1.54.1 (lut2p): [All. Rheinlandnote vom 14. 11., Besatzungsregime, Eintritt in den Völkerbund, Entwaffnungsfrage]

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[All. Rheinlandnote vom 14. 11., Besatzungsregime, Eintritt in den Völkerbund, Entwaffnungsfrage]

Der Herr Reichspräsident eröffnet die Sitzung 11.30 Uhr und führt aus: Wehmütige Betrachtungen darüber anzustellen, daß aus den Vorverhandlungen von Locarno Verhandlungen geworden sind, hat keinen Zweck. Wir müssen sehen, wie wir die Verhandlungen weiterbringen. Die Botschafternote ist nunmehr, datiert vom 14. November, eingetroffen1, und wir müssen sehen, welchen Nutzen wir jetzt aus der Sache ziehen können und wie wir weiterkommen können. Wie ich vorweg persönlich bemerken möchte, scheint mir die Hauptsache zu sein, daß unsere Auslegungen der Abmachungen von den Gegnern anerkannt werden, und daß die Gegenseite sich noch präziser, als es in dieser[856] Note geschehen ist, äußert. Ich bitte nun den Herrn Außenminister, zunächst die neue Note vorzutragen und zu erklären.

1

Die Note wurde Botschafter v. Hoesch in frz. Fassung – unterzeichnet allerdings nur von Berthelot – bereits am 14. 11. in Paris übergeben. In dem Telegramm, mit dem Hoesch den Text der Note unter dem gleichen Datum an das AA übermittelte, heißt es: Es handele sich um eine authentische Kopie, die endgültige Fassung mit der Unterschrift Briands werde alsbald nachfolgen (R 43 I /428 , Bl. 299-303). Ein Exemplar dieser letzten Fassung in R 43 I nicht ermittelt.

In der Note werden folgende Erleichterungen für das besetzte Gebiet zugesichert: 1) Wiederzulassung eines Reichskommissars. 2) Erlaß einer Amnestie durch die Rheinlandkommission. Dies geschehe in der Annahme, „daß auch das Reich ausreichende Zusicherungen hinsichtlich der Behandlung der mit den Besatzungsarmeen in Verbindung stehenden Personen geben wird“. 3) Verminderung der Besatzungstruppen auf „annähernd normale Stärke“ (im frz. Text: „chiffres normaux“). Diese Maßnahme werde zur Folge haben, „daß ein Teil der öffentlichen Gebäude, Wohnungen und Grundstücke […] den Behörden und der Bevölkerung zurückgegeben werden kann“. 4) Beseitigung des Delegiertensystems. „Es werden Anordnungen getroffen werden, um auf die deutsche Gerichtsbarkeit bestimmte Gruppen von Fällen zu übertragen, die gegenwärtig zur Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit gehören.“ 5) Revision des Ordonnanzenwesens. „Die an der Besetzung beteiligten Regierungen bekunden auf diese Weise den Wunsch, im Rheinland eine sehr liberale Politik zur Anwendung zu bringen.“ – Die Note ist gedr. in: Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1350; ferner in: Schultheß 1925, S. 411 f.

Reichsminister Dr. Stresemann trägt den Wortlaut der Note der Botschafterkonferenz Nr. 254 vom 14. November 1925 vor und führt dazu aus:

Es sind drei Punkte bezüglich der Erleichterungen des Besatzungsregimes zu unterscheiden, die von vornherein gleich nach unserer Rückkehr aus Locarno Gegenstand der Verhandlungen unserer diplomatischen Vertreter mit den fremden Mächten waren:

erstens Verminderung der Truppen,

zweitens Aufhebung der Ordonnanzen,

drittens Beseitigung des Delegiertensystems.

