2.39 (vpa1p): Nr. 39 Aufzeichnung über eine deutsch-französische Besprechung in Lausanne am 24. Juni 1932, 17.30 Uhr

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Nr. 39
Aufzeichnung über eine deutsch-französische Besprechung in Lausanne am 24. Juni 1932, 17.30 Uhr1

1

Eine erheblich kürzer gefaßte Aufzeichnung des MinDir. Ritter über diese Besprechung in ADAP, Serie B, Bd. XX, Dok. Nr. 163. – Die Besprechung bildete den letzten Teil der intensiven dt.- franz. Verhandlungen des 24. 6.. die mit einer kurzen Unterbrechung fast den ganzen Tag in Anspruch nahmen. Am frühen Vormittag hatte zunächst eine etwa einstündige Unterredung zwischen Papen und Herriot stattgefunden (Aufzeichnungen Bülows hierzu ebd., Dok. Nr. 159 und 162); ihr folgte unmittelbar eine Besprechung der beiden Delegationen (11.30 Uhr), in der RFM Schwerin v. Krosigk eingehend über die dt. Finanz- und Wirtschaftslage berichtete (vgl. unten Anm. 3).

R 43 I /482 , Bl. 91–102 Abschrift2

2

Die Aufzeichnung ist nicht unterzeichnet; sonstige Hinweise auf den Verfasser fehlen in den Akten der Rkei.

[Wirtschaftslage Frankreichs und Deutschlands; Reparationsfrage]

Der französische Finanzminister Germain-Martin erhält das Wort, um die französische Auffassung darzulegen, und führt folgendes aus:

Im Hinblick auf die Ausführungen des Herrn Reichsfinanzministers3 wolle er durchaus nicht leugnen, daß sich die Lage Deutschlands ebenso wie auch[134] die der ganzen Welt seit der Tagung des Baseler Sachverständigenausschusses erheblich verschlechtert habe. Er wolle seine Ausführungen keineswegs in einem Geiste systematischer Kritik an den Darlegungen des deutschen Finanzministers machen, sondern er wünsche im Gegenteil im Interesse einer loyalen und menschlichen Regelung der hier zu behandelnden Fragen die beiderseitigen Ansichten gegenüberzustellen und einander anzunähern. Die meisten Mitglieder der französischen Delegation hätten in Deutschland gelebt. Sie hätten ein starkes Gefühl für die Größe der deutschen Kultur und seien von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, daß das große deutsche Volk wieder die Lebensmöglichkeiten finden möge, die seiner großen Kultur entsprechen.

3

Über die Ausführungen Schwerin v. Krosigks in der Vormittagssitzung (vgl. oben Anm. 1) hatte Ritter am 24. 6. nach Berlin berichtet: Nach „freundlichen Begrüßungsworten“ Herriots habe der RFM in eineinhalbstündigen Darlegungen zunächst auf die Problematik der dt. Auslandsverschuldung, auf den außerordentlich starken Rückgang der dt. Industrieproduktion und die dadurch bedingte Arbeitslosigkeit in Dtld. hingewiesen. „Es folgten dann Zahlen über Entwicklung Reichshaushalts und einzelner Steuern; die im Jahre 1929 bestehenden Steuern bringen heute 3½–4 Milliarden Mark weniger als damals. Die seit 1929 bis zum Baseler Bericht [des Beratenden Sonderausschusses der BIZ vom 23.12.31, vgl. Anm. 4 zu Dok. Nr. 30] neu eingeführten Steuern bringen zwei Milliarden Mark. Trotz der Bestätigung des Baseler Berichts, daß damals schon die Besteuerung in Deutschland ein Höchstmaß erreicht habe, sei die Deutsche Regierung gezwungen gewesen, weitere Steuern einzuführen. Die Ausgabenseite des Reichshaushalts sei am stärksten durch die Aufwendungen für Arbeitslosigkeit beeinflußt. Auch hierfür wurden eingehende Zahlen gegeben. Im Anschluß daran wurde darauf hingewiesen, in welchem Umfange die Unterstützungen für die Arbeitslosen erneut herabgesetzt werden mußten, die jetzt gezahlte Unterstützung liege bereits unter dem deutschen Existenzminimum und bedeute Hunger. Es wurde weiter auf die wiederholten Kürzungen der Beamtengehälter hingewiesen, die jetzt um 20 bis 25% gekürzt seien. Bei den Landes- und Gemeindebeamten sei die Kürzung noch stärker.“ Ritter hierzu in seinem Bericht abschließend: „Wir hatten heute wieder den Eindruck, daß den französischen Herren die Zahlen und Tatsachen, die die deutsche Situation kennzeichnen, ganz unzureichend bekannt waren. Sie haben daher die heutigen Darlegungen des Reichsfinanzministers mit dem größten Interesse verfolgt und sich durch Zwischenbemerkungen weitere Aufklärungen geben lassen. […] Der Hauptzweck der heutigen Darlegungen war, die weitere Verschlechterung der deutschen Gesamtlage seit der Erstattung des Berichts des beratenden Sonderausschusses klar zu machen, um dem französischen Einwand zuvorzukommen, daß der Bericht des Baseler Sonderausschusses selbst positive Möglichkeiten aufgezeigt habe.“ (Tel. Nr. 35 an das AA in R 43 I /388 , Bl. 148–149).

