2.10 (lut1p): Nr. 10 Der Vorstand der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an den Reichskanzler. 27. Januar 1925

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Nr. 10
Der Vorstand der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an den Reichskanzler. 27. Januar 1925

R 43 I /795 , Bl. 311-315

[Ruhrentschädigung]

Sehr geehrter Herr Reichskanzler!

Die Vertagung des Reichstags1 hat die sozialdemokratische Reichstagsfraktion gehindert, in öffentlicher Reichstagssitzung die Frage der Entschädigung der rheinisch-westfälischen Großindustriellen aus Anlaß des Ruhrkampfes2 zur Sprache zu bringen. Wir gestatten uns deshalb, Ihnen, Herr Reichskanzler, auf diesem Wege folgendes zu unterbreiten:

1

Der RT hatte sich wegen des Regierungswechsels am 23. 1. auf den 3. 2. vertagt (RT-Bd. 384, S. 267 ).

2

Es handelt sich um Entschädigungszahlungen (s. Anm. 3 u. 4), die die RReg. seit Juni 1924 geleistet hatte. Sie war damit einer durch das Kabinett Stresemann übernommenen Verpflichtung nachgekommen, die materiellen und finanziellen Aufwendungen der Ruhrindustrie auszugleichen, die dieser aus ihrem Abkommen mit der Micum vom 23.11.23 (Text in: Ursachen und Folgen, Bd. V, Dok. Nr. 1102) entstehen würden (s. ebd., Dok. Nr. 1097: Schreiben Stresemanns an die Sechserkommission des Bergbaulichen Vereins vom 1.11.23). Eine Befragung des RT hatte nicht stattgefunden. Nähere Einzelheiten zur Vorgeschichte s. in dieser Edition: Die Kabinette Marx I/II, Dok. Nr. 64, P. 1; eine ausführliche Darstellung bei Netzband/Widmaier, Währungs- und Finanzpolitik der Ära Luther 1923–1925, S. 114 ff. und 258 ff.

Nach Pressemeldungen ist vor einigen Tagen zwischen den zuständigen Reichsstellen und dem Ruhrbergbau ein Abkommen über den Ersatz der Schäden geschlossen worden, die dem Bergbau während des Ruhrkampfes entstanden sind. Das Reich erkennt darin seine Entschädigungspflicht an und habe sich zur Zahlung einer entsprechenden Entschädigungssumme bereit erklärt. Die Verteilung der Entschädigungszahlungen des Reiches, auf die bereits größere[31] Abschlagszahlungen erfolgt seien3, geschehe durch die Ruhrkohle AG4. Die endgültige Verrechnung sei noch nicht vorgenommen worden. Auch der Zeitpunkt dafür stehe noch nicht fest. Die Entschädigungsansprüche der Eisen- und Stahlindustrie sollen ähnlich geregelt werden5.

3

Nach einer tabellarischen Zusammenstellung, die das RFMin. am 26.2.<in der Druckfassung: 26.1.; Anm. der Online-Edition> an die Rkei übersendet, wurden an die Vereinigung für den Verkauf und die Verteilung von Ruhrkohle AG in der Zeit zwischen Juni 1924 und Januar 1925 insges. 556 Mio RM, an andere Industriegruppen (Chemische Industrie, Rheinschiffahrt) 86 Mio RM gezahlt (R 43 I /455 , Bl. 75-80).

4

Gemeint ist wohl das zwischen RFMin. und Ruhrkohle AG am 30.12.24 getroffene Abkommen, wonach das Reich der Ruhrkohle AG zur Verteilung an den Ruhrbergbau einen Restbetrag von 186 Mio RM zu Verfügung stellte. Die Ruhrkohle AG übernahm dafür „jede etwa bestehende Schuld des Reichs gegenüber dem Ruhrbergbau aus den aus Anlaß der Ruhrbesetzung entstandenen Schäden.“ (Text am 12.1.25 vom RFMin. an Rkei in R 43 I /795 , Bl. 302-309).