Für die Änderung der Verhältnisse im Rheinland ist der letzte Punkt m. E. der wichtigste; die persönliche Unfreiheit der Bevölkerung hängt mit der Tätigkeit der Delegierten zusammen; die Delegierten überwachen die Presse, sprechen Zeitungsverbote aus, sie überwachen die Bevölkerung und weisen die Bürger aus, sie nehmen die Denunziationen entgegen und verfolgen dann einzelne Personen, sie waren auch die Stützen des Separatismus. Was wir an Ausbrüchen der Verzweiflung der Bevölkerung erlebt haben, ist auf das Konto der Delegierten zu setzen. Rheinländer, mit denen ich sprach, haben die Beseitigung des Delegiertensystems für wichtiger als die Truppenverminderung erklärt. Dieser Fremdkörper soll nun aus den Rheinlanden entfernt werden. – Der zweite Punkt, auch in Locarno schon vorbesprochen2, ist die Frage der Herabsetzung der Truppenzahl. Als die Räumung der ersten Zone in Frage kam, stand daneben die Sorge, daß die durch die Räumung freiwerdenden Truppen in das Restgebiet verlegt würden und so die Gesamtbesatzung die gleiche bliebe. Wir haben schon in Locarno darauf hingewiesen, daß die deutschen Garnisonen im Rheinland insgesamt nur etwa die Hälfte der Stärke der jetzigen fremden Besatzung hatten. Marschall Foch hat dann seiner Regierung die Stärke von 72 000 Mann als Mindestmaß bezeichnet, das hätte gegen jetzt eine Verminderung von 23 000 Mann bedeutet. Dann sprach Briand von einer Verminderung der Truppenzahl auf 60 000 Mann, und jetzt ist in der Note die Rede einmal von einer „erheblichen Herabsetzung der Besatzungstruppen“ und dann von einer Herabsetzung auf „annähernd normale Stärkeziffern“. Botschafter von Hoesch hat in einer Unterredung mit Berthelot dies dahin ausgelegt, daß damit die deutsche normale Friedensstärke im Rheinland gemeint sei; man hat ihm gesagt, daß er diese Kommentierung abgeben könne, ohne daß französischerseits ein Dementi erfolgen werde3. Das würde also eine Verminderung von 40–45 000 Mann bedeuten. Der Belgische Gesandte4 hier hat ohne offiziellen[857] Auftrag mit mir über diese Erleichterungen im Rheinland gesprochen und unter dem 9. November mir auch schriftlich seine Auffassung und Stenogramme mitgeteilt; er hat hier ausführlich zugesagt:

2

S. dazu Anm. 1 zu Dok. Nr. 184.

3

Über diese Unterredung, die am 13.11.<in der Druckfassung: 13.10.; Anm. der Online-Edition> stattgefunden hatte, Hoesch in einem telegrafischen Bericht gleichen Datums: Er habe Berthelot, „ohne daß dieser widersprach, erklärt, daß die Deutsche Regierung die ‚chiffres normaux‘ interpretieren würde als die Zahl der vor dem Kriege von Deutschland in den fraglichen Gebieten unterhaltenen Truppen“ (R 43 I /428 , Bl. 291-294). Zur dt. Friedensstärke im Rheinland s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 170.

4

Robert Everts.

Freigabe der Schulen, der Sportplätze und der Wohnungen, die nicht unbedingt für die Truppen in Anspruch genommen werden5;

5

Eine ausführliche Wiedergabe dieser Unterredung mit Everts in: Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 227 f.

hiernach können wir damit rechnen, daß sie im wesentlichen auskommen mit den Kasernen, die ihnen deutscherseits zur Verfügung standen, so daß eine wesentliche Erleichterung für die Bevölkerung sich ergeben wird. – Die dritte Folge ist die der Aufhebung der Ordonnanzen. Es ist uns mitgeteilt worden, daß von den 307 Ordonnanzen nur 30 bis 40 aufrechterhalten werden sollen. Damit fallen: das Veto gegen Ernennung deutscher Beamten, die Ausweisungsbefugnis, die Eingriffe in Verhandlungs-, Vereins- und Pressefreiheit und alle anderen Knebelungsmaßnahmen für die Bevölkerung. Die Streichung der großen Zahl von Ordonnanzen zeigt, daß man künftig von Schikanen absehen will. Aufgabe des Rheinlandkommissars ist es, hier weiter abzubauen. Tirard wird wohl nicht mehr lange im Amt bleiben. – Die weiteren Bestimmungen beziehen sich auf Amnestiemaßnahmen, wobei auch von uns eine Gegenerklärung erwartet wird6, ferner Abänderung der Militärgerichtsbarkeit, wobei noch nicht im einzelnen bestimmt ist, welche Fälle künftig noch der französischen Gerichtsbarkeit unterstellt bleiben sollen.

6

Über Inhalt und Form dieser dt. Gegenerklärung verhandelt vom 7.–10. 12. eine Delegation der RReg. mit Vertretern der Besatzungsmächte in Koblenz. S. dazu Dok. Nr. 251.

Wir hatten nun in Locarno schon erklärt, daß die Fortdauer der noch zehnjährigen Besetzung bei dem neuen System von Locarno keinen Sinn mehr hätte7. Die Gegenseite hat hierzu erklärt, daß sie sich jetzt in bindender Form hierüber noch nicht äußern könne. Briand hat aber zugesagt, daß er in seiner Rede vor der französischen Kammer eine Andeutung zu machen beabsichtige dahin, daß bei gutem Funktionieren der neuen Verträge bezüglich der Fristen weitere Konsequenzen zu erwarten seien. In dieser Beziehung müssen wir die Erklärung Briands und wohl auch eine Erklärung Chamberlains abwarten8.

7

Vgl. Dok. Nr. 195 b.