Bezüglich einzelner Punkte, die der Herr Reichsfinanzminister heute morgen erwähnte, habe er folgendes zu bemerken:

Es sei heute früh auf die schweren Lasten hingewiesen worden, die das Reich infolge der Arbeitslosigkeit zu tragen habe. Er wolle nicht die genannten Globalzahlen von 3,5 Milliarden und 3 Milliarden sowie das Ausgleichsdefizit von 400 Millionen bestreiten. Er möchte aber doch auf eine gewisse Relativität im Verhältnis zu anderen Ländern hinweisen. In Frankreich sei die Arbeitslosenzahl natürlich bedeutend geringer, obwohl sie für ein halb industriell und halb landwirtschaftlich konstruiertes Land bereits recht erheblich seien. Der französische Arbeitslose erhalte aber bedeutend weniger als der Durchschnitt, der heute morgen für den deutschen Arbeitslosen angegeben wurde4. Das solle keine Kritik bedeuten, er wolle damit nur zeigen, daß man in Frankreich in vorsichtiger Weise gewisse Ausgaben begrenzt habe.

4

Zu diesen und einigen nachfolgenden Ausführungen Germain-Martins wurde das Statistische Reichsamt von der dt. Delegation fernmündlich um Stellungnahme gebeten. In seinem offenbar direkt nach Lausanne übermittelten Bericht (27. 6. ?) erklärte das Reichsamt zur Höhe der frz. und dt. Arbeitslosenunterstützung: „Die Höchstsätze für Arbeitslosenunterstützung, die der französische Staat der Berechnung seiner Beteiligungsquote zugrunde legt, sind ab 1. Januar 1932 folgende: Arbeitsloser Haushaltsvorstand 7 fr pro Tag, Ehefrau 4 fr pro Tag, jedes Kind unter 16 Jahren 3,50 fr pro Tag. Für einen Verheirateten mit zwei Kindern ergeben sich danach 18 fr pro Tag, also etwa 540 fr im Monat. Demgegenüber betrug der durchschnittliche Unterstützungsaufwand im Rechnungsjahr 1931/32 je Hauptunterstützungsempfänger in Deutschland: Arbeitlosenunterstützung 63.– RM monatlich (umgerechnet über Lebenshaltungsindex und Friedensgoldparität 325 fr), Krisenfürsorge 59.– RM (305 fr), Wohlfahrtsunterstützung 53.– RM (274 fr). Am Ende des Rechnungsjahres 1931 betrug jedoch der durchschnittliche Unterstützungsaufwand in der Arbeitslosenversicherung nur noch 57.– bis 60.– RM (295 fr bis 310 fr) und in der Krisenfürsorge etwa 56.– RM (290 fr). Durch die letzte Notverordnung [vom 14.6.32, RGBl. I, S. 273 ] wurden die Sätze der Arbeitslosenversicherung und Krisenfürsorge auf das bisherige Niveau der Wohlfahrtspflege, also auf annähernd 50.– RM (258 fr) monatlich gesenkt, während die Sätze der Wohlfahrtspflege selbst um etwa 20 v. H. auf rund 40.– RM (206 fr) monatlich ermäßigt wurden. Familienzuschläge sind hierbei eingerechnet.“ (Abschrift des Berichts, vom Statistischen Reichsamt am 27. 6. an das AA zur Kenntnisnahme übersandt, in Pol. Arch. des AA, Wirtschaft Reparationen 22, Die Reparationskonferenz von Lausanne, Bd. 4). Vgl. unten Anm. 6 und 7.