5

Noch nicht entschädigt sind z. Z., so das RFMin. mit Schreiben an die Rkei vom 26. 2., „die gemäß der Vereinbarung mit dem Wirtschaftsausschuß für die besetzten Gebiete abzufindenden Geschädigten, für die ein Betrag von 30 000 000 RM angesetzt wurde und die im Sonderverfahren [s. Anm. 6] abzufindenden Geschädigten, für die 25 000 000 RM in Aussicht genommen sind. Es handelt sich hier um Tausende von Einzelfällen, deren Prüfung geraume Zeit in Anspruch nimmt.“ (R 43 I /455 , Bl. 75).

Ferner ist durch die Bekanntmachung über Ruhrschäden vom 10. Dezember 1924, die anscheinend die formelle Grundlage für das vorerwähnte Abkommen darstellt, eine außerordentlich weitreichende Ausdehnung der Entschädigungspflicht des Reiches vorgenommen worden. Die Entschädigungspflicht, die bisher nur bis zum 31. Oktober 1923 bestand6, ist auf alle Schäden ausgedehnt worden, die bis zum 15. November 1924 entstanden sind. Des weiteren werden künftig 5000 Mark voll entschädigt (bisher 2500 Mark), höhere Beträge mit 75% (statt bisher 25%). Außerdem ist die bisherige Höchstgrenze von 50 000 Mark aufgehoben worden7.

6

Bis dahin nach den „Richtlinien, betreffend das Sonderverfahren zur Entschädigung im Verwaltungswege“ vom 16.3.23. S. dazu S. 9 ff. und 69 ff. der Denkschrift des RFMin. über die Ruhrentschädigung vom 16.2.25 (RT-Drucks. Nr. 568, Bd. 398 ).

7

Die „Bekanntmachung über Ruhrschäden“ des RMinbesGeb. vom 10.12.24 ist gedr. als Anlage 22 zur Denkschrift des RFMin. über die Ruhrentschädigung (s. Anm. 6).

Diese Mitteilungen haben in der Öffentlichkeit eine große Beunruhigung hervorgerufen. Sie ist entstanden aus der Erwägung,

1.

daß es sich bei dieser Maßnahme um den gewaltigen Betrag von mehreren hundert Millionen Goldmark handelt. Die Presse beziffert den Anspruch der rheinisch-westfälischen Großindustriellen allein auf 600 Millionen Goldmark,

2.

daß Entschädigungen gezahlt werden nicht nur für den tatsächlich erlittenen Schaden, sondern auch für entgangene Gewinne,

3.

daß den Entschädigungsansprüchen Preise zugrunde liegen, die mit Rücksicht auf die Tragung der Micumlasten durch die Industrie weit über den Produktionskosten festgesetzt waren,

4.

daß die Zahlung erfolgt ohne gründliche und einwandfreie Nachprüfung der Schäden, so daß ein neuer Typus von „Ruhrgewinnlern“ geschaffen wird,

5.

daß bei der Bemessung der Entschädigung weder die gewaltigen Gewinne durch Papiermarkkredite der Reichsbank, des Reiches sowie durch die Ausgabe [32] von Notgeld und die bisher bereits gezahlten Entschädigungen, die sogenannte Lohnsicherung8, berücksichtigt werden,

6.

daß die Anerkennung der Ansprüche erfolgt auf dem Verwaltungswege, und daß die gesetzgebenden Körperschaften bei dieser gewaltigen Ausgabe überhaupt nicht befragt worden sind,

7.

daß die durch das Abkommen zur Auszahlung gelangenden Beträge in dieser Höhe weder im Haushaltsplan für 1924 noch in dem für 1925 angefordert werden,

8.

daß damit die Millionen Liquidationsgeschädigter, Vertriebener, Auslandsdeutscher und Inflationsgeschädigter, die mit Pfennigentschädigungen abgespeist worden sind, weit schlechter behandelt werden als die kapitalkräftigen Ruhrgeschädigten,

9.

daß damit die Reichskasse so stark belastet wird, daß der Abbau der Massenbelastung gefährdet wird und gewaltige Ansprüche anderer Geschädigter hervorgerufen werden.