8

Eine derartige Erklärung wird weder durch Briand, der in der frz. Kammer erstmals am 26.2.26 über Locarno berichtet (s. Anm. 16 zu Dok. Nr. 210), noch durch Chamberlain abgegeben. Letzterer geht in einer langen Locarno-Rede vor dem Unterhaus am 18. 11. kurz auf die Rheinlandfragen ein: „Die ganze Verwaltung des Teils des Rheinlandes, der besetzt bleibt, ist überprüft worden in der Absicht, den Charakter der Besetzung zu ändern.“ Und an anderer Stelle: „Dementsprechend werden wir nicht nur die Gegenwart eines Reichskommissars zur Besprechung der einzelnen Punkte begrüßen, wir werden vielmehr die ganze Verwaltung überprüfen in der Absicht, unsere Einmischung in das deutsche Leben und die deutsche Verwaltung auf die engsten Grenzen dessen herabzusetzen, was mit der Sicherheit der zurückbleibenden Truppen vereinbar ist.“ (Mantler-Bericht aus London vom 18. 11. in R 43 I /428 , Bl. 115-135, hier: Bl. 126).

Im Zusammenhang mit den „Rückwirkungen“ steht die Regelung der Entwaffnungsfrage. Es kann uns nur erwünscht sein, daß man seitens der Alliierten bei dieser Gelegenheit auch die hier noch bestehenden Streitpunkte von Regierung zu Regierung regelt, statt sie den militärischen Organen zu überlassen.[858] Die Verhandlung der Botschafterkonferenz hierüber ist erst heute nachmittag und der abschließende Bericht erst am späten Abend zu erwarten. Auch hier ist zu erwarten, daß es in der meistumstrittenen Frage, der Kasernierung der Schupo, zu einer Einigung kommt auf der Grundlage, daß uns die Kasernierung von 32 000 Mann ausschließlich 4000 Mann Polizeischüler gestattet ist. Auch die übrigen Fragen, insbesondere die des Chefs der Heeresleitung, der Ausbildung der Armee und der nationalen Verbände befinden sich auf dem Wege der Einigung9. Aber selbst wenn die eine oder die andere Frage übrigbleibt, so bleibt die Entscheidung über die Räumung der ersten Rheinlandzone und über das Rheinlandregime unberührt. Die Räumung soll auf jeden Fall am 1. Dezember beginnen10, der Kampf um den Endtermin geht noch weiter. Die Räumung wird insgesamt aber in der zweiten Januarhälfte durchgeführt sein.

9

Zum Ergebnis dieser Verhandlungen und zur all. Entwaffnungsnote vom 16. 11. s. Dok. Nr. 226, dort bes. Anm. 1.

10

Dieser Räumungstermin war dem dt. Botschafter in Paris am 14. 11. vom Generalsekretär der Botschafterkonferenz Massigli in einer mündlichen Erklärung mitgeteilt worden. Massigli hatte noch hinzugefügt, die Botschafterkonferenz werde diesen Beschluß sowie die herbeigeführten grundsätzlichen Vereinbarungen zur Entwaffnungsfrage am 16. 11. in einer Note bestätigen, die außerdem eine Mitteilung über den Zeitpunkt enthalten werde, bis zu dem die Räumung der Kölner Zone abgeschlossen sein könne (Telegramm Hoesch an AA vom 14. 11. in R 43 I /428 , Bl. 299-303).

Mit der nun vorliegenden Lösung ist der Plan Poincarés, am Rhein stehenzubleiben, erledigt, und die Theorie, daß die Fristen der Räumung noch nicht zu laufen begonnen hätten11, – eine Theorie, die auch Herriot noch wiederholt hat12 – beseitigt. Das ist wohl das wichtigste Moment. Die Bedeutung der Erleichterungen für die zweite und dritte Zone liegt darin, daß sie der Anfang späterer endgültiger Räumung ist. Nach Mitteilung aus dem Saargebiet ziehen sich auch dort die Franzosen aus der Wirtschaft zurück, und darin liegt auch das Anzeichen des politischen Rückzugs. Jedenfalls sind die Hauptwünsche der rheinischen Bevölkerung auf Abänderung des Besatzungsregimes erfüllt. Hier weiter abzubauen, ist künftige Aufgabe des Rheinlandkommissars.

11

Poincaré hatte diesen Standpunkt u. a. in der Kammerdebatte am 23.11.23 vertreten. S. Schultheß 1923, S. 320.

12

Auf eine derartige Äußerung Herriots wies der Abg. Marin in der frz. Kammer am 29.12.24 hin, indem er sagte: „Herriot habe selbst erklärt, daß bei der Feststellung einer allgemeinen Nichterfüllung durch Deutschland die Räumungsfristen noch nicht zu laufen begonnen hätten, und zwar auf Grund des Friedensvertrages.“ S. Schultheß 1924, S. 257.

Der Reichskanzler Die Dinge sind m. E. nun zur Entscheidung reif, und wir müssen uns über Ja oder Nein schlüssig machen. Ich halte es für richtig, daß wir schon heute zu einem abschließenden Ergebnis kommen, weil morgen die Note veröffentlicht werden soll und in diesem Moment die Regierung die Führung in der Hand haben muß. Wenn wir auch noch die Länder hören13 und uns verfassungsmäßig die Zustimmung des Reichstags einholen müssen, so kann es doch schon Ziel der heutigen Sitzung sein, den Beschluß zu fassen, eine Vorlage dem Reichstag zu unterbreiten mit dem Inhalt: Zustimmung zu Locarno und Ermächtigung der Reichsregierung zum Eintritt in den Völkerbund.

