1.191.1 (lut2p): [Flaggenfrage]

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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RTF

[Flaggenfrage]

Nach der Eröffnung der Besprechung durch den Herrn Reichskanzler bedauerte der Abgeordnete Koch zunächst, daß entgegen den gestrigen Verabredungen die Geheimhaltung des Ergebnisses der Sonntagsberatungen nicht gelungen sei, und zwar müsse er feststellen, daß die Indiskretion nicht bei den politischen Parteien gelegen habe2. Ferner fühle er sich verpflichtet, darauf[1350] hinzuweisen, daß bereits am Freitagabend [7. 5.] seitens der Regierung erklärt worden sei, auch führende Demokraten hätten an dem ersten Flaggenerlaß mitgewirkt3. Auf diesbezügliche Anfrage bei der nächsten Pressekonferenz habe Ministerialdirektor Dr. Kiep der Presse vertraulich geantwortet, hiermit sei Herr Bürgermeister Petersen gemeint gewesen. Zur Sache habe er bereits erklärt und müsse es auch heute wiederholen, daß durch die Flaggenverordnung unwiederherstellbarer Schaden eingetreten sei. Eine Lösung der Schwierigkeiten sei nach seinen mehrfachen Erklärungen der letzten Tage nur unter ganz besonderen Voraussetzungen möglich, und zwar nur dann, wenn durch den Schritt des Herrn Reichspräsidenten eine erneute starke Festlegung auf die verfassungsmäßige Flagge „Schwarz-Rot-Gold“ erfolgen würde. Diese Festlegung sei aber in keiner Weise erfolgt. Schon der in den Beratungen des gestrigen Sonntags erörterte erste Entwurf des Reichspräsidentenbriefes4 sei schon erheblich farbloser gewesen als die diesbezüglichen Wünsche der Demokraten5. Er habe daher gleich gestern sagen müssen, daß er – nicht nur für seine Partei, sondern auch für seine eigene Person – sich seine Stellung vorbehalten müsse. Nachdem jetzt aber der endgültige Wortlaut des Präsidentenbriefes vorliege6,[1351] seien die demokratischen Bedenken ganz erheblich verstärkt. Gegenüber dem Tatbestand, wie er sich noch am gestrigen Sonntag dargestellt habe, bestünden die demokratischen Bedenken in Folgendem:

2

Koch-Weser geht in einer undatierten Denkschrift an den Fraktionsvorstand der DDP kurz auf diese Vorgänge ein. Danach hätten sich die Teilnehmer an den Besprechungen des 9. 5., in denen RArbM Brauns den Entwurf eines Reichspräsidentenbriefes an den RK erläutert habe (s. Anm. 4), strengstes Stillschweigen über den Inhalt des Entwurfs zugesagt. Dennoch seien bereits in der Morgenpresse des 10. 5. einzelne Sätze daraus zitiert worden, sie seien überdies mit abfälliger Kritik an seinen (Kochs) Vermittlungsversuchen verbunden gewesen. Auch habe Stresemann trotz des Schweigeversprechens der Minister eingehende Mitteilungen über diese Besprechungen an Pressevertreter weitergegeben (Nachlaß Koch -Weser, Bd. 34).

3

Gemeint ist wohl die Flaggen-VO vom 11.4.21 (RGBl., S. 483 ). Stresemann hatte am 7. 5. einem Mitarbeiter des WTB ein längeres Interview zur Flaggenfrage gewährt und dabei u. a. erklärt, daß „noch vor wenigen Jahren die demokratische Reichstags-Fraktion geschlossen für die Beibehaltung der Geltung der alten schwarz-weiß-roten Flagge zur See gestimmt“ habe, und zwar vor allem deshalb, weil sie „die große Bedeutung der Flagge für unseren Welthandel“ anerkannte („Tägliche Rundschau“ vom 7. 5.; vgl. auch Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 389 ff.).