Bezüglich der Beamtengehälter habe der Herr Reichsfinanzminister heute ausgeführt, daß in gewissen Fällen die Beamten der Länder in ihren Gehältern um 50% gekürzt worden seien. Wenn er recht unterrichtet sei, so handele es sich in diesen Fällen vor allem um die ganz großen Gehälter, und da haben sie auch in Frankreich z. B. bei den Bürgermeistern, wie Herr Herriot bestätigen könne, erhebliche Kürzungen vorgenommen und werden in dieser Richtung noch weiter gehen müssen.

[135] Herr Herriot erklärte hier, daß er sein Bürgermeistergehalt5 selbst vollkommen gestrichen habe und daß das bisher die einzige Streichung sei, die er vorgenommen habe.

5

Herriot hatte nach seiner erneuten Berufung zum frz. Ministerpräsidenten (3.6.32) sein Amt als Bürgermeister von Lyon beibehalten.

Herr Germain-Martin fährt fort. Auch in Frankreich werde sich die Notwendigkeit ergeben, Kürzungen vorzunehmen. Wenn man irgendwelche Vergleiche anstelle, dann könne man jedoch nicht die hohen Gehälter heranziehen, sondern man müsse die kleinen Bezüge vor allem berücksichtigen. Ein Briefträger erhalte in Deutschland ein Jahresgehalt von 12 000 Frcs. oder 1000 Frcs. im Monat, während er in Frankreich nur 900 Frcs. im Monat erhalte und mit allen Zulagen für Stiefel, Bekleidung etc. im Jahre allerhöchstens auf 10 000 bis 10 500 Frcs. komme6.

6

Hierzu das Statistische Reichsamt in seinem Bericht an die dt. Delegation (vgl. oben Anm. 4): „Anfangsgehalt eines facteur de ville in Paris 10 566 fr, Endgehalt 12 916 fr (ausschließlich Familien- und Kinderzulagen, aber einschließlich Wohnungsgeld, nach Berücksichtigung des Pensionsabzuges).“ Demgegenüber beziehe ein dt. Postschaffner in Berlin einschließlich Wohnungsgeld und 3% Ortszuschlag nach Abzug von rund 20% Gehaltskürzungen ein Anfangsgehalt von 1745 RM und ein Endgehalt von 2503 RM. Nach Umrechnung über den Lebenshaltungsindex und die Friedensgoldparität in fr ergeben sich als Anfangsgehalt 9015 fr und als Endgehalt 12 933 fr.

Bezüglich der Pensionen sei die Lage für französische Pensionsempfänger auch ungünstiger als für Deutschland. In Deutschland habe man früher 80% vom Gehalt als Pension gezahlt, jetzt seien es immerhin noch 75%. In Frankreich dagegen zahle man nur 60% des Gehaltes, wobei außerdem noch eine Höchstgrenze festgesetzt sei, und die 60% nicht etwa nach dem letzten Höchstgehalt, sondern nach den drei letzten Dienstjahren des Beamten berechnet werden. Bezüglich der Höchstgrenze verhalte es sich so, daß diese für einen General z. B. bei 30 000 Frcs. liege und der Betreffende auf keinen Fall mehr als 30 000 Frcs. erhalte, auch wenn die 60% seines Gehaltes während der letzten drei Jahre eine höhere Summe ergäben. In Deutschland dagegen sei diese Höchstgrenze nicht festgesetzt und man bekomme stets die entsprechende prozentuale Summe vom letzten Höchstgehalt7.

