2.9.1 (vsc1p): [Stellung zur Regierung v. Schleicher; sozialpolitische Forderungen.]

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[Stellung zur Regierung v. Schleicher; sozialpolitische Forderungen.]

Nach Begrüßung durch den Herrn Reichspräsidenten führte Herr Otte aus: Die Folgen der Not, die die Vertreter der Gewerkschaften durch ihre ständige Fühlungnahme mit den Menschen am besten spüren, seien nicht nur materielle, sondern auch moralische. Not und Hunger könnten eines Tages zu gewaltsamen Explosionen führen, wenn man nicht rechtzeitig eingreift. Der Herr Reichspräsident habe seinerzeit selbst gesagt, daß die sozialen Belange gewahrt bleiben müßten. Im Volke aber habe man das Empfinden, daß das in der letzten Zeit nicht geschehen sei. Durch den Wechsel in der Reichsregierung sei zweifellos eine gewisse Entspannung erfolgt2. Diese Entspannung müsse man durch geeignete Maßnahmen jetzt vergrößern, dann wird das Vertrauen auch der Arbeiterschaft zur Reichsregierung wachsen. Als solche Maßnahmen schlage er vor: Einführung einer Winterhilfe durch Aufbesserung der Unterstützungssätze; auf den Halden liegen Kohlenbestände, und die Scheuern sind mit einer guten Ernte gefüllt, man solle diese Dinge den notleidenden Menschen zuführen; dann Aufhebung des sozialen Teils der Notverordnung vom 4. September3; ferner ein Arbeitsbeschaffungsprogramm unter starker Betonung der Siedlung.

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Offensichtlich waren zuvor führende Christl. Gewerkschafter unter dem Eindruck, daß die NSDAP den letzten RT-Wahlkampf „restlos gegen die Reaktionsregierung“ v. Papen geführt hatte, für eine Regierungsbeteiligung der NSDAP – auch für eine durch „ausreichende Sicherungen und Abmachungen gegen ein Abgleiten in die Diktatur“ versehene Kanzlerschaft Hitlers – eingetreten (Rede Jakob Kaisers vor dem Kölner Bezirkskartell der Christl. Gewerkschaften am 12.12.1932; Nachl. Kaiser , vorl. Nr. 221). Nach der Bildung der Reg. v. Schleicher hieß es im Leitartikel des „Zentralblattes“ der Organisation jedoch: „Hitler, der Mann der großen Worte, hat sich der Verantwortung zur Tat entzogen. […] er wollte eine Regierung volksunabhängiger Macht. Volk und Arbeiterschaft haben aber kein Interesse daran, das reaktionäre Papenexperiment durch ein nationalsozialistisches Hitlerexperiment zu ersetzen, von dem man nicht weiß, ob es faschistisch, reaktionär oder kommunistisch gefärbt ist, je nach der Geisteshaltung der ausgewählten Berater. Volk und Arbeiterschaft haben nur Interesse an einem gesunden, volksverbundenen Weiterbau von Volk und Reich auf sozialer Basis.“ (Zentralblatt, Nr. 24 vom 15.12.1932, S. 309 f.; R 43 I /2024 , Bl. 420).

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Einzelheiten s. Dok. Nr. 1, Anm. 11.

Herr Imbusch: Die Stimmung in der Arbeiterschaft ist wie im Herbst 1918. Eine gewisse Entspannung ist tatsächlich eingetreten; notwendig ist, daß die[36] jetzige Regierung aus sich heraus die übelsten Dinge beseitigt. Er bitte, daß der Herr Reichspräsident seinen Einfluß in dieser Richtung geltend mache und psychologische Fehler der früheren Regierung beseitige. Zur Zeit herrsche in den Kreisen der christlichen Gewerkschaften großes Vertrauen zu der Reichsregierung und ihrem Leiter, dem Herrn Reichskanzler von Schleicher.