4

Dieser Entwurf in den Akten nicht ermittelt. Koch-Weser hierzu in seiner Denkschrift an den Fraktionsvorstand der DDP (vgl. Anm. 2): „Der Entwurf war ziemlich nichtssagend. Immerhin enthielt er das Bekenntnis des Reichspräsidenten dazu, daß ihm nichts ferner liege, als die Nationalfarben zu ändern oder zu beeinträchtigen. Er enthielt ferner die Hoffnung auf einen versöhnenden Ausgang, der dem neuen Deutschland und seinen Zielen entspricht und zugleich dem Werdegang und der Geschichte des Reiches gerecht wird. Brauns fügte hinzu, daß dieser von Meissner und ihm aufgesetzte Entwurf am Abend mit dem Reichspräsidenten endgültig festgelegt werden solle und er noch nicht wisse, ob der Reichspräsident mit allem einverstanden sein werde.“ – Über die Verhandlungen zwischen Vertretern der Koalitionsparteien und Regierungsmitgliedern am 9. 5. berichtet Brauns ausführlich in der Ministerratssitzung am 10. 5. (Dok. Nr. 361). Beteiligt waren laut Pressemeldungen die Minister Stresemann und Brauns, außerdem von der DVP die Abg. Scholz und Brüninghaus, vom Zentrum die Abg. v. Guérard und Stegerwald, von der BVP der Abg. Leicht und von der DDP der Abg. Koch-Weser („Tägliche Rundschau“ vom 9. und 10. 5.).

5

Die Wünsche der Demokraten kommen zum Ausdruck in einem von Koch-Weser angefertigten, am 8. 5. RIM Külz übergebenen Entwurf eines Reichspräsidentenbriefes an den RK, der in seinen wichtigsten Teilen wie folgt lautet: „Die Aufnahme, die die Verordnung vom Mittwoch, dem 5. Mai 1926, über die Flaggenfrage gefunden hat, bestärkt mich in der Überzeugung, daß in dem Streit um die deutsche Reichsfahne eine Teillösung nicht geeignet ist, dauernde Beruhigung zu schaffen.“ Es folgt sodann die Aufforderung an die RReg., „dem Reichstag in größter Beschleunigung eine Vorlage zur Schaffung einer einheitlichen Reichsflagge vorzulegen“. Den alten wie den neuen Farben des Reiches müsse dabei angemessene Berücksichtigung gewährt werden. „Ohne den schlüssigen Erwägungen vorgreifen zu wollen, denke ich mir das etwa in der Form, daß auf der schwarz-rot-goldenen Fahne in weißem Felde ein schwarz-roter Adler erscheint.“ Der Entwurf schließt mit einem Aufruf an alle Deutschen, „Deutschlands Vergangenheit und Deutschlands Zukunft in einem einzigen großen Symbol zu vereinen“ (Nachlaß Koch -Weser, Bd. 34). – Wie Koch-Weser in seiner Denkschrift an den Fraktionsvorstand der DDP (vgl. Anm. 2) berichtet, sei dieser Entwurf am 8. 5. in einer Besprechung der DDP mit Vertretern des Zentrums zur Diskussion gestellt, aber von RAbrM Brauns als für den RPräs. nicht annehmbar bezeichnet worden.

6

Das Schreiben Hindenburgs an Luther wurde mit Datum vom 9. 5. ausgefertigt (R 43 I /1833 , Bl. 368) und erschien am 10. 5. in der Tagespresse („Tägliche Rundschau“; abgedr. auch in: Hubatsch, Hindenburg und der Staat, S. 235 f.; Schultheß, S. 94 f.).

a) Herr Minister Brauns habe gestern nicht gesagt (und wohl auch nicht zu sagen brauchen), daß der Präsidentenbrief eine neue starke Festlegung des Herrn Reichspräsidenten auf die Flaggenverordnung enthalte7. Die Demokraten müßten aber ausdrücklich verlangen, wenn sie sich zu einer Lösung der Krise bereiterklärten und dementsprechend die ergangene Flaggenverordnung zu tolerieren beabsichtigten, daß auf der anderen Seite seitens des Herrn Reichspräsidenten keine erneute Festlegung auf diese Verordnung erfolge.

7

In der endgültigen Fassung lautet der diesbez. Passus des Reichspräsidentenbriefes: „Die außen- und wirtschaftspolitischen Ereignisse der letzten Zeit […] erfordern eine starke Mitwirkung der Deutschen im Auslande und ein freudiges Bekennen aller Auslandsdeutschen zum Deutschtum bei öffentlichen Kundgebungen. Dem stand im Auslande […] der unselige Flaggenzwist hindernd im Wege. Diesem Übelstande soll durch die Verordnung vom 5. Mai d. J. abgeholfen werden, und ich bin überzeugt, daß dieser Zweck mit der Verordnung auch erreicht wird.“

b) In dem gestern von Herrn Minister Brauns vorgelegten Entwurf habe es geheißen, daß der Herr Reichspräsident nicht beabsichtige, die verfassungsmäßige Nationalflagge zu „verändern oder zu beeinträchtigen“. In dem jetzt vorliegenden endgültigen Schreiben sei nur von „Beseitigung“ gesprochen8.

