2.18.1 (vpa1p): Politische Lage.

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Das Kabinett von Papen Band 1Das Kabinett von Papen Bild 183-R1230-505Wahllokal in Berlin Bild 102-03497AGöring, Esser und Rauch B 145 Bild-P046294Ausnahmezustand in Berlin während des „Preußenschlages“.Bild 102-13679

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RTF

[53]Politische Lage.

Nachdem in der für 11 Uhr vormittags anberaumten Sitzung der vereinigten Reichsratsausschüsse3 der Bayerische Ministerpräsident den Antrag gestellt hatte, zunächst in kleinerem Kreise die politische Lage zu erörtern4, und dieser Antrag angenommen worden war, begann um 11.30 Uhr vormittags die vom Bayerischen Ministerpräsidenten erbetene Aussprache unter Vorsitz des Reichskanzlers im kleinen Kreise.

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Einladung zu dieser Sitzung („zu einer Aussprache in einer Sitzung der vereinigten Ausschüsse des Reichsrats“) war ergangen mit Schreiben der Rkei an die präsidierenden Mitglieder der Landesregierungen vom 7. 6., in dem noch mitgeteilt wurde, daß die „Finanzlage des Reichs, der Länder und der Gemeinden“ besprochen werden solle (R 43 I /2328 , Bl. 178–179).

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Vgl. oben Anm. 1. – In der Aufzeichnung Helds (Anm. 1) heißt es hierzu: „Um 11 Uhr traten die vereinigten Ausschüsse des Reichsrats im großen Sitzungssaal der Reichskanzlei (Kongreßsaal) zusammen. Die Beteiligung war sehr stark. Sämtliche Länder waren durch ihre Ministerpräsidenten und andere Minister vertreten […]. Auch die Bevollmächtigten zum Reichsrat und die Gesandten nahmen an der Sitzung teil. Der Reichskanzler von Papen eröffnete sie mit einer hochpolitischen Ansprache, in der er das Programm der neuen Regierung verkündete, daß sie beabsichtige, eine grundsätzlich neue Staatsführung zu bewerkstelligen. Gegen Schluß der Ansprache beschäftigte er sich mit der Rede des Staatsrats Schäffer vom 10. Juni in München (Zirkus Krone) [vgl. unten Anm. 9] und richtete scharfe Angriffe gegen Schäffer. Ministerpräsident Dr. Held stellte nach Beendigung dieser Ansprache zur Geschäftsordnung den Antrag auf Vertagung der Weiterberatung in den Ausschüssen und auf eine Aussprache lediglich zwischen den Mitgliedern des Reichskabinetts und den Ministerpräsidenten und Finanzministern der einzelnen Länder. Auf den weiteren Antrag wurde den Gesandten gestattet, an der Aussprache teilzunehmen.“

Der Preußische Minister für Volkswohlfahrt sprach zunächst dem Reichskanzler seinen Dank dafür aus, daß diese Aussprache zustande gekommen sei. Es gebe eine Reihe von Fragen, die Preußen sowie die übrigen Länder in stärkstem Maße interessierten. Er nenne hier nur die Frage der Einsetzung eines Reichskommissars in Preußen5, die Fragen der Arbeitsverkürzung6 und der Arbeitsbeschaffung.

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Held in seiner Aufzeichnung vom 14. 6. (Anm. 1) hierzu u. a.: „Zunächst sprach als Vertreter Preußens Minister Hirtsiefer, der Klarheit verlangte über die Stellung des Reichskabinetts zu den Fragen der Reichsreform, des Finanzausgleichs und der Bestellung eines Reichskommissars. Er lehnte letzteren mit aller Entschiedenheit ab, wie er auch eine Reichsreform auf dem Wege der Notverordnungen oder Maßnahmen lediglich der Reichsregierung ablehnte.“ –

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Die Frage einer gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit war in den vorangegangenen Monaten wegen der wachsenden Arbeitslosigkeit vielfach erörtert worden. Am 20.4.32 hatte RArbM Stegerwald einen Verordnungsentwurf vorgelegt, der eine Herabsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 40 Stunden in zahlreichen Wirtschaftszweigen vorsah. Außerdem sollte jede „tarifvertragliche Mehrarbeit“ von behördlicher Genehmigung abhängig werden (R 43 I /2061 , Bl. 100–122). Eine derartige VO wurde jedoch nicht erlassen. – Zur Behandlung der Arbeitszeitfrage in Organisationen und Verbänden der Wirtschaft vgl. Wolffsohn, Industrie und Handwerk im Konflikt mit staatlicher Wirtschaftspolitik?, S. 54 f., 182 ff., 248 ff., 295 ff. und 333 ff.