13

S. die Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 19. 11. (Dok. Nr. 228).

[859] Es ist ja auch denkbar, daß die Reichsregierung am 1. Dezember in London unterzeichnet ohne die Zustimmung des Reichstags, aber ich bin der Meinung, daß wir als Regierung am 1. Dezember mit absoluter Vollmacht des Reichstags handeln sollten.

Wenn wir zu einem Entschluß kommen wollen, müssen wir uns Rechenschaft über das jetzt Erreichte ablegen. Es ist die Frage aufgetaucht, ob Nutznießer des Vertrags von Locarno nicht die Gegenseite ist. Ich beantworte die Frage dahin, daß beide Teile Nutznießer sind, und so muß es auch sein, wenn der Vertrag eine weitere Entwicklung haben soll. Am erheblichsten ist m. E. der Nutzen Englands, das von seiner Verbindung mit den Alliierten nun frei wird; die letzte Note kennt das Wort „Alliierte“ schon nicht mehr. Das ist ein Vorgang, der sich unter der bisherigen Entente abgewickelt hat, aber doch für uns von Bedeutung ist. Nicht ganz zufrieden in England ist man damit, daß England nun auch in die Ostfragen hereingekommen ist. Frankreichs Nutzen liegt darin, daß es in geregelte Wirtschaftsverhältnisse kommt, insbesondere in eine bessere finanzielle Verbindung mit Amerika. Ich habe persönlich den bestimmten Eindruck, daß in der Mehrheit der französischen Bevölkerung sich eine Abneigung gegen die Fortsetzung der Kriegspolitik geltend macht. Was nun uns anlangt, so sehe ich den Nutzen einmal in demselben Umstand, der für Frankreich gilt, nämlich der Besserung der wirtschaftlichen Lage, dann aber darin, daß wir durch die neuen Abmachungen den Vertrag von Versailles tatsächlich untergraben. Es sind hier nach verschiedenen Richtungen erhebliche Fortschritte gemacht, am deutlichsten durch die Einsetzung der Schiedsgerichte. Der Wunsch nach Aufhebung des Vertrags von Versailles wird noch lange im Reich der Wünsche bleiben; der Form nach wird dieser Vertrag noch lange nicht beseitigt werden können, wir werden immer nur erreichen können, daß er weiter unterhöhlt wird, und diese Unterhöhlung macht erhebliche Fortschritte durch den Vertrag von Locarno. Ich habe mich auch oft gefragt, ob das Sinken des Francs und des Zloty uns nicht doch Anlaß geben sollte zum Hinauszögern, bis die Gegenseite noch reifer wird. Ich habe schließlich aber diesen Gedanken verneint, weil das fortdauernde Sinken dieser Währungen für uns wirtschaftlich eine große Gefahr bedeutet dahin, daß der Wettbewerb Frankreichs usw. auf dem Weltmarkt größer und bedrohlicher würde. Außerdem vollzieht sich Frankreichs Weg zur Goldwährung schneller als bei uns, und ich kann daher nicht mit Sicherheit annehmen, daß wir nach einem gewissen Zeitraum günstiger daständen als jetzt, namentlich da die Weltmeinung sich beim Scheitern Locarnos gegen uns ausspräche, und diese Weltmeinung heißt amerikanisches Geld. Wir können also aus der gesamten politisch-wirtschaftlichen Lage der Welt nicht die Erwartung entnehmen, bei einem Hinauszögern später günstiger dazustehen.