8

Der entsprechende Abschnitt lautet: „Nichts liegt mir […] ferner, als die durch die Verfassung bestimmten Nationalfarben zu beseitigen. Ich bin vielmehr nach wie vor fest entschlossen, die Flaggenfrage nur auf der Grundlage der Verfassung zu behandeln.“

c) Der endgültige Brief deute an, daß das Flaggenproblem auf dem Wege eines verfassungsändernden Gesetzes erfolgen solle9. Ein solches qualifiziertes Gesetz sei aber doch nur dann notwendig, wenn die gegenwärtigen Reichsfarben des Artikel 3 der Verfassung geändert würden. Das Streben des Herrn Reichspräsidenten sei also zweifellos auf eine Einschränkung von „Schwarz-Rot-Gold“ gerichtet.

9

Hierzu heißt es im Brief des RPräs.: „Hier in absehbarer Zeit auf verfassungsmäßigem Wege einen versöhnenden Ausgleich zu schaffen, der dem gegenwärtigen Deutschland und seinen Zielen entspricht und zugleich dem Werdegang und der Geschichte des Reiches gerecht wird, ist mein innigster Wunsch.“

d) Der Brief drücke nur den Wunsch aus, daß „in absehbarer Zeit“ diese neue Lösung gefunden werde. Auch diese Formulierung könne nur so verstanden werden, daß die ganze Angelegenheit auf lange Zeit hinaus vertagt werden solle.

e) Schließlich sei gegenüber dem Entwurf in dem endgültigen Brief vom „gegenwärtigen“ Deutschland statt vom „neuen“ Deutschland die Rede. Daß der Fassung „neues Deutschland“ eine ideale geläuterte Auffassung innewohne gegenüber dem Ausdruck „gegenwärtiges Deutschland“, der durchaus als Geringschätzung aufgefaßt werden könne, könne keinem Zweifel unterliegen.

[1352] Durch diese Punkte seien die gestrigen Befürchtungen der Demokraten außerordentlich befestigt worden. Diese Bedenken bedeuteten natürlich nicht, daß auch die Demokraten die neue Initiative des Herrn Reichspräsidenten nicht als erfreulich begrüßten; sie bedeuteten aber, daß das Mißfallen der Demokraten gegen den Reichskanzler nicht beseitigt sei. Die Demokratische Fraktion sei daher nicht in der Lage, gegen das sozialdemokratische Mißtrauensvotum10 zu stimmen.

10

Vgl. Anm. 2 zu Dok. Nr. 357.

Der Reichskanzler beschränkte sich zunächst auf die Bemerkung, daß er diese Erklärung der Demokratischen Fraktion entgegengenommen habe, aber zur Stellungnahme zunächst einer Erörterung im Kreise seiner Kollegen bedürfe.

Abgeordneter Scholz: Nach dem Verlauf der gestrigen Sonntagsberatungen habe er anderes erwartet und sei daher über die jetzige demokratische Erklärung schmerzlich überrascht. Daß der endgültige Präsidentenbrief in den einzelnen Punkten wohl eine andere Fassung als der gestern durch Herrn Minister Brauns den Parteiführern vorgetragene Entwurf habe, sei wohl zuzugeben; er müsse aber offen gestehen, daß er diesen Änderungen keinerlei wesentliche Bedeutung beimessen könne. Nachdem jetzt der Herr Reichspräsident den nach seiner und seiner politischen Freunde Ansicht sehr weitgehenden Schritt getan habe, hätte er nicht geglaubt, daß die Demokratische Fraktion auf ihrer negativen Einstellung verharre. Er müsse an alle hier Versammelten appellieren, daß sie in dieser Frage und in diesem Zeitpunkt nicht solche Konsequenzen ziehen möchten, die überhaupt alles erledigten. Wenn auch die Demokraten für morgen eine beruhigende Erklärung hinsichtlich des neuen Schrittes des Herrn Reichspräsidenten beabsichtigten11, so sehe er nicht, woher bei Annahme des Mißtrauensvotums durch die Demokraten der Herr Reichspräsident die Kraft noch herleiten solle, im Amte zu bleiben.

11

Vgl. Anm. 3 zu Dok. Nr. 363.

Abgeordneter Koch bezweifelt letzteres und gibt der Hoffnung Ausdruck, bei der geschilderten Einstellung der Demokraten, die betont den Herrn Reichspräsidenten aus dem Spiel lasse, könne der Herr Reichspräsident sich seiner verfassungsmäßigen Aufgabe nicht entziehen, der ruhende Pol zu bleiben.