Auch der Württembergische Staatspräsident sprach zunächst seinen Dank für diese Aussprache aus. Er kam auf die Frage des S.A.-Verbots zu sprechen und richtete an die Reichsregierung die Frage, ob sie das S.A.-Verbot7 aufheben wolle. Wenn die Reichsregierung eine derartige Absicht habe, so könne hierdurch nicht die Zusammenfassung aller Kräfte verwirklicht werden. Es sei vielmehr notwendig, das S.A.-Verbot noch zu vervollständigen.

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VO des RPräs. vom 13.4.32 (RGBl. I, S. 175 ).

Von großer Bedeutung sei auch die Frage der Stabilität der Währung. In Württemberg herrsche große Unruhe darüber, ob die Währung stabil bleiben[54] werde. Zeitweise sei ein starker Ansturm auf die Sparkassen zu verzeichnen gewesen8.

8

Vgl. Anm. 3 und 6 zu Dok. Nr. 1.

Der Reichskanzler gab gleichfalls seiner Genugtuung darüber Ausdruck, daß er in kleinerem Kreise mit den Ministerpräsidenten der Länder die vordringlichsten politischen Fragen besprechen könne. Er kam sodann auf die letzte Rede zu sprechen, die Staatsrat Dr. Schäffer in München gehalten habe9. Wenn die Presse die Rede richtig wiedergegeben habe, so müsse er, der Reichskanzler, allerdings sein Befremden über diese Rede ausdrücken. Er bedaure besonders, daß ein Mitglied der gegenwärtigen Bayerischen Staatsregierung sich nicht gescheut habe, den Berichten der Presse zufolge, Angriffe gegen den Herrn Reichspräsidenten zu richten.

9

Rede Schäffers vom 10. 6., in der er (nach dem im „Bayerischen Kurier“ vom 11. 6. veröffentlichten Text) u. a. erklärt hatte: Die neue RReg. sei deutschnational, ihre Mitglieder seien „fast ganz aus dem deutschnationalen Lager“ hervorgegangen, weshalb auch die RT-Fraktion der DNVP betont habe, der bevorstehende Wahlkampf bezwecke hauptsächlich, „die alten Systemparteien vollkommen aus der Regierung herauszudrücken“. Und weiter: „Man wollte vielleicht deshalb den Reichstag mit der merkwürdigen Begründung auflösen, daß er dem Willen des deutschen Volkes nicht entspreche, um dann, wenn der neue Reichstag wieder zusammentritt und wenn der politische Wille des deutschen Volkes sich anders zeigt, als das Kabinett Schleicher-Papen will, ihn wieder auflösen zu können […]. Mögen die Parlamente nicht gut sein. Aber das schlechteste Parlament ist tausendmal besser als eine Kamarilla. Und deshalb ist der erste Ruf, mit dem wir in den Wahlkampf ziehen: Dem deutschen Volk sein Recht und nieder mit der Kamarilla.“

Der Bayerische Ministerpräsident betonte, daß Staatsrat Dr. Schäffer keinerlei Kritik an dem Herrn Reichspräsidenten geübt habe. Deshalb bedauere er die Bemerkungen, die der Reichskanzler gegen den Staatsrat Dr. Schäffer gerichtet habe.

In den bisherigen Äußerungen der Reichsregierung vermisse er die Betonung der Eigenstaatlichkeit der Länder. Ein Reichskommissar würde bestimmt nicht über die bayerische Grenze kommen.