Was nun die Rückwirkungen anbetrifft, so würde man sich gewiß freier fühlen, wenn wir noch mehr erreicht hätten. Es fehlt die Fixierung der Verkürzung der Räumungsfristen für die zweite und dritte Zone. Wir haben hiernach mit allen Mitteln gestrebt, es war aber für die jetzige Regierung Frankreichs nicht möglich, mehr zu tun als das, was Briand vorsichtig in Aussicht gestellt[860] hat14; ich möchte diese angekündigte Erklärung Briands auch noch gar nicht als aktiven Posten einsetzen. Aber wenn der Vertrag von Locarno nicht weitere Rückwirkungen als die jetzt tatsächlich mitgeteilten hätte, wäre sein Ausgangspunkt und Sinn falsch. Wir haben mit diesem Vertrag von Locarno die Schienen gelegt, auf denen wir in unermüdlicher Arbeit die Unterhöhlung des Versailler Vertrags fortsetzen werden. Hierfür ist eine lange Periode unendlich mühsamer Arbeit, der auch Rückschläge nicht fehlen werden, vorauszusehen. Vom Saargebiet ist leider gar nichts gesagt; tatsächlich hängt aber das Schicksal des Saargebiets mit dem des besetzten Gebiets untrennbar zusammen; erreichen wir die Räumung der zweiten und dritten Zone, so kommt auch die vorzeitige Abstimmung im Saargebiet; unser Eintritt in den Völkerbund wird auch für das Saargebiet Vorteile bringen. – Dann fehlt die Regelung der Luftfahrt15. Wir haben den Botschafter von Hoesch schon beauftragt, auch hier noch vor dem 1. Dezember aktiv vorzugehen. – Dann fehlt schließlich noch eines: die juristische Vertragsform über die Abmachungen; sie zu erreichen war leider nicht möglich; von Hoesch, der in unermüdlicher und sehr geschickter Arbeit das menschenmögliche getan hat, hat uns klar erklärt, daß wir nun an der Grenze des Erreichbaren angekommen wären. Ich bin auch überzeugt, daß die in der Botschafternote abgegebene politische Erklärung eine zuverlässige Grundlage gäbe, auf der sich alles Weitere ordnungsmäßig vollziehen wird. – Der Rheinlandkommissar wird das politische Gegengewicht gegen die Interalliierte Rheinlandkommission und ihre Organe sein. Die Ernennung des Rheinlandkommissars mußte möglichst schnell vollzogen werden. Ich konnte das Kabinett nicht erst fragen und bitte nun nachträglich um Zustimmung16. – Weiter hätte ich gewünscht, daß die Herabsetzung der Besatzungsstärke mit klaren Ziffern erfolgt wäre. Hier hat die französische Generalität der Absicht Briands auf Herabsetzung Schwierigkeiten bereitet, und ich möchte es noch nicht als feststehend ansehen, daß wir auf eine Stärke von 45 000 Mann herabkommen. Als sicher bezeichne ich aber, daß wir in absehbarer Zeit auf 60 000 Mann herunterkommen. Jedenfalls ist es zur Zeit nicht möglich, eine zahlenmäßige Stärkenfestsetzung zu erreichen.

14

Briand hatte am 11. 11. gegenüber v. Hoesch erklärt: Er könne eine bestimmte Zusicherung im Augenblick nicht geben, weil dadurch das Maß des für die frz. Öffentlichkeit gegenwärtig Erträglichen überschritten würde. Er wolle aber ernsthaft prüfen, in welcher Form eine diesbez. Erklärung späterhin möglich sei. Hoesch bemerkt in seinem Bericht gleichen Datums abschließend: „Ich hatte das Gefühl, daß Briand in dieser Frage nicht mehr gedrängt, sondern eigene Initiative behalten möchte, und widerrate dementsprechend, Thema nochmals durch mich vorbringen“ zu lassen (R 43 I /428 , Bl. 273-276).

15

Zur Erörterung der Luftfahrtfrage im Kabinett s. Dok. Nr. 219, P. 4, dort auch Anm. 9.

16

Der neuernannte Reichskommissar für die besetzten rheinischen Gebiete, Freiherr Langwerth v. Simmern, erhielt auf dt. Ersuchen am 6. 11. das Agrément der Botschafterkonferenz (s. ADAP, Serie B, Bd. I, 1, S. 3, Anm. 5). Er wurde am 12. 11. in Begleitung v. Hoeschs von Briand empfangen (Telegramm Hoesch an AA vom 12. 11. in R 43 I /428 , Bl. 284-286) und tritt Ende Dezember 1925 sein Amt in Koblenz an. Einiges Material dazu auch in R 43 I /195 .

Den Wegfall des Delegiertensystems halte ich für das politisch Bedeutsamste des Erreichten, er bedeutet die Beseitigung der politischen französischen Staatsgewalt auf deutschem Gebiet. – Bezüglich der Räumung der Kölner Zone[861] sind wir immer noch nicht im Besitz einer amtlichen Note, wir erwarten sie aber für heute abend17. Gelingt es uns, die Entwaffnungsfrage jetzt zu regeln, so ist das für uns ein Plus, bleiben hier noch Reste, so wird jedenfalls die Räumung dadurch nicht beeinflußt.