Abgeordneter Leicht hält gleichfalls den Brief des Herrn Reichspräsidenten für eine durchaus befriedigende Lösung. Alle Regierungsparteien hätten gleichmäßig das größte Interesse daran, Regierung und Koalition aufrechtzuerhalten. Denn was soll werden? Auch nach seiner Meinung müsse bei Verharren der Demokraten auf ihrem gegenwärtigen Standpunkt der Herr Reichspräsident zurücktreten. Aber selbst wenn dies nicht eintrete, sehe er keine Möglichkeit irgendeiner Lösung. Jedenfalls halte er es für ausgeschlossen, daß sich noch im laufenden Sommer eine neue Regierung bilden könne. Wir würden wieder ein geschäftsführendes Kabinett haben, so daß die demokratischen Wünsche vorderhand doch nicht in Erfüllung gehen könnten.

Abgeordneter von Guérard: Die zwischen gestern und heute erfolgten Indiskretionen seien sehr unerfreulich und bedeuteten keineswegs eine Erleichterung;[1353] auch er müsse feststellen, daß sie nicht bei den Parteien erfolgt seien. Zuzugeben sei auch, daß der vorliegende Präsidentenbrief gegenüber den gestrigen Erörterungen eine Erschwerung bedeute. Im übrigen müsse er doch feststellen, daß nach seiner Kenntnis der Dinge die geänderte Formulierung des endgültigen Präsidentenbriefes gegenüber dem ersten Entwurf für die Demokraten nicht der Anlaß gewesen sei, auf ihren ersten Widerstand zurückzukommen. Jedenfalls habe ihm heute vormittag der Abgeordnete Haas namens der Demokratischen Fraktion offiziell mitgeteilt, daß das beabsichtigte Schreiben den Demokraten nicht genüge. Erst im Verlauf dieser Besprechung mit Herrn Abgeordneten Haas sei ihnen beiden der endgültige Inhalt des Präsidentenbriefes bekanntgeworden. Es müsse also festgestellt werden, daß die endgültige Formulierung für die Einstellung der Demokraten nicht entscheidend gewesen sei. Trotz aller berechtigten Kritik an dem Verhalten der Regierung und der Flaggenverordnung müsse auch er betonen, daß die Reichspräsidentenkrise, Regierungskrise, Koalitionskrise, Reichstagsauflösung usw. unter allen Umständen vermieden werden müsse. Bei der Einstellung der Demokraten sehe er jedoch keine Lösungsmöglichkeit.

Der Reichskanzler bemerkte zwischendurch, daß in seiner eigenen Person bei Lösung der gegenwärtigen Krise nicht der leiseste Hinderungsgrund liegen dürfe. Selbstverständlich trage er für die getroffenen Regierungsmaßnahmen die volle Verantwortung und sei auch fest entschlossen, gegebenenfalls alle hieraus folgenden persönlichen Konsequenzen zu ziehen.

Abgeordneter Erkelenz: Auch die Demokratische Fraktion dächte nicht nur an den Augenblick, sondern selbstverständlich auch an die Zukunft. Nach dieser Richtung ziehe er folgende Schlußfolgerungen: Zunächst dürfe es unter keinen Umständen zu einer Reichspräsidentenkrise kommen; diese müsse dauernd vermieden bleiben und dieses Ziel sei bei dem geplanten Vorgehen der Demokraten auch durchaus erreichbar. Zweitens stünden auch die Demokraten auf dem Standpunkt, daß nur die jetzt bestehende Koalition weiterhin lebensfähig sei; die große Koaltion sei nicht lebensfähig, da die Sozialdemokraten nicht mitmachten. Ebenso sei wohl eine Koalition mit den Rechten nicht möglich. Es müsse also nur ein Weg gesucht werden, der den Regierungsparteien die jetzige Koalition erhalte. Alle nach dieser Richtung hin bestehenden Bedenken könnten „durch gewisse personelle Änderungen mit Leichtigkeit ausgeräumt werden“.