Die Besorgnisse, die der Württembergische Staatspräsident bezüglich der Sicherheit der Währung geäußert habe, müsse er unterstreichen. Die vielfachen Äußerungen über eine Binnenwährung in Kreisen der Reichsregierung oder jedenfalls in Kreisen, die der Reichsregierung nahe ständen, müßten beunruhigend wirken.

Was die Frage der Aufhebung des S.A.-Verbots anlange, so sei darauf hinzuweisen, daß 19 Millionen Wähler für Hindenburg votiert hätten, weil sie Ruhe und Sicherheit haben wollten. Die Aufhebung des S.A.-Verbots würde zu Unruhen führen und von den 19 Millionen Hindenburg-Wählern nicht verstanden werden. Bayern werde mit dem Verbot der S.A. antworten, wenn das S.A.- Verbot von Reichs wegen aufgehoben werde.

Notwendig sei, daß für die junge Generation etwas geschehe. Vielleicht könne die gesamte Jungmannschaft in irgendwelchen organischen Formen vom Reichswehrministerium zusammengefaßt werden.

Die Polizei müsse unter allen Umständen Staatspolizei bleiben. Auch in dieser Hinsicht lägen Besorgnisse vor, weil in einem Teil der Presse das Gerücht[55] wiedergegeben werde, die Reichsregierung wolle die Landespolizei militarisieren10.

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Diese Ausführungen Helds sind in seiner Aufzeichnung vom 14. 6. (Anm. 1) folgendermaßen wiedergegeben: Er habe „zunächst Herrn Staatsrat Schäffer gegen die Angriffe des Reichskanzlers“ verteidigt, dessen Behauptungen richtiggestellt und es entschieden abgelehnt, „von der Reichsregierung eine Zensur über Reden von Landesministern entgegenzunehmen. Dann begründete er die ablehnende Haltung gegenüber dem Kabinett, das sowohl einen parteipolitischen Charakter wie einen großagrarischen und großindustriell-kapitalistischen Charakter trage, bei dem die Masse des Volkes überhaupt keine Berücksichtigung gefunden habe. Dann verbreitete er sich über das Verhältnis von Reich und Ländern, warnte die Reichsregierung eindringlich vor Maßnahmen, die einer trockenen oder diktatorischen Reichsreform ähnlich sähen und erklärte, daß er den Reichskommissar in jeder Form für sein Land und für die Länder überhaupt ablehne. Bei der Frage nach der Finanzlage von Reich, Ländern und Gemeinden und der Ordnung des Verhältnisses dieser Finanzen untereinander müsse festgestellt werden, daß die Länderbudgets immer wieder von der Reichsseite her in Unordnung gebracht würden und deshalb ein Länderkommissar bei der Reichsregierung viel eher gerechtfertigt erscheine als ein Reichskommissar bei den Länderregierungen. Im Anschluß daran schilderte er die Stimmung weitester Kreise in Süddeutschland, die beherrscht sei von Empörung über die Entlassung des Kabinetts Brüning und von Furcht und Unsicherheit für die Zukunft. In der Wirtschaftspolitik müsse eine gleichheitliche Berücksichtigung auch der süddeutschen Interessen verlangt werden, insbesondere bei den Reichsaufträgen, bei der Kreditgewährung und den anderen finanziellen Maßnahmen. Bezüglich der Notverordnung, die bevorstehe, lehne Süddeutschland jeden Eingriff des Reichs in das staatsrechtliche Verhältnis zwischen Ländern und Gemeinden [vgl. Dok. Nr. 17, dort bes. Anm. 7 und 8] entschieden ab. Schwere Bedenken bestünden gegen die Aufhebung der Freigrenze von 5000 RM bei der Umsatzsteuer [vgl. Dok. Nr. 17, dort bes. Anm. 9], ebenso schwere Bedenken gegen die Arbeitslosenbeihilfe, die nichts anderes sei als eine neue Besteuerung bzw. Gehaltskürzung der Länderbeamten zu allgemeinn Reichszwecken. In sehr energischer Weise wendete er sich gegen die beabsichtigte Aufhebung des Verbotes des Uniformtragens und der SA und SS; er bezeichnete die Aufhebung als einen Freibrief für Mord und Totschlag und für den schlimmsten Terror gegen jeden Andersgesinnten, als den ersten Schritt zur inneren Auflösung der staatlichen Gemeinschaft und den staatlichen Schutz [!], als einen vollständigen Sieg der Staatsumstürzler. Wie sein Vorredner erhob er auch die Frage, welche Bindungen die neue Reichsregierung Hitler gegenüber eingegangen sei. Schließlich warnte er dringend davor, die Polizei oder Teile der Polizei in der Reichswehr eingliedern zu lassen, wie es in Genf beabsichtigt sei, und so die Landeshoheit über die Polizei zu zerstören. Zum Schluß gab er seinem tiefen Mißtrauen gegen die neue Reichsregierung öffentlich Ausdruck und erklärte, in ihrer Bestellung läge eine Fälschung des Willens der 19 Millionen Wähler für Hindenburg, die zugleich ein Bekenntnis für Brüning ablegen wollten.“ Anschließend vermerkte Held u. a.: „Nach dem Bayerischen Ministerpräsidenten sprachen Bolz (Württemberg), Schmitt (Karlsruhe), Adelung (Darmstadt), die eine gleiche Haltung einnahmen wie der Bayerische Ministerpräsident und zum Teil ihre Auffassung noch schärfer formulierten.“

