1.62 (ma12p): Nr. 275 Der Reichskanzler an das Auswärtige Amt, das Reichskabinett und den Reichspräsidenten. London, 14. August 1924

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Text

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Nr. 275
Der Reichskanzler an das Auswärtige Amt, das Reichskabinett und den Reichspräsidenten. London, 14. August 1924

R 43 I /266 , Bl. 168, 170-173, 175, 180 Telegrammentwürfe1

1

Die folgenden Telegramme sind nach den Entwürfen in den „Handakten betr. Londoner Konferenz August 1924“ abgedruckt. Die Entwürfe der Telegramme Nr. 61, 62 und 63 sind von Kiep eigenhändig niedergeschrieben; die Entwürfe der Telegramme Nr. 59, 64 und 65 liegen maschinenschriftlich vor. Die Absendezeiten sind aus den Telegrammentzifferungen im Pol. Arch des AA übernommen.

[Berichterstattung über die Besprechungen in London am 14. 8. betr. Ruhrräumung]

Telegramm in geheimen Ziffern

London, 14.8.24 [ab 13.20 Uhr]

Auswärtig Berlin.

Nr. 59. Dringend, zugleich für Kempner Reichskanzlei.

MacDonald und Kellogg teilten Delegation soeben mit2, daß gestern abend von MacDonald in Aussicht gestellte Intervention ergebnislos verlaufen sei. Auch etappenweise Räumung wäre nicht zu erlangen gewesen. Herriot habe sich völlig außerstande erklärt, sich im Protokoll zu verpflichten, in weniger als[956] einem Jahre Ruhr usw. zu räumen. Räumungsfrist solle aber von Unterschrift hiesigen Protokolls an laufen, wodurch sie sich gegenüber Laufzeit nach Inkraftsetzen Gutachtens auf zehn Monate verkürze. Dies sei das einzige Entgegenkommen.

2

Vgl. Anhang, Dok. Nr. 7.

Beide raten in ziemlich ultimativer Form dringend, Herriotschen Vorschlag anzunehmen. Delegation trifft 12 Uhr 15 Minuten Franzosen und Belgier, um nochmals Kompromiß zu suchen. Aussichten hierfür sehr gering. Weitere Entscheidung will sich Delegation möglichst bis Freitag [15. 8.] vormittag vorbehalten. Weitere Mitteilung folgt.

Marx

Telegramm in geheimen Ziffern

London, 14.8.24 [ab 20 Uhr]

Auswärtig Berlin.

Nr. 61. Streng geheim. Dringend, zugleich für Kabinett und Herrn Reichspräsidenten.

Im Anschluß an Nr. 59 von heute.

Nachdem Zusammenkunft mit Franzosen und Belgiern heute mittag ergebnislos verlaufen3, suchte ich nachmittags Herriot auf, um in persönlicher, vertraulicher Aussprache Verständigung zu suchen4. Herriot wiederholte frühere Argumente und früheres persönliches Angebot, d. h. einjährige Räumungsfrist, beginnend von hiesiger Einigung, und Aussicht auf frühere Räumung bei günstiger Gestaltung der politischen Beziehungen beider Länder. Etappenweise Räumung bezeichnete er als mit seiner Formel unvereinbar: diese sei auf Vertrauen abgestellt, während terminmäßige Bestimmung einzelner Räumungen eben bedeute, daß kein Vertrauen bestehe und infolgedessen vertragsmäßige Festlegung erforderlich sei.

3

Vgl. Anhang, Dok. Nr. 7, Anm. 4.

4

Vgl. Anhang, Dok. Nr. 8.

Auf mein weiteres Drängen und wiederholten Hinweis auf psychologische Bedeutung baldiger sichtbarer Räumungsaktionen erklärte Herriot, daß er unter Siegel strengster Verschwiegenheit und nur zur Mitteilung an Delegierte von sich aus persönlich ein bestimmtes Zugeständnis machen wolle. Hierüber besonderes Telegramm nur für Staatssekretär und Reichspräsidenten.

Marx

Telegramm in geheimen Ziffern

London, 14.8.24 [ab 20.45 Uhr]

Auswärtig Berlin.

Nr. 62. Dringend und streng geheim, nur für Herrn Reichspräsidenten und Staatssekretär.

Im Anschluß an Nr. 61.

Herriots Angebot lautete: Wenn Deutsche Delegation Vertrauen zu ihm habe und mit einjähriger Maximalfrist in dem von ihm bezeichneten Sinne (vgl.[957] Nr. 55 von gestern5) einverstanden sei, dann werde er sich verpflichten, die Initiative zu ergreifen, die Stadt Dortmund sofort zu räumen. Die Räumung werde erfolgen einen Tag nach Annahme des Vertrauensvotums zu seinen Gunsten in der französischen Kammer, womit er bestimmt rechne, d. h. etwa vierzehn Tage nach Abschluß hiesiger Konferenz. Voraussetzung sei natürlich Zustimmung der Kammer, der er sicher zu sein glaube; Bekanntgabe der Räumungsabsicht werde jedoch sofort hier in London erfolgen im unmittelbaren Anschluß an Einigung über Herriotschen Vorschlag.

5

S. Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 43.

Auf meine Frage, ob andere kleinere Gebietsteile, die ohne Zusammenhang mit Ruhrbesetzung zwecks Durchführung der Zollgrenze besetzt worden seien, wie z. B. Emmerich, Mannheim, Karlsruhe und Flaschenhälse, auch geräumt würden, erwiderte Herriot, daß diese Kleinigkeiten keine Rolle spielten. Fortsetzung folgt.

Marx

Telegramm in geheimen Ziffern

London, 14.8.24 [ab 22.40 Uhr]

Auswärtig Berlin.