Abgeordneter Scholz bezeichnete die Schlußfolgerung des Abgeordneten Erkelenz für falsch. Wenn bei einer so wichtigen Frage eine Fraktion sich von den übrigen Regierungsparteien trenne, dann sei eben eine Koalitionskrise da. So sehr auch er der Meinung sei, daß gerade die gegenwärtige Koalition unter allen Umständen erhalten bleiben müsse, sehe er nicht, wie anläßlich der anbrechenden Koalitionskrise die gegenwärtige Koalition aufrechterhalten bleiben könne. Außerdem komme nach seiner festen Überzeugung eine Reichspräsidentenkrise dazu. Bei dem dann zweifellos eintretenden Chaos werde sich der ganze Groll und Haß des Volkes, soweit es überhaupt vernünftig und staatserhaltend denke, auf den Reichstag abladen. Falls es dahin komme, müsse er jedenfalls in aller Loyalität und Offenheit bereits jetzt betonen, daß seine politischen[1354] Freunde mit aller Energie das Volk dahin aufzuklären suchen würden, daß an diesem Chaos allein die Demokraten die Schuldigen seien.

Abgeordneter Koch bemerkt, daß seine Partei solche Folgen durchaus ertragen könne. Abgesehen davon komme es gegenwärtig aber auf größere Dinge an. Die gegenwärtige Krise lasse sich eben nicht beenden wie das Hornberger Schießen. Der kommende Kompromiß könne bei der gegenwärtigen Sachlage eben nur auf Kosten von „Schwarz-Rot-Gold“ geschlossen werden, und das sei für seine Partei untragbar. Seine eigene Autorität als Fraktionsführer wäre völlig erschüttert, und zwar beginnend mit der Regierungsbildung. Selbst wenn die Demokraten und das Zentrum ihre Bedenken zurückstellen würden, so sei die gegenwärtige Regierung auch schon aus anderen Gründen erledigt. Das gegenwärtige Kabinett werde bei der Fülle der Konfliktstoffe ohnehin in einigen Wochen scheitern müssen; es bliebe eben ein Kabinett, das nur von der Gnade der Deutschnationalen abhänge.

Der Reichskanzler wandte sich gegen die Auffassung des Abgeordneten Koch, als wenn sich das Verhalten der Reichsregierung als ein besonderer Vorstoß gegen die Demokraten darstelle. Er habe volles Verständnis dafür, wenn die Regierungsparteien sich über Maßnahmen der Reichsregierung beschwerten, wenn er auch diese Kritik sachlich für falsch halte. Kein Verständnis habe er aber dafür, wenn die Sache jetzt so dargestellt werden soll, als wenn in der Haltung der Regierung ein besonderer Vorstoß gegen die Demokraten enthalten sei. Hiergegen müsse er sich mit allem Nachdruck verwahren.

Abgeordneter Koch bemerkte in diesem Zusammenhang, daß seine Ausführungen nur den Sinn gehabt hätten, daß die Maßnahmen der Reichsregierung, wenn auch vielleicht nicht beabsichtigt, so aber tatsächlich ihre stärkste Spitze gegen die Demokraten gehabt hätten.

Abgeordneter Stegerwald beleuchtete das Problem unter außenpolitischen Gesichtspunkten. Wolle man Locarno und Genf oder wolle man es nicht? Jede andere Koalition als gerade die gegenwärtige müsse unbedingt im Ausland den Eindruck hervorrufen, als sei Deutschland zwiespältig und unzuverlässig. Zu dieser zweifellos kommenden Koalitionskrise komme aber auch nach seiner Meinung noch die Präsidentenkrise, da es sich eben um Fragen der Zuständigkeit des Herrn Reichspräsidenten handele und außerdem der Herr Reichspräsident durch den vorliegenden Brief persönlich stark engagiert sei. Für eine Koalitions-, Staats- und Präsidentenkrise sei aber der Anlaß zweifellos viel zu klein, als daß er verantwortet werden könne. Dafür, daß die gegenwärtige Koalition nach den Wünschen der Demokraten mit einigen Personalveränderungen aufrechterhalten werden könne, sehe er gegenwärtig keinen Weg.

Abgeordneter Leicht stimmt vorstehenden Ausführungen des Abgeordneten Stegerwald durchaus zu und ist gleichfalls der Meinung, daß im Falle der Beteiligung der Demokraten an dem sozialdemokratischen Mißtrauensvotum die Koalitionskrise da sei. Abgeordneter Koch macht hierzu die Zwischenbemerkung: „Diese Folgen wollen wir ja gerade vermeiden durch vorherige Klärung der personellen Fragen.“

Abgeordneter Scholz sieht zur Vermeidung des drohenden Auseinanderfallens der Regierungsparteien bei der für morgen bevorstehenden Abstimmung[1355] keinen Weg. Wenn Zentrum und Demokraten es schon für erforderlich hielten, in einer gesonderten Erklärung sich kritisch zu dem Verhalten der Reichsregierung zu äußern, so sei allein schon die Tatsache unerwünscht; jedenfalls mache die Deutsche Volkspartei einen solchen Schritt nicht mit. Immerhin schlage er vor, sich darüber zu unterhalten, wie eine solche kritische Erklärung der Demokraten und des Zentrums gefaßt werde. Er könne sich denken: eine in der Form scharfe Erklärung, die aber nicht ausdrücklich mit einem Tadel oder einer Mißbilligung ende und für Regierung und Koalition eben noch tragbar sei.