Der Reichskanzler wies die Behauptung des Bayerischen Ministerpräsidenten zurück, daß er Angriffe gegen Staatsrat Dr. Schäffer gerichtet habe. Er betonte ferner, daß die Reichsregierung eine Militarisierung der Polizei nicht beabsichtige.

Das gegenwärtige Reichskabinett habe genau so gut eine soziale Gesinnung wie die früheren Reichsministerien11.

11

Hierzu Held in seiner Aufzeichnung vom 14. 6. (Anm. 1): Der RK nahm „im allgemeinen“ Stellung zu den Darlegungen der Länderminister, „schwieg aber ebenso wie Reichsinnenminister von Gayl zu der Frage, ob Bindungen gegenüber den Nationalsozialisten vorlägen. Die Rede von Papens war recht inhaltslos; sie bezeichnete als die tiefere Ursache der Berufung der neuen Regierung den Wunsch, die Nationalsozialisten mit an die Regierung und in die Verantwortung zu bringen. Auch Herr von Gayl begründete so die Neuberufung der Regierung. Er wie von Papen sangen ein hohes Lied auf Format, Leistung und Vertrauenswürdigkeit des verflossenen Reichskanzlers Brüning.“

Der Badische Staatspräsident führte aus, daß die Stimmung in Süddeutschland sich in einer gewissen einheitlichen Linie bewege. Deshalb hätten die drei süddeutschen Staats- und Ministerpräsidenten auch einen Vortrag beim Herrn Reichspräsidenten erbeten, um die kommenden Notverordnungen noch möglichst in ihrem Sinne beeinflussen zu können.

[56] Die Einsetzung eines Reichskommissars in einem Lande sei wegen eines Etatdefizits seines Erachtens unmöglich. Die Ursache der allgemeinen Finanznot liege in erster Linie in der Weltwirtschaftskrise. Verschiedene Reichsgesetze, so z. B. die Besoldungsordnung von 192712, hätten im Reich und in den Ländern außerdem zu einer Verschärfung der Finanzschwierigkeiten geführt.

12

Anlage 1 bis 3 zum Besoldungsgesetz vom 16.12.27 (RGBl. I, S. 349 ).

Mehreren Landesregierungen werde in der Öffentlichkeit vorgeworfen, sie seien nur geschäftsführend und deshalb nicht berechtigt, im Namen des Volkes aufzutreten. Demgegenüber müsse er betonen, daß eine geschäftsführende Regierung grundsätzlich dieselben Rechte habe wie eine normal zustande gekommene Regierung. Sollte das Reich in Baden einen Reichskommissar einsetzen, würde die Badische Staatsregierung den Staatsgerichtshof anrufen. Für die Landesbeamten würden im Falle der Einsetzung eines Reichskommissars schwere Konflikte entstehen.