7

Im Bericht des Statistischen Reichsamts (vgl. oben Anm. 4) heißt es hierzu: „Vergleich der Bestimmungen über Pensionierung von Beamten in Deutschland und Frankreich nicht ohne weiteres möglich […]. Die Höchstpension beträgt in Frankreich 75% des Durchschnittsgehalts der letzten drei Dienstjahre (nicht 60%); Finanzgesetz vom 31. März 1932. Im höchsten Fall beträgt die Pension 45 000 fr.“

Über die Schrumpfung des deutschen Außenhandels in den Jahren 1930, 1931 und 1932 um 50%, von denen der Herr Reichsfinanzminister heute morgen gesprochen habe, wolle er keineswegs streiten und nur darauf hinweisen, daß der französische Außenhandel in derselben Zeit um 60% gesunken sei, und daß der Welthandel insgesamt um 50% gesunken sei. Diese Zahl sei insofern interessant, als sie zeige, daß der Ernst der Lage Deutschlands dem allgemeinen Ernst der Weltwirtschaftslage in immer zunehmendem Maße entspräche. Das sei zwar kein Trost für Deutschland, aber doch eine interessante Feststellung.

Bezüglich der Steuererträge habe der Herr Reichsfinanzminister für die Jahre von 1929 bis 1932 ein erhebliches Absinken nachgewiesen. Demgegenüber sei zu bemerken, daß auch in Frankreich ein Defizit von 6 bis 7 Milliarden sogar[136] für das laufende Etatjahr 1932 zu decken sei und man gezwungen wäre, zu erheblichen Einnahmeerweiterungen und Ausgabenbeschränkungen zu schreiten. Bezüglich der Goldreserve der Reichsbank habe der Herr Reichsfinanzminister durchaus recht gehabt, wenn er heute morgen von der Gold- und Devisendeckung der Reichsbank diejenigen Kredite, die von anderen Notenbanken der Reichsbank zur Verfügung gestellt worden seien, abgezogen habe. Wenn jedoch weiterhin auf die 5 Milliarden kurzfristiger Kredite hingewiesen worden sei, die vom Ausland zurückgezogen wurden, so müsse er darauf hinweisen, daß es doch immer interessant sei, festzustellen, daß der Transfer dieser 5 Milliarden tatsächlich durchgeführt worden sei. Man habe heute früh von dem Herrn Reichsfinanzminister erfahren, auf welche Weise, d. h. durch einen Überschuß der Handelsbilanz von 3 Milliarden, durch Rückgriff auf die Gold- und Devisenvorräte der Reichsbank und durch Inanspruchnahme deutscher Guthaben von Banken und Industriefirmen im Ausland. Man dürfe bei dieser Kreditlage jedoch die Tatsache nicht vergessen, daß von deutscher Seite an das Ausland sehr langfristige Kredite gewährt worden seien, und daß diese Kreditgewährung Deutschland gezwungen hat, in stärkerem Maße auf seine Reserven zurückzugreifen, als es aus einem statistischen Vergleich der Handels- und Zahlungsbilanzzahlen notwendig erscheine. Außerdem handele es sich bei dem Abzug der kurzfristigen Kredite von 5 Milliarden um eine außergewöhnliche Bewegung. Keine Zentralbank der Welt hätte etwas Derartiges überstehen können, und nur dank der ausgzeichneten technischen Vorkehrungen, die man deutscherseits getroffen habe, sei Deutschland ohne größeren Schaden davongekommen. Für die Zukunft jedoch sei mit derartigen großen Zurückziehungen von kurzfristigen Krediten nicht mehr zu rechnen, wenn hier in Lausanne eine Einigung zustandekäme.

