt worden.

Der Abg. Fehr verlangte als Voraussetzung für die Zustimmung seiner Fraktion zum Ermächtigungsgesetz, daß für den Vollzug bestimmte Erklärungen von seiten der Reichsregierung abgegeben würden, die noch näher zu vereinbaren seien.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß, wenn nicht im Laufe des April irgendeine Einigung innerhalb der Regierungsparteien erreicht sei, voraussichtlich alle schwebenden Handelsvertragsverhandlungen versanden würden. Es sei notwendig, bis zum 28. April zwischen den Regierungsparteien und der Regierung ein Einvernehmen über die wichtigsten Zollsätze herzustellen und dann[218] am 28. April das Ermächtigungsgesetz einzubringen und innerhalb weniger Tage zu verabschieden.

 

Im Laufe der weiteren Debatte wurde namentlich von seiten des Zentrums (Ehrhardt, Dessauer) und der Deutschen Volkspartei betont, daß die heutige Ablehnung des deutsch-spanischen Handelsvertrages durch die DNVP im handelspolitischen Ausschuß eine sehr schwierige Situation geschaffen habe5. Nachdem die stärkste der hinter der Regierung stehenden Parteien diese trotz dringendster Vorstellung von seiten der Regierung nicht unterstützt habe, kämen die anderen Fraktionen in eine sehr schwierige Lage.

5

Nach einem „Radlauer-Bericht“ vom 1. 4. wurde der dt.-span. Handelsvertrag im Handelspolitischen Ausschuß des RT mit 17 gegen 5 Stimmen bei 6 Enthaltungen abgelehnt. Gleichzeitig nahm der Ausschuß eine Entschließung an, worin die RReg. ersucht wird, unverzüglich mit der span. Reg. in neue Verhandlungen über den Abschluß eines Handelsabkommens einzutreten und ein solches Abkommen nur abzuschließen, wenn ausreichender Zollschutz für die dt. Landwirtschaft, insbesondere für den Wein-, Obst- und Gemüsebau erreicht werden kann (Abschrift in R 43 I /2417 , Bl. 251). Zur weiteren parlamentarischen Behandlung des Abkommens s. Dok. Nr. 77.

Der Reichskanzler gab diese Verschärfung der Situation zu, hielt aber trotzdem eine baldige Überbrückung der Schwierigkeiten für geboten.

Der Reichskanzler schlug vor, daß die Parteien sich bis zum 28. April mit der Regierung über die wichtigsten Zollsätze, die jedoch auf eine möglichst geringe Zahl beschränkt werden müßten, verständigen sollten. Er regte an, daß von seiten jeder Fraktion einige Sachverständige benannt werden möchten, die zu Beginn der zweiten Woche nach Ostern die Verhandlungen untereinander und mit der Regierung aufnehmen sollten.

Es wurde beschlossen, daß am Dienstag, dem 21. April, nachmittags 4 Uhr die der Regierung nahestehenden Fraktionen sich im Reichskanzlerhause einfinden sollen, um dann mit der Regierung über die ihnen wesentlich erscheinenden Zollsätze zu verhandeln. Material soll weder den Parteien noch den Abgeordneten behändigt werden, damit dadurch nicht Interessentenkreise auf den Plan gerufen werden, sondern die Möglichkeit alsbaldiger Beendigung der Verhandlungen erhalten bleibt. Keine der Fraktionen soll mehr als 5 Abgeordnete entsenden; diesen wird anheimgestellt, sich die nötigen Informationen durch Studium des Zollblattes Nr. 9 vom 24. April 19226 zu beschaffen. Die Verhandlungen sollen vertraulich sein, auch über die heutige Besprechung soll nichts in die Presse gebracht werden.

6

S. Reichszollblatt, 17. Jg., Nr. 9. Darin eine Zusammenstellung der auf Grund der Bekanntmachungen vom 4.8.14, 8.3.15 und 13.9.17 gültigen vorübergehenden Zollerleichterungen nach dem Stande vom 1.5.22.

Die Fraktionen werden bis zum Sonnabend, dem 4. April, mitteilen, welche Mitglieder sie zu der Sitzung am 21. April entsenden werden.

Besondere Einladungen sollen nicht mehr ergehen7.

7

Die für den 21. 4. vereinbarte Parteiführerbesprechung wird am 17. 4. mit Schreiben des RK an die RT-Fraktionen der Regierungsparteien abgesetzt (R 43 I /2417 , Bl. 285). Bestimmend für diesen Entschluß war folgender Vorgang: Am 11. 4. hatten die Zentrumsabgeordneten Lammers und Stegerwald, von Luther zu einer Unterredung in der Rkei empfangen, schwere Bedenken gegen die geplante Behandlung der Zollvorlage zum Ausdruck gebracht und u. a. erklärt: 1) Das vorgesehene Ermächtigungsgesetz sei verfassungsändernd und bedürfe daher einer Zweidrittelmehrheit. 2) Eine Mehrheitserörterung im RT sei unvermeidlich, da der RT jedem Handelsvertrag seine Zustimmung geben müsse. 3) Völlig unannehmbar sei der landwirtschaftliche Wunsch nach einer prozentualen Anhebung der Agrarzölle in gleichem Ausmaß wie die Erhöhung der Industriezölle. Die Zentrumsfraktion habe daher den Beschluß gefaßt, die Besprechung am 21. 4. nicht zu beschicken. Abschließend wurde vereinbart, daß der Abg. Lammers mit landwirtschaftlichen Kreisen aller beteiligten Parteien darüber in Verbindung treten solle, ob eine Vertagung der Besprechung bis nach den Präsidentenwahlen sachlich zweckmßäig sei (Aufzeichnung Luthers vom 11. 4. in R 43 I /2417 , Bl. 274-277). – Mit Schreiben an den RK teilte Lammers am 15. 4. mit, „daß nach meinen Beobachtungen die notwendige Vorklärung zwischen den verschiedenen Standesgruppen noch nicht zum Abschluß gekommen ist.“ Außerdem seien viele der beteiligten Parlamentarier durch die bevorstehenden Präsidentenwahlen zu sehr in Anspruch genommen (R 43 I /2417 , Bl. 283). Zum Fortgang s. Dok. Nr. 79, P. 2.

[…]

Extras (Fußzeile):