Die Einführung einer Reichswasserstraßenverwaltung müsse Baden ablehnen. Sie würde einen Eingriff in die Eigenstaatlichkeit der Länder bedeuten.

Die Aufhebung des S.A.-Verbots würde gegen das Ansehen des Herrn Reichspräsidenten verstoßen. Die Badische Staatsregierung müsse jede Verantwortung ablehnen, wenn das S.A.-Verbot aufgehoben werde. Gewisse Saalschutzformationen würden in Baden immer notwendig sein.

Das Prinzip der Sonderfürsorge für einzelne Landesteile müsse fallen. Besonders schwierig sei die Lage Mannheims. Der Hafenverkehr ruhe hier fast völlig. In diesem Zusammenhang müsse er auch seine schweren Besorgnisse wegen der Holz- und Sägeindustrie äußern.

Am 1. Oktober würden in Baden 88 Millionen RM kurzfristiger Schulden fällig. Wie diese Schulden bezahlt werden sollten, wisse er zur Zeit nicht.

Baden habe den dringenden Wunsch, daß stets in die Beziehungen zwischen Reich und Gemeinden das Land eingeschaltet werde.

Über die Arbeitsbeschaffung habe die neue Reichsregierung noch keine Pläne dargelegt. Die Länder hätten hierfür naturgemäß großes Interesse.

Unbedingt notwendig sei eine Verbilligung der Justiz, die durch möglichst weitgehende Einführung des Prinzips des Einzelrichters möglich sei. Eine Amnestie sei unbedingt abzulehnen.

Vor einer Erhöhung der Umsatzsteuer13 müsse er warnen.

13

Vgl. Anm. 9 zu Dok. Nr. 17.

Staatsrat Dr. Schäffer führte aus, daß die Zeitungen offenbar seine Rede falsch wiedergegeben hätten. Die Rede sei im Rahmen einer Veranstaltung der Bayerischen Volkspartei von ihm als Parteivorsitzenden gehalten worden. Er scheue sich jedoch nicht, auch als Mitglied der Bayerischen Staatsregierung sich zu dieser Rede zu bekennen.

Er habe nicht an dem Herrn Reichspräsidenten Kritik geübt, vielmehr nur an den Begleitumständen des letzten Regierungswechsels im Reiche. Die empörte Stimmung, die in Bayern und in ganz Süddeutschland über diese Begleitumstände herrsche, habe er noch nicht einmal in voller Deutlichkeit wiedergegeben. In der Tat habe er von einer Kamarilla gesprochen, die den Herrn[57] Reichspräsidenten einseitig zu informieren bemüht sei. Das gegenwärtige Reichskabinett habe er jedoch nicht als Kamarilla bezeichnet. Er habe das Gefühl, daß zwischen dem Herrn Reichspräsidenten und dem Herrn Reichskanzler Brüning künstlich trennende Mauern gezogen worden seien.

Ob heute noch 19 Millionen Wähler für den Herrn Reichspräsidenten stimmen würden, müsse ihm zweifelhaft erscheinen. Das gegenwärtige Reichskabinett habe kein großes Vertrauen. Im Jahre 1923 habe man in Deutschland erlebt, daß die Phrase der nationalen Versöhnung versagte.

Eine Reichsreform würde Bayern sich nicht aufzwingen lassen.

Der Hessische Staatspräsident führte aus, daß jetzt der psychologische Moment nicht gekommen sei, um das S.A.-Verbot aufzuheben. Im Falle der Aufhebung des S.A.-Verbots würde in Deutschland ein Wettrüsten der Organisationen entstehen.

Hessen müsse bedauern, daß die Westhilfe abgedrosselt worden sei14.

14

Unter der Bezeichnung „Westhilfe“ war in den Jahren 1926/27 auf Initiative der Zentrumspartei ein von der RReg. getragenes Hilfsprogramm für die besetzten Gebiete und das Saargebiet entstanden. Zur Finanzierung aus Haushaltsmitteln des Reichs s. R 2 /4409 –4412; vgl. auch Blaich, Grenzlandpolitik im Westen 1926–1936, S. 12 ff.