Er wolle darauf besonderes Gewicht legen, weil es ihm scheine, daß dies ein politisches Argument sei, das sehr gut von der Deutschen Delegation dem deutschen Volke gegenüber geltend gemacht werden könne. Man müsse in Deutschland einsehen, daß, wenn eine Einigung in Lausanne nicht zustandekäme, weitere und größere Zurückziehungen von Geldern aus Deutschland unvermeidlich wären.

Soviel habe er zu den deutschen Darlegungen der Vormittagssitzung zu sagen.

In einem Punkt müsse er allerdings mit Bedauern feststellen, daß eine gewisse französische Erwartung nicht erfüllt worden wäre. Es sei in dem Schreiben vom 11. Februar 19328 im Absatz 2 als einer der hier in Lausanne zu behandelnden[137] Punkte die Reparationsfrage erwähnt worden, und leider habe der Herr Reichsfinanzminister in der heutigen Vormittagssitzung über diese Frage größte Zurückhaltung bewahrt. Das solle kein Vorwurf sein, er müsse es jedoch als Tatsache feststellen.

8

Ein solches Schreiben nicht ermittelt. Möglicherweise handelt es sich hierbei um das nach längeren britisch-französischen Verhandlungen am 11. 2. fertiggestellte, von der RReg. am 12. 2. akzeptierte und am 13.2.32 veröffentlichte Kommunique, in dem die Regierungen Belgiens, Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Japans und Großbritanniens ihre Übereinstimmung dahin erklärten, daß die Lausanner Reparationskonferenz im Juni 1932 stattfinden werde. Im 2. Satz des Kommuniques hieß es: „Aufgabe der Konferenz wird es sein, sich über eine dauerhafte Regelung der in dem Bericht der Basler Sachverständigen aufgeworfenen Fragen und über die Maßnahmen zu verständigen, die erforderlich sind, um die anderen wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten zu lösen, welche die gegenwärtige Weltkrise verursacht haben und sie verlängern könnten.“ (Ursachen und Folgen, Bd. VIII, Dok. Nr. 1882; Aktenmaterialien hierzu in R 43 I /336 ; vgl. auch ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 247 und 248).

Wenn man davon ausgehe, daß Deutschland während einer gewissen Zeit vorübergehend fast vollständig von Reparationen befreit sei, so würde doch während dieser Periode des Wiederaufbaus die Zahl der Arbeitslosen sinken und mithin die Haushaltsbelastung von 3 Milliarden ebenfalls geringer werden. Er wisse genau, daß dies nicht von heute auf morgen eintreten würde, aber einmal würde doch der Zeitpunkt kommen, an dem sich die Lage bessere. Damit würden die Lasten Deutschlands also durch einen Zahlungsaufschub leichter werden. Dies sei seiner Ansicht nach die gegebene Lösungsmöglichkeit, während eine vollständige Streichung für ihn keine Lösung bedeute und jedenfalls nicht allein zu einer Wiederherstellung gesunder Verhältnisse führen könne. Man müsse überhaupt die ganze Frage in einem europäischen Rahmen betrachten.

Wenn man sich auf diesen Standpunkt stelle, so müsse die hier in Lausanne zu erreichende Lösung vor allen Dingen bei den Sparerschichten in ganz Europa die Überzeugung erwecken, daß die Ära der Reibungen und der Schwierigkeiten nun endgültig vorüber wäre.

Ein derartiger Zahlungsaufschub hätte auch zur Folge, daß die Reichsbahn fast ohne Schulden dastünde, und daß ihre Lasten auf jeden Fall viel leichter wären, als die irgendeiner anderen Bahn der Welt.