17

S. dazu Anm. 1 zu Dok. Nr. 226.

Reichsminister Dr. Geßler: Heute endgültig zu entscheiden, würde mir schwerfallen, trotzdem ich dem Reichskanzler grundsätzlich zustimme. Ich würde gern die endgültige Regelung der Entwaffnungsfrage abwarten. Meine persönliche Einstellung zu dem Vertrag von Locarno ist die: Wir verzichten auf nichts, rein gar nichts; daher sehe ich in dem Vertrag von Locarno kein Opfer. Ich sehe vielmehr den überwiegenden Nutzen in dem Vertrag von Locarno auf unserer Seite, nämlich dahin, daß in diesem Vertrag die französische Nachkriegspolitik erledigt wird. Es ist viel über den Verzicht Deutschlands auf Krieg gesprochen worden. Zu Unrecht. Wir sind in der Lage eines Mannes, dem beide Beine abgefahren sind und der nun im Lazarett liegt und erklärt, in diesen Karneval gehe ich nicht tanzen. Man kann nicht behaupten, daß wir durch unseren Eintritt in den Völkerbund den Vertrag von Versailles nochmals anerkennen. Durch unser Memorandum18, durch den Widerruf der Schuldlüge19 und durch unser ganzes Verhalten bringen wir das Gegenteil zum Ausdruck. Freilich die Voraussetzung, Nutznießer der Weltpolitik zu werden, müssen wir erst im deutschen Volke durch Aufklärung und Erziehung schaffen. Das Wesentliche, was wir erreichen konnten, ist erreicht, nämlich der sichtbare Abbau der Besatzung und der Wegfall der Delegierten. Die psychologische Wirkung dieser beiden Umstände wird in der rheinischen Bevölkerung nachhaltig wahrnehmbar sein. Die endgültige Entscheidung möchte ich bis nach Vorlage der Entwaffnungsnote zurückstellen, auch aus psychologischen Gründen, um den Eindruck zu vermeiden, daß wir mit dem Erreichten zufrieden wären.

18

Dt. Sicherheitsmemorandum vom 9.2.25. S. Anm. 6 zu Dok. Nr. 43.

19

Gemeint ist das dt. Memorandum zur Kriegsschuld- und Räumungsfrage vom 26.9.25. S. Anm. 1 zu Dok. Nr. 159 und Anm. 1 zu Dok. Nr. 164.

Reichsminister Dr. Stingl: Es ist zweifellos, daß die Erwartungen in der Bevölkerung größer waren als das jetzt Erreichte. Daher wird auch Aufklärung der Öffentlichkeit notwendig sein. Ich selbst beurteile den Wert der Abmachungen ebenso wie der Reichskanzler. Die Herabsetzung der Besatzung ist eine große Erleichterung für die Bevölkerung, ebenso ist der Wegfall der Delegierten und der schikanösen Ordonnanzen von größter politischer Bedeutung. Es wäre unmöglich, das jetzt Erreichte der rheinischen Bevölkerung vorzuenthalten. Auch glaube ich, daß die Weiterarbeit auf diesem Wege erfolgreich vor sich gehen wird und weitere Abschlagszahlungen in Zukunft nachfolgen werden. Entscheidenden Wert lege ich auf den Umstand, daß der Vertrag Locarnos eine starke Unterhöhlung des Versailler Vertrags darstellt, die in der Zukunft weiter fortgesetzt werden kann.

Reichsminister Graf Kanitz: Bei unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen Krisis bin ich der Ansicht, daß nicht die außenpolitische, sondern die innerpolitische[862] Seite der Abmachungen von Locarno im Vordergrund steht. Solange wir wirtschaftlich noch nicht gefestigt sind, müssen wir von Station zu Station uns durchlavieren und können wir keine günstigeren Verträge erlangen. Die Botschafternote ist wenig befriedigend, aber es ist das kleinere Übel, Locarno anzunehmen, statt es abzulehnen oder zu verzögern. Locarno halte ich als zuverlässiges Mittel für die Gesundung Deutschlands für notwendig; es wäre grundfalsch, es abzulehnen; bei einer Ablehnung würden wir unsere Situation wirtschaftlich wesentlich verschlechtern und mit unserer Volkswirtschaft, besonders der Landwirtschaft, am Ende sein. Im übrigen teile ich die Meinung Geßlers und würde es begrüßen, wenn wir uns heute noch nicht endgültig entscheiden müßten. Gegen die Wahl des Freiherrn Langwerth von Simmern zum Reichskommissar habe ich persönliche Bedenken; ich glaube nicht, daß er die für diesen Posten erforderliche Energie besitzt.

Reichsminister Dr. Geßler: Die gleichen Bedenken gegen den Frhn. von Langwerth wollte auch ich äußern.

Reichsminister Dr. Krohne stimmt den Darlegungen des Reichskanzlers zu. Es ist doch eine ganze Masse nach Hause gebracht worden, und es ist zu erwarten, daß weitere Vorteile folgen. Ressortmäßig habe ich starke Sorgen wegen der noch immer bestehenden Beschränkung der Luftfahrt, gebe aber zu, daß man an dieser Frage das ganze Werk nicht scheitern lassen darf. Ich frage, ob man nicht so operieren könnte, daß zunächst in London gezeichnet würde und die Ratifikation durch den Reichstag später erfolgen könnte. Wegen des Reichskommissars teile ich die persönlichen Bedenken des Grafen Kanitz und Geßlers.