Unbedingt notwendig sei eine klare Kundgebung der Reichsregierung gegen jede Inflation.

Der Reichskanzler betonte, daß die Reichsregierung jedes Experiment auf dem Gebiet der Währung ablehne.

Der Preußische Finanzminister begrüßte diese Erklärung des Reichskanzlers. Er führte im übrigen aus, daß Preußen keinen Anlaß für eine Inkraftsetzung des Reichsetats durch Notverordnung sehen könne. Preußen wünsche eine Etatsberatung durch den Reichsrat. Es lege ferner entscheidendes Gewicht auf eine Förderung sämtlicher Notstandsarbeiten, insbesondere der Siedlung.

Der Reichsminister des Innern wies darauf hin, daß er 11 Jahre im Reichsrat gearbeitet habe und hoffe, sich dort Vertrauen erworben zu haben. Er werde versuchen, sich auch in seiner neuen Stellung als Reichsminister des Innern Vertrauen zu erwerben.

Die Rechte der Eigenstaatlichkeit der Länder wolle er nicht antasten. Im Verhältnis des Reichs zu den Ländern lasse sich nach seiner Auffassung viel durch vertragliche Vereinbarungen erreichen, was zur Vereinfachung und Verbilligung beitrage.

Der Gedanke der Einsetzung eines Reichskommissars in Preußen sei weder von dem Kabinett Brüning noch von dem jetzigen Reichskabinett in die deutsche Öffentlichkeit getragen worden. Die Einsetzung eines Reichskommissars sei die ultima ratio, wenn das Leben der Nation auf dem Spiele stehe. Das Schreiben des Reichskanzlers an den preußischen Landtagspräsidenten15 bedeute einen Appell des Reichskanzlers an die Parteien des Landtages. Es stelle keine Parteinahme gegen die gegenwärtige geschäftsführende Regierung in Preußen dar. Das Reich habe naturgemäß ein Interesse daran, daß die politische Hochspannung in Preußen beendet werde.

15

Dok. Nr. 10.

Was die Aufhebung des S.A.-Verbots anlange, so sei das Reichskabinett[58] der Auffassung, daß das einseitige Verbot der S.A. von weiten Kreisen des deutschen Volkes als ungerecht empfunden werde. Der Wahlkampf müsse mit gleichen Waffen geführt werden können. Die Reichsregierung beabsichtige nicht, das S.A.-Verbot wieder einseitig aufzuheben. Vielmehr wolle die Reichsregierung den gesamten Fragenkomplex, der mit dem S.A.-Verbot zusammenhänge, eingehend neu ordnen. In diesen Fragenkomplex gehörten die Fragen der Versammlungen, der Umzüge, der Organisationen und der Presse. Die Reichsregierung wolle nur solche Organisationen künftig zulassen, die ihre Satzungen einreichen. Die Organisationen würden jedoch jederzeit wieder aufgelöst werden können. Ruhe und Ordnung müßten von den Ländern energisch aufrecht erhalten werden. Waffen dürften nur Reichswehr und Schupo tragen.

Auch auf dem Gebiete des Rundfunks wolle er eine gleichmäßige Behandlung einführen. Die politischen Führer sämtlicher Parteien von Fraktionsstärke sollten im Rundfunk reden können, mit Ausnahme der Kommunisten16.

16

Vgl. Dok. Nr. 13, Anm. 12 und Dok. Nr. 20.

Den Ausdruck Kamarilla habe die Reichsregierung auch nicht auf sich bezogen. Die Reichsregierung sei keine Parteidiktatur, sondern eine verfassungsmäßig vom Herrn Reichspräsidenten ernannte Regierung.

Für die Grenzlandarbeit habe er ein besonders warmes Herz, weil er aus Ostpreußen stamme. Das bedeute jedoch nicht, daß er sein Interesse einseitig Ostpreußen zuwende. Vielmehr wolle er zu gegebener Zeit sämtliche Grenzlandgebiete Deutschlands aufsuchen, um die dortigen Nöte aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Wegen des Zeitpunktes werde er mit den betreffenden Landesregierungen Fühlung nehmen.