Außerdem würde das geflüchtete deutsche Kapital unter dem Eindruck des verstärkten Vertrauens wieder nach Deutschland zurückfließen. Er wolle nicht behaupten, daß die 8 Milliarden des Baseler Berichts samt und sonders wieder nach Deutschland zurückkämen, aber er wisse aus der Zeit der französischen Inflation und der französischen Stabilisierung, wie auch damals das französische Kapital wieder zurückgekehrt sei.

Bei einer Wiederherstellung des Vertrauens würde aber auch andererseits die Lage der deutschen Industrie erheblich erleichtert werden, denn während jetzt für alles, was die Industrie aus dem Ausland bezog, sofortige Barzahlung verlangt wurde, könnte sie dann wieder Kredite für Einfuhr nach Deutschland erhalten. Zum Schluß weise er daraufhin, daß Frankreich auch seinerseits an einer Reparationslast zu tragen habe. In Frankreich drücke sich diese Reparationslast in Form von Steuern aus, und daher sei Frankreich auch nach England das höchstbesteuerte Land, weil in der Vergangenheit Frankreich selbst das Werk des Wiederaufbaus mit eigenen Geldern durchzuführen hatte. Aus diesem Grunde wäre eine einfache Streichung der Reparationen gar nicht möglich, und daher bäte er die Deutsche Delegation, sich keinen Illusionen hinzugeben und zu glauben, daß eine Streichung in Frage käme. Es wäre besser, die Idee der völligen Streichung fallen zu lassen und andere Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Er bäte daher die Deutsche Delegation, ihrerseits ein Angebot zu machen[138] und darzulegen, wie sie sich die Lösung der Reparationsfrage denke. Bisher habe sie sich über diesen Punkt nicht geäußert. Der Augenblick dazu sei aber nunmehr gekommen. Er könne von vornherein zusichern, daß man auch französischerseits das größte Verständnis für alle deutschen Schwierigkeiten zeigen würde, und er müsse darauf hinweisen, daß man vielleicht nicht immer so verständnisvoll gesinnte Männer in der Regierung vorfinden werde. Man sähe französischerseits die Frage nicht rein finanziell und wirtschaftlich, sondern auch vom menschlichen Standpunkt aus an und wolle einem großen Volk wie den Deutschen keine unnötigen Schwierigkeiten bereiten. In diesem Sinne bäte er die Deutsche Delegation, sich zu überlegen, welche Vorschläge sie ihrerseits für die Lösung der Reparationsfrage machen könne, und würde danach seinerseits die französischen Ansichten über die Lösungsmöglichkeiten dieser Frage darlegen.

Nach Schluß der Ausführungen des Herrrn Germain-Martin verabschiedete sich Herr Reichskanzler von Papen, um seine Reise nach Berlin anzutreten9.

9

Vgl. Dok. Nr. 38, P. 2 und 40, P. 1.

Bei Wiederaufnahme der Sitzung führte Herr Herriot folgendes aus:

Er müsse in allen Punkten Herrn Germain-Martin beipflichten; man müsse nach einer vernünftigen Lösung suchen. Er erinnere sich noch gern an die Zeit von 1924, als es ihm gelungen sei, die damaligen großen Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland zu beseitigen und zu einer Entspannung der Beziehungen zwischen beiden Ländern beizutragen. Das Londoner Abkommen von 192410 habe die besten Jahre in den deutsch-französischen Beziehungen eingeleitet, und wenn es immer wieder gelingen würde, hier auf der Lausanner Konferenz ein ähnliches Ergebnis zu erzielen, so würde er außerordentlich zufrieden sein.

10

Abkommen über Annahme und Durchführung des Dawesplans. Vgl. das „Gesetz über die Londoner Konferenz“ (Londoner Schlußprotokoll und Anlagen) vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 289 ).

Die Regelung, die auf der Konferenz von Lausanne gesucht werden müsse, sei nur im gesamteuropäischen Rahmen denkbar.