Der Reichskanzler Meines Erachtens hat Dr. Geßler in seinen Darlegungen recht, daß die französische Nachkriegspolitik nun eine Änderung erfährt; der Flut folgt jetzt die Ebbe. Gegenüber dem Grafen Kanitz bemerke ich, daß ich Locarno nicht für das „kleinere Übel“ halte, sondern für einen wirklichen Fortschritt auf dem langen, mühsamen Wege des Wiederaufbaus Deutschlands. Deshalb möchte ich auch das Wirtschaftliche nicht so stark unterstreichen wie Graf Kanitz; wir müssen die politische Seite positiv würdigen. Das Werk von Locarno ist eine sehr wesentliche Aushöhlung des Vertrags von Versailles, und schon deshalb müssen wir politisch positiv dazu stehen.

Reichsminister Dr. Stresemann (gegenüber den Bemerkungen des Reichsministers Krohne): Ich würde es politisch für falsch halten, erst zu unterzeichnen und dann die Ratifikation beim Reichstag nachzuholen. Bei unserer innerpolitischen Lage halte ich eine Unterzeichnung am 1. Dezember ohne Zustimmung des Reichstags für nicht möglich. Soweit ich unterrichtet bin, sind die Dinge nun auch bei den Linksparteien in ruhigerem Fahrwasser; man beabsichtigt nicht mehr, eine Auflösung des Reichstags oder eine Umbildung der Regierung zu erzwingen. Wenn wir nicht den Kampf um Locarno bald parlamentarisch zu Ende bringen, zerfleischen wir uns zu sehr. Ich glaube auch nicht, daß es möglich ist, weitere Leistungen von den Gegnern zu erzwingen. Im übrigen halte ich uns für berechtigt, die Worte „normale Besatzungsstärke“ zu kommentieren als „Friedensstärke der deutschen Garnisonen im Rheinland“. Ich bitte daher, dem Herrn Reichskanzler zuzustimmen, daß wir mit einer Vorlage an den Reichstag herantreten und morgen entsprechende Erklärungen in der[863] Öffentlichkeit abgeben. Den Botschafter Freiherrn Langwerth von Simmern halte ich für durchaus geeignet, seine Ernennung hat auch überall Zustimmung gefunden.

Reichswehrminister Dr. Geßler: Unser Ja darf weder mit Glockenklang noch mit dumpfer Resignation ausgesprochen werden, sondern muß nüchtern und sachlich erfolgen.

Der Reichskanzler stimmt dem Vorredner zu: Keine Begeisterung, aber auch keine Resignation, sondern positive Sachlichkeit ist am Platze. – Trotz gewisser Bedenken bin ich damit einverstanden, daß unsere Entscheidung auf morgen vertagt wird unter der Voraussetzung, daß wir morgen der Presse gleichzeitig ein ausführliches Kommuniqué, in dem auch die belgische Note in ihrem Inhalt enthalten ist, abgeben können. Ich möchte daher vorschlagen, daß wir heute abend nochmals zur Beratung des Kommuniqués zusammentreten20 und morgen früh 10 Uhr dann die endgültige Entschließung fassen21, wenn wir bis dahin im Besitz der Note über die Entwaffnung und Räumung der ersten Zone sind.

20

S. Dok. Nr. 224.

21

S. Dok. Nr. 226.

Der Herr Reichspräsident Ich finde, die Basis der Abmachungen ist eine sehr ungleiche; ungleich dahin, daß wir vollständig abgerüstet sind, die andern nicht; ferner darin, daß wir eine neutrale Zone einzuhalten verpflichtet sind, währenddem eine Neutralisierung Elsaß-Lothringens nicht als Gegengewicht entsteht. – Wir müssen sicherstellen, daß unsere Auslegung richtig ist, namentlich was die „chiffres normaux“22 anlangt, ebenso muß der Schluß der Räumung für die erste Zone festgelegt werden. Ferner müßte auch in irgendeiner Form festgelegt werden, daß die vorzeitige Räumung der zweiten und dritten Zone erfolgt. Das Kündigungsrecht gegenüber Sicherheitspakt23 und Völkerbund24 kann mich in keiner Weise befriedigen. Dann muß ausgeschlossen sein, daß Frankreich Garant von Polen ist. Auch müssen wir auf unser Verhältnis zu Rußland, das zwar keine standesgemäße Allianz ist, beim Artikel 16 und seiner Auslegung Rücksicht nehmen. Auch wegen des Wegfalls der Interalliierten Kontrollkommission fehlt uns eine Zusage. Jedenfalls bitte ich, heute noch nicht die Öffentlichkeit dahin zu unterrichten, daß wir einen zustimmenden Entschluß gefaßt haben. Den Botschafter von Langwerth von Simmern möchte ich auch in Schutz nehmen, allerdings kenne ich ihn nicht näher.

22

S. oben Anm. 1 u. 3.

23

Das Verfahren der Außerkraftsetzung des Sicherheitspakts ist geregelt durch Art. 8. Zum Text s. Anm. 3 zu Dok. Nr. 181.

24

Nach Art. 1 der Völkerbundssatzung kann ein Bundesmitglied erst nach zweijähriger Kündigung aus dem Bunde austreten, vorausgesetzt, daß es seine Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft bis dahin voll erfüllt hat.