Der Reichskanzler trat dem bei und bemerkte, auch ihm erscheine eine solche Erklärung, wenn sie keinen Tadel oder eine Mißbilligung enthalte, wohl noch als tragbar.

Abgeordneter von Guérard berichtete, daß das Zentrum, ohne daß allerdings ein dahingehender Fraktionsbeschluß bereits vorliege, beabsichtige, einen Antrag im Reichstag etwa dahin zu stellen, daß das Verhalten der Reichsregierung nicht der Auffassung des Reichstags entspreche12. Bei dieser Formulierung sei nach seiner Meinung ein Anlaß der Regierung für den Rücktritt nicht gegeben; um so mehr, als seine Partei ja gleichzeitig gegen den vorliegenden Mißtrauensantrag der Sozialdemokraten stimmen werde.

12

Vgl. Anm. 12 zu Dok. Nr. 361.

Die Abgeordneten Koch und Erkelenz betonen, daß es nach ihrer Meinung nicht möglich sei, die Demokratische Fraktion auf die von Herrn von Guérard bezeichnete Linie zu bringen. Die Fassung der Erklärung sei zweite Sorge. Erste Sorge sei die Frage, was jetzt sofort, und zwar auf personellem Gebiet geschehen müsse, um das verlorene Vertrauen zur gegenwärtigen Regierung wiederherzustellen.

Abgeordneter Stegerwald: Auch ihm scheine die Krise durch eine Erklärung im Sinne der Ausführungen des Herrn von Guérard lösbar. Es sei eben das Los von Minderheitsregierungen, daß sie sich gewisse Dinge gefallen lassen müssen. Ebenso habe ja auch in England vor einigen Jahren MacDonald bei Schaffung seiner Minderheitsregierung erklärt, daß seine Regierung als eine Minderheitsregierung sich nur durch ausdrückliche Mißtrauensvoten stürzen lasse13.

13

Zur Regierungserklärung Ramsay MacDonalds vom 12.2.24 s. Schultheß 1924, S. 165.

Abgeordneter Scholz trat dem bei und betonte insbesondere, daß sich die Auffassung der Demokraten doch vermutlich nicht völlig mit der der Sozialdemokratie decke, da doch die Demokraten nach ihren eigenen Erklärungen an der gegenwärtigen Koalition festzuhalten gedächten, im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die doch in schroffer Opposition gegen die gegenwärtige Regierung stünde. Daher sei es nach seiner Ansicht logisch, wenn auch die Demokraten sich an dem Mißtrauensvotum der Sozialdemokratie nicht beteiligten, sondern ebenfalls einen besonderen Antrag einbrächten, der vielleicht noch eine Nuance schärfer sein könne als der Zentrumsantrag. Es sei eben nur erforderlich, daß dieser etwaige demokratische Antrag nicht mit einem Mißtrauensvotum im Sinne der Reichsverfassung ende.

[1356] Gegenüber diesen Ausführungen faßte Abgeordneter Erkelenz die Stellungnahme der Demokraten erneut dahin zusammen:

Die Demokraten wünschten dringend den Herrn Reichspräsidenten aus der Schußlinie zu halten und akzeptierten daher Verordnung und Brief; sie wünschten ferner das Verbleiben der gegenwärtigen Regierung; in den vorherigen Ausführungen der anderen Parteiführer könne er nur taktische Manöver erblicken, die den Demokraten die Erledigung nicht möglich machten. Die Demokratische Fraktion erblicke eben die Lösung nur in Personalveränderungen im gegenwärtigen Reichskabinett.

Nachdem Übereinstimmung dahin erzielt war, daß in der gegenwärtigen Besprechung ein Übereinkommen nicht zu erzielen sei, schloß der Herr Reichskanzler 1 Uhr 5 nachmittags die Besprechung mit der Mitteilung, daß er für 1 Uhr 20 einen Ministerrat zusammenberufen werde.

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