Er habe viel über die Frage nachgedacht, ob eine einfache Streichung der Reparationen möglich sei. Er wisse, daß die Frage auf Deutschland laste, und er sei genug Politiker, um ihre politischen Rückwirkungen zu erkennen. Aber nach gründlicher ehrlicher Überlegung sei er zu dem Ergebnis gelangt, daß von einer Streichung der Reparationen nicht die Rede sein kann, und daß irgendwelches Liebäugeln mit dem Streichungsgedanken ein reiner Zeitverlust für die Konferenz von Lausanne wäre. Die Gründe, die ihn zu dieser Ansicht von der Unmöglichkeit der Reparationsstreichung geführt hätten, seien folgende:

1.)

Wenn die Franzosen nach Lausanne gekommen wären, um einer Streichung zuzustimmen, d. h. um vom Rechtsstandpunkt aus eine Situation zu sanktionieren, die sie vom tatsächlichen Standpunkt aus von sich abwehren wollten, so hätte ihre ganze Reise keinen Sinn gehabt.

2.)

Eine Streichung wüde völlig ungleiche Opfer von den einzelnen Nationen fordern. Nach einer Aufstellung, über die er im übrigen bereit sei, zu diskutieren, ergäbe sich für:

Italien ein Überschuß von 32 Millionen Goldm.

England ein Überschuß von 66 Millionen Goldm.

Jugoslawien ein Überschuß von 69 Millionen Goldm.

Frankreich ein Überschuß von 360 Millionen Goldm.,

auf den diese Länder im Falle einer Streichung verzichten müßten. Daher befindet sich Frankreich in Anbetracht dieser Ungleichheit der Opfer in einer ganz besonderen Schwierigkeit, und aus diesem Grunde müsse es so nachdrücklich darauf bestehen, daß von einer Streichung Abstand genommen werde.

3.)

Es würde die Einwilligung Frankreichs in eine Streichung auch andere Völker Europas, wie z. B. Jugoslawien, betreffen, das nach der eben verlesenen Aufstellung ein noch größeres Opfer zu bringen hätte als England.

Man habe schon beim Hoovermoratorium einen Vorgeschmack über die Schwierigkeiten, die sich in solchen Fällen ergeben, erhalten. Dem Hoovermoratorium habe er zwar der Idee nach zugestimmt, nach dem Mechanismus jedoch finde er es schlecht und müsse im übrigen feststellen, daß auch das Hoovermoratorium bisher keine Besserung gebracht habe. Frankreich habe beim Hoovermoratorium 300 Millionen an Jugoslawien ausleihen müssen, und daher ergebe sich bei einer Streichung der Reparationen für Frankreich analog zu den Vorgängen beim Hoovermoratorium folgende Lage: Es hätte erstens seine eigenen, ihm aus der Streichung erwachsenden Verluste zu tragen, und müsse zweitens noch gewisse andere Völker unterstützen, deren Hilferuf es sich nicht entziehen könne. Man sehe daraus, daß es sich bei den Reparationen also nicht nur um ein deutsch-französisches, sondern um ein gesamteuropäisches Problem handele.