Der Reichskanzler Betreffs der Auslegung der „chiffres normaux“ würde ich es in der gegenwärtigen Situation nicht für tunlich halten, eine bestimmte Zahl festzulegen; sie würde jedenfalls für uns höher und ungünstiger sein, als wenn wir abwarten. – Den Schlußzeitpunkt für die Räumung Kölns werden[864] wir morgen sicher haben25. Ich bin sicher, daß die Interalliierte Militärkontrollkommission vollständig verschwinden wird, höchstens wird sie noch die schwebenden Umgestaltungen überwachen können. – Über die Frage von Locarno ist m. E. inzwischen Klarheit gewonnen. Wenn es heißt, „der Versailler Vertrag wird nicht berührt“26, heißt das juristisch nicht, daß er erneut anerkannt oder bestätigt wird; er bleibt unberührt heißt: er bleibt in dem Zustande, wie er ist, ohne daß etwas hinzugetan wird. Von einem Verzicht auf Elsaß-Lothringen usw. kann juristisch gar keine Rede sein. Von der Gegenseite ist überhaupt noch keine amtliche Auslegung des Locarnovertrags erfolgt. Nur wir, Stresemann und ich, haben diesen Vertrag amtlich ausgelegt27, und wir haben in England und Frankreich keinerlei amtlichen Widerspruch gegen diese unsere Auslegung gehört. In unseren Reichstagsreden werden wir dies deutlich zum Ausdruck bringen28. – Bezüglich der Kriegsschuldlüge haben wir unseren Widerruf vor Locarno notifiziert und in Locarno mündlich dargelegt, daß wir unseren Standpunkt aufrechterhalten29, bei Gelegenheit des Eintritts in den Völkerbund werden wir in einer noch zu beschließenden Form gegenüber den Völkerbundsmitgliedern diese Erklärung zum Ausdruck bringen30.

25

S. dazu Anm. 1 zu Dok. Nr. 226.

26

Bestimmung des Art. 6 des Sicherheitspakts, welcher lautet: „Die Bestimmungen dieses Vertrages lassen die Rechte und Pflichten unberührt, die sich für die Hohen Vertragschließenden Teile aus dem Vertrag von Versailles sowie aus den ergänzenden Vereinbarungen, einschließlich der in London am 30. August 1924 unterzeichneten, ergeben.“

27

S. Dok. Nr. 215, dort bes. Anm. 2.

28

S. die Reden Luthers und Stresemanns in der Locarno-Debatte des RT am 23. und 24. 11. (RT-Bd. 388, S. 4475  ff. und 4530 ff.).

29

S. die Ausführungen Stresemanns in der Vollsitzung am 8. 10. (Dok. Nr. 179).

30

S. den Kabinettsbeschluß vom 8.2.26 (Dok. Nr. 284).

Bezüglich der Garantie Frankreichs für Polen bemerke ich, daß die Tatsache des französisch-polnischen Bündnisses31 besteht, einerlei, ob wir in den Völkerbund gehen oder nicht, daß aber dieser Bündnisvertrag durch Locarno in seiner Wirkung stark herabgemindert ist. – Was den Artikel 16 anlangt, so ist die von russischer Seite verbreitete Auslegung durchaus falsch, ein Recht zur Erzwingung des Durchmarsches ist in keiner Form gegeben32, höchstens ein Recht zur Erzwingung unseres Ausschlusses aus dem Völkerbund. Natürlich, wenn Frankreich auf der Machtgrundlage handeln will, kann es dies unter Umständen tun, aber hierbei spielt unser Eintritt in den Völkerbund keinerlei Rolle. – Was das Kündigungsrecht betrifft, so hängt die Kündigung de facto nur von der Machtfrage ab. Alle völkerrechtlichen Verträge sind zwar auf ewige Dauer geschlossen, aber immer ist stillschweigend vorbehalten die clausula rebus sic stantibus. Wenn wir bei den Verträgen auf einem Rechte baldiger Kündigung bestanden hätten, hätten wir von der Gegenseite keinerlei Rückwirkungen bekommen.

31

S. Anm. 4 zu Dok. Nr. 190.

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Zur sowj. Beurteilung des Locarno-Pakts s. die Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus für den RPräs. vom 7.11.25, gedr. in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 29; s. ferner die aus den Akten des Pol.Arch. des AA und des Bundesarchivs gearbeitete Darstellung bei Walsdorff, Westorientierung und Ostpolitik, S. 151 ff.

[865] Reichswehrminister Dr. Geßler macht darauf aufmerksam, daß nach Bismarcks Theorie „Kündigung“ ein Recht des Schwächeren ist, während der Stärkere den „Rücktritt wegen nicht erfolgter Gegenleistungen“ erklärt. Wir müssen wieder im Bismarckschen Geiste hier handeln lernen.

Der Herr Reichspräsident vertagt um 2.15 Uhr die Sitzung auf abends 9 Uhr.

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