8

Hierbei handelt es sich wohl um die von der RReg. mitfinanzierten Lohnzahlungen an die Arbeitslosen im besetzten Ruhrgebiet während des Ruhrkampfes, die über die sog. „Rhein-Ruhr-Hilfe“, einer von Arbeitnehmern und Gewerkschaften getragenen Institution, abgewickelt worden waren. S. dazu diese Edition: Das Kabinett Cuno, Dok. Nr. 71 und 87.

Hinzu kommt, daß den nach der Rückgabe der Micum-Zechen an ihre früheren Besitzer von diesen fristlos entlassenen Angestellten und Arbeitern bisher von den Bergwerksgerichten weder das Recht auf Beschäftigung noch auf Entschädigung zugesprochen worden ist. Der Gedanke, daß aus den Begleiterscheinungen des passiven Widerstandes die kapitalkräftigen Zechenbesitzer unverdiente Bereicherung, dagegen die eigentlichen Träger des Ruhrkampfes nach den schon gebrachten ungeheueren Opfern jeder Art jetzt auch noch den Verlust der Existenz und die Ablehnung jeder Entschädigung erfahren sollen, ist unerträglich.

Der Vorstand der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion sieht sich deshalb veranlaßt, an die Reichsregierung das Ersuchen zu richten,

1.

die Ausführung der mit der Ruhrkohle AG geschlossenen Vereinbarungen sofort einzustellen,

2.

die Ausführung der Bekanntmachung über Ruhrschäden vom 10. Dezember 1924 vorläufig einzustellen und

3.

dem Reichstage sofort eine Denkschrift über die Vergütung der Ruhrschäden vorzulegen, die sowohl eine vollständige Übersicht über die der Ruhrindustrie seit dem 11. Januar 1923 von allen öffentlichen Stellen gewährten Kredite und Entschädigungen enthält, als auch die Materialien, die zur Begründung einer unseres Erachtens unbedingt erforderlichen gesetzlichen Regelung der Entschädigungsansprüche notwendig sind9.

9

Die Vorlage einer solchen Denkschrift wird vom RFM bereits in seiner Etatrede vor dem Haushaltsausschuß des RT am 28. 1. zugesagt (s. das Druckexemplar der Rede in R 43 I /1017 , Bl. 218-224).

Wir halten diese Forderungen für umso berechtigter, als eine gesetzliche Grundlage für eine so weitgehende Ausdehnung dieser Entschädigungsansprüche[33] uns nicht gegeben erscheint. Wenn aus der Reichskasse durch selbständige Entscheidung der Verwaltung so gewaltige Summen zur Auszahlung angewiesen werden könnten, würde damit jedes geordnete Budgetrecht des Reichstags illusorisch werden. Deswegen sehen wir in dem Vorgehen der Regierung eine Verletzung des Budgetrechts des Reichstags.

Angesichts der gespannten Finanzlage des Reichs, die zur erheblichen Einschränkung der sozialen Fürsorge geführt hat, und der Ansprüche, die die Aufwertun der öffentlichen Anleihen und der Entschädigungen der Liquidationsgläubiger an die Reichskasse stellen, warnen wir auf das ernsteste vor einer Anerkennung von unberechtigten Ansprüchen der Ruhrindustrie, die das Reich mit Hunderten von Millionen Goldmark belastet. Bereits jetzt hat die Ankündigung der erheblichen Entschädigungszahlungen zu einer Hausse in Montanpapieren an der Börse geführt, die den Aktionären unberechtigte hohe Gewinne verschafft.

Die beschränkten Mittel des Reichs dürfen nicht zur Bereicherung des Großkapitals führen, sondern müssen ausschließlich zur sozialen Fürsorge der Millionen Notleidender, insbesondere der bedürftigen Opfer der Inflation und des Ruhrkampfs dienen10.

10

In seinem kurzen Antwortschreiben vom 29. 1. verweist Luther, ohne sachlich Stellung zu nehmen, auf die vom RFMin. zugesicherte Denkschrift über die Ruhrentschädigung (Reinkonzept in R 43 I /795 , Bl. 322). Zum Fortgang s. Dok. Nr. 16, P. 6.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Der Vorstand

der

Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion

Hermann Müller-Franken

MdR

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