Nr. 63. Streng geheim, nur für Reichspräsidenten und Kabinett.

Im Anschluß an Nr. 62.

Ich erwiderte Herriot, daß ich den Geist seines Vorschlages durchaus würdige und wohl persönlich Vertrauen zu ihm hege. Übermittlung seines geheimen Vorschlages könne jedoch nur persönlich erfolgen, weshalb ich vorschlüge, daß Minister Luther sich sofort nach Berlin begebe, um verfassungsmäßige Zustimmung Reichspräsidenten einzuholen. Er könne Sonntag [17. 8.] vormittag wieder hier sein, worauf gegebenenfalls Abschluß erfolgen könne. Herriot schien von dieser Verzögerung nicht angenehm berührt, widersprach jedoch nicht, erklärte vielmehr, er werde dann nach Paris reisen, da er in der Zwischenzeit hier nichts zu tun haben werde. Wir vereinbarten alsdann, in Aussicht genommene deutsch-französisch-belgische Zusammenkunft am Nachmittage abzusagen und MacDonald zu bitten, für fünf Uhr anberaumte Konferenzsitzung ebenfalls abzusagen, worauf wir gemeinsam zu MacDonald gingen.

Dieser war über beabsichtigte Unterbrechung Konferenz durch doppelte Abreise aufs höchste bestürzt und erklärte, daß dies Zusammenbruch ganzer Konferenz bedeute6. Presse sei schon völlig hierauf eingestellt, und es bleibe ihm bei Unwillen Herriots nichts anderes übrig, als selber auch auf Urlaub abzureisen und damit Konferenz zu beenden. Auf unsere Vorstellungen über Wichtigkeit persönlicher Berichterstattung und Hinweis auf Möglichkeit, bis Sonnabend vormittag Antwort aus Berlin zu haben, erklärte MacDonald, Verständnis für unsere Lage zu haben, bat jedoch dringend, um ungünstige Wirkung[958] einer Abreise Luthers zu vermeiden und Abreise Herriots zu verhindern, daß Einholung Stellungnahme Reichspräsidenten telegraphisch erfolge. Um drohenden Abbruch zu verhindern, versprach ich, über diese Möglichkeit mit Delegierten zu beraten, worauf MacDonald, um Fortgang Konferenz vor Öffentlichkeit zu dokumentieren, inzwischen versammelte Vollsitzung eröffnete und unter Erledigung unwesentlicher Formalien durchführte.

6

Vgl. Anhang, Dok. Nr. 9.

In weiterem Gespräch mit Herriot und MacDonald erwiderte ersterer auf Frage, ob nur Dortmund oder auch weitere Umgebung geräumt werde, er habe dies noch nicht studiert, werde aber nicht schikanös verfahren. Auf weitere Frage, ob allgemeine Herabsetzung Truppenzahl in Ruhrgebiet erfolgen werde, erwiderte er, daß er auch diese Frage noch nicht studiert habe. Votum folgt.

Marx

Telegramm in geheimen Ziffern

London, 14.8.24 [ab 23.55 Uhr]

Auswärtig Berlin.

Nr. 64. Streng geheim, für Kabinett und Herrn Reichspräsidenten.

Im Anschluß an Nr. 63 von heute.

Votum: Angebot Herriots stellt nach seiner wiederholten Versicherung letztes und äußerstes Zugeständnis dar. Er mitteilte ferner wiederholt, daß er Geheimangebot auf eigene Verantwortung ohne Ermächtigung seiner Regierung mache und daß jede vorzeitige Bekanntgabe desselben seine Stellung erschüttern und Konferenz vereiteln werde; Nachprüfbarkeit dieser Behauptung hier nicht gegeben. Kellogg und MacDonald raten dringend zur Annahme, da weitere Zugeständnisse von Herriot nach ihrer festen Überzeugung keinesfalls zu erreichen sein würden. Beide erklären, daß Dawes-Anleihe auf dieser Basis zu erlangen sei und daß auch nach Auffassung Bankiers politische Einigung erzielt sein muß, ehe Anleiheverhandlungen beginnen.

Gedanke, Handelsvertrag als Tauschobjekt zu nehmen, hat Herriot für seine Person durch seine Haltung bei Verhandlungen abgelehnt; Delegation hält auch solches Verfahren für grundsätzlich verkehrt und gefährlich für Zukunft. Fortsetzung folgt.

Marx

Telegramm in geheimen Ziffern

London, 14.8.24 [ab 15. 8., 0.10 Uhr]

Auswärtig Berlin.

Nr. 65. Streng geheim. Für Kabinett und Herrn Reichspräsidenten!

Fortsetzung von Telegramm Nr.64.

Im Falle Scheiterns der Konferenz würde eine Wiederaufnahme der Verhandlungen bestenfalls nach Monaten in Betracht kommen. Frage, ob deutsche Bevölkerung dies politisch und wirtschaftlich aushalten kann, besonders im besetzten Gebiete, glaubt Delegation nicht bejahen zu können.

[959] Delegation ist der Überzeugung, daß nach heutiger Stellungnahme der Gesamtalliierten, insbesondere Englands und Amerikas, die von beiden Ländern abhängige Weltpresse Deutschland im Falle der Ablehnung für Scheitern der Verhandlungen verantwortlich machen würde.

Unsere Lage wird durch kaum verhüllte Drohungen MacDonalds in bezug auf Militärkontrolle noch verschärft, da Räumung Kölner Zone von Erfüllung Vertragsbedingungen abhängig und in dieser Frage die Weltmeinung sicherlich gegen uns in Aufregung gebracht werden kann.

Delegation empfiehlt daher, Londoner Verhandlungen an Räumungsfrage nicht scheitern zu lassen und beabsichtigt Festlegung der französischen Zusagen in üblicher diplomatischer Form.

Marx

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