Der Preußische Minister für Volkswohlfahrt führte aus, daß Preußen eine Verwaltungsvereinfachung ebenso energisch und rasch durchführe wie die notwendigen finanziellen Maßnahmen. Gern habe er gehört, daß die Reichsregierung die Rechte der Länder nicht antasten wolle.

Den Brief des Reichskanzlers an den preußischen Landtagspräsidenten bedaure er deshalb, weil er von den Gepflogenheiten abweiche17.

17

Vgl. hierzu den schriftlichen Protest Hirtsiefers vom 7. 6. (Dok. Nr. 16).

Er habe den dringenden Wunsch, daß die Länder vor einer Aufhebung des S.A.-Verbots gehört würden.

Der Bayerische Ministerpräsident führte aus, daß vielleicht weite Kreise eine Aufhebung des S.A.-Verbots wünschten. Noch weitere Kreise seien jedoch für die Einführung des Verbots besonders dankbar gewesen. Er warne die Reichsregierung noch einmal dringend vor einer Aufhebung des S.A.-Verbots18.

18

Nach seiner Aufzeichnung vom 14. 6. (Anm. 1) nahm Held an dieser Stelle „in ausführlicher Weise Stellung zu den Reden der beiden Mitglieder der Reichsregierung, begründete seine Bedenken gegen den Föderalismus der Reichsregierung mit Tatsachen, die in der Vergangenheit von Mitgliedern dieser Reichsregierung geschaffen worden seien, und wendete sich in schärfster Weise gegen die offizielle Unterstützungspolitik für Hitler und gegen die staatszerstörende Aufhebung der SA- und SS-Verbote. Gerade die Ausführungen des Reichskanzlers und des Reichsinnenministers ergäben für die Einzelstaaten den Zwang zu stärkstem Mißtrauen und zu einer unablässigen scharfen Beobachtung Berlins.“

Die Mitteilungen des Reichsministers des Innern über seine Absichten auf dem Gebiete des Rundfunks bedaure er, weil die Verwirklichung der Absichten den ersten Schritt zur Politisierung des Rundfunks darstellten.

[59] Selbstverständlich müßten die Länder für eine ordnungsmäßige Finanzgebarung sorgen. Dieselbe Pflicht habe jedoch auch das Reich. Notwendiger als die Einsetzung eines Reichskommissars in einigen Ländern erscheine ihm die Einsetzung eines Länderkommissars für das Reich, damit das Reich ordnungsmäßig die Steueranteile an die Länder abführe.

Er habe die schwere Besorgnis, daß die Entwicklung dahin gehe, Hitler die Wege zur Diktatur zu öffnen.

Der Reichsminister des Innern betonte, daß die Bestimmungen der Verordnung über militärähnliche Organisationen noch verschärft werden sollten. Eine einseitige Aufhebung des S.A.-Verbots beabsichtige er nicht.

Der Rundfunk sei schon häufig zu Wahlreden benutzt worden. Er schaffe also mit der Verwirklichung der von ihm geplanten Maßnahmen nur Gerechtigkeit für alle. Die Reden, die im Wahlkampf durch den Rundfunk verbreitet würden, müßten vorher dem Kommissar des Reichsministeriums des Innern vorgelegt werden. Bei einem großen Abweichen von dem gebilligten Text der Rede müsse der Draht abgeschnitten werden. Das Reichsministerium des Innern werde jedoch in dieser Hinsicht nicht kleinlich verfahren.

Der Reichskanzler betonte, daß die Reichsregierung selbstverständlich einen Bürgerkrieg vermeiden wolle. Gerade unter diesen Gesichtspunkten sei die geplante Aufhebung des S.A.-Verbots zu betrachten.

Der Reichskanzler schlug sodann vor, die Sitzung der vereinigten Reichsratsausschüsse um 3 Uhr nachmittags stattfinden zu lassen19.

19

Dok. Nr. 19.

Die Versammlung war hiermit einverstanden.

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