Der vierte Grund, der absolut entscheidend für ihn (Herriot) wäre, sei das Verhältnis zu Amerika. Die Amerikaner hätten offiziell erklären lassen, daß sie zwar nichts dagegen hätten, wenn die europäischen Schulden untereinander gestrichen würden, daß sie aber ihrerseits zu einer Streichung der interalliierten Schulden nicht bereit wären11. Er bäte die Deutsche Delegation, sich doch einmal in seine (Herriots) Lage zu versetzen, wenn er seinerseits auf die Reparationen verzichtet hätte und die Amerikaner sich weigerten die französischen Schulden zu erlassen. Dann würde er zunächst einmal 1800 Millionen Frcs. an Reparationen verlieren. Diese müßten schon jetzt im Haushalt durch neue Steuern in einem Zusatzhaushalt für das jetzige Budget gedeckt werden, da die vorherige französische Regierung die deutschen Reparationszahlungen einfach in das Budget aufgenommen habe, die aber infolge des Beschlusses der Hauptgläubiger vorläufig nicht zur Zahlung gelangen würden. Man würde in einigen[140] Tagen eine Notverordnung in Frankreich herausbringen, die dem französischen Volke sehr bedeutende Opfer auferlegen würde. Im Falle einer Streichung aber blieben Frankreich die eigenen Schulden an Amerika und vor allem an die Vereinigten Staaten. Wenn er sich daran erinnere, wie lange man bei Annahme des Hoover-Jahres über die Frage, ob 3 oder 4% gezahlt werden sollten, diskutiert habe, so müsse er sagen, daß diese Dinge ihn sehr wenig hoffnungsvoll in Bezug auf eine Schuldenstreichung durch Amerika stimmten. Frankreich hätte also, wenn er seinerseits in die Streichung der Reparationen einwilligte, zunächst einmal einen Verlust von rund 2 Milliarden Frcs. aus den Reparationen. Frankreich müsse weiterhin ungefähr 2 Milliarden an England und weitere 2 Milliarden an die Vereinigten Staaten zahlen. Das seien insgesamt 6 Milliarden. Dabei würde sich sicher auch ein sehr schweres Transferproblem für Frankreich ergeben. Unter diesen Umständen sei es ihm unmöglich, in die Streichung der Reparationen einzuwilligen. Er könne einfach nicht.

11

Unter Hinweis auf diese Behauptungen Herriots ersuchte Köpke (im Auftrage Bülows, vgl. Pol. Arch. des AA, RM 5 adh. Lausanne, Bd. 1/2) den dt. Botschafter in Washington am 25. 6. telegrafisch um Stellungnahme. Prittwitz antwortete am 26. 6. u. a.: „Falls mein französischer Kollege [Claudel] hiesige Regierungsstellen offiziell nach Stellungnahme in Schuldenfrage gefragt haben sollte, so wird man ihm vermutlich so geantwortet haben, wie Herriot behauptet. Niemals hat sich eine hiesige Regierungsstelle offiziell für völlige Schuldenstreichung ausgesprochen.“ (ADAP, Serie B, Bd. XX, Dok. Nr. 167). Zur amerik. Haltung in der Reparationsfrage vgl. auch Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921–1932, S. 525 ff.

Der fünfte Grund sei folgender: Französischerseits wolle man Deutschland helfen. Man wisse aber, daß Deutschland normalerweise mächtiger, stärker und besser ausgerüstet sei. Er habe den dringenden Wunsch, aus rein menschlichen Gründen Deutschland zu helfen. Kein Argument habe ihn bei den Ausführungen des Herrn Reichsfinanzministers heute morgen so erschüttert wie die Zahl von 6 Millionen Arbeitslosen. Handelsbilanzen, Zahlungsbilanzen, Kredite und dergleichen kämen schließlich wieder in Ordnung, aber der Gedanke an die 6 Millionen Arbeitslosen, unter denen sich sicher eine große Zahl von Familienvätern befinden, die nicht einmal das Notwendigste für die Ernährung und Bekleidung ihrer Familien hätten, sei ihm doch außerordentlich zu Herzen gegangen. Er wolle helfen, aber wenn es Deutschland mit der französischen Hilfe gelungen sei, sich wieder emporzuarbeiten, dann müßte es sich auch an dasjenige Land erinnern, das ihm diese Dienste geleistet hätte, dann müßte es seinerseits auch seine Dankbarkeit zeigen.

Der Gedanke der Streichung wäre etwas durchaus Kindisches. Es sei damit keine für Frankreich irgendwie annehmbare Realität verbunden, und man müsse nach anderen Lösungen suchen. Herr Germain-Martin ergriff daraufhin noch einmal das Wort und führte aus, daß er bisher nichts über die Ansichten der französischen Delegation bezüglich Reparationslösungen gesagt habe, weil er zunächst einmal die deutschen Ansichten über die Möglichkeit von Reparationszahlungen hören wolle. Er würde dann sofort darauf seinerseits die französischen Ansichten über diese Möglichkeiten darstellen12.

12

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 40, P. 1.

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