Herr Baltrusch betonte insbesondere die Notwendigkeit der Siedlung im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogramms. Der Gedanke der Siedlung müsse aus wirtschaftlichen wie nationalpolitischen Gründen wieder in den Vordergrund gerückt werden. – Die Reichsregierung müsse ferner eine Gesamtbilanz der Ausgaben und Belastungen des Reichs durch Kredite, Subventionen, Bürgschaften und Vorgriffe auf Steueraufkommen des Vorjahres aufstellen; davon hängt das Vertrauen zur Währung ab. Der neue Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung, Gereke, zu dem sie Vertrauen hätten, müsse sich bei seinen Maßnahmen in möglichst enger Fühlung mit den Vertretern der breiten Schichten des Volkes halten und sie zur Mitarbeit heranziehen.

Herr Kaiser: Die zu treffenden Maßnahmen müßten durch Initiative der Reichsregierung erfolgen und nicht im Wettlauf der Parteien durch den Reichstag4; das würde die Position der Reichsregierung im Volke stärken. Was das Verhältnis des Volkes zum Herrn Reichspräsidenten anlange, so müsse er betonen, daß es im Frühjahr des Jahres das größte Erlebnis war, daß das gesamte arbeitende Volk nicht nur verstandesmäßig, sondern auch aus seelischer Verbundenheit den Reichspräsidenten von Hindenburg neu gewählt hat. In diesem Vertrauensverhältnis ist durch die Regierung von Papen leider ein Rückschlag eingetreten; man hatte im Volk den Eindruck, als habe der Reichspräsident sich wieder von dem kleinen Mann getrennt. Deshalb empfinde man es jetzt als eine Erleichterung, daß eine Änderung in der Führung der Reichsregierung eingetreten sei. Herr von Schleicher habe Vertrauen bei den Arbeitern und den Gewerkschaften5. Die christlichen Arbeiter bäten den Herrn Reichspräsidenten[37] inständig, beim Volke zu bleiben und sich nicht von ihm trennen zu lassen. Wenn das Volk diese Überzeugung hat, werden wir viel Schweres leichter überwinden.

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Zum Gesamtkomplex vgl. die Eingabe des Gesamtverbandes der christl. Gewerkschaften Deutschlands an den RK vom 13.12.1932 (Druck; auch in: Zentralblatt, Nr. 24 vom 15.12.1932; R 43 I /2024 , Bl. 401–422; Entwürfe dazu in: Nachl. Kaiser , vorl. Nr. 221). Auch der Dachverband der christlichen Gewerkschaften hatte am 7. 12. dem RK und dem RArbM neben einer die Neuordnung der Arbeitslosenversicherung betreffenden Eingabe eine Entschließung „zu den politischen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Forderungen“ zur Kenntnis gebracht (R 43 I /2044 , Bl. 77–80). – Vgl. in diesem Zusammenhang, auch zur Haltung des ADGB, Dok. Nr. 1, Anm. 12.

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Im einzelnen führte Kaiser vor dem in Anm. 2 bereits genannten Gremium dazu aus: „Über Schleicher müssen wohl noch ein paar Worte gesagt werden. Zumal die Linie, die wir ihm gegenüber eingenommen, ebenfalls nicht im simplen Sinne eine geradlinige genannt werden kann. Sein Name stand mit der überraschenden Kulissengeburt der Regierung Papen in enger Verbindung. Wir standen ihm deshalb mit stärkstem Mißtrauen gegenüber. Wir haben dieses Mißtrauen auch deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Aber es drang bald durch, daß die unsoziale, reaktionäre Haltung des Papenkabinetts nicht die Haltung Schleichers war. Man sprach erneut von ihm als einem „sozialen General“. […] Schleicher setzte sich zur Beratung der Notwendigkeiten um die Regierungsbildung offiziell mit den Gewerkschaften in Verbindung. […] Ich will noch erwähnen, daß der Reichskanzler sich mit den Gewerkschaften über den neuen Arbeitsminister verständigt hat. Es sind Stimmen laut geworden, daß es richtiger gewesen wäre, wenn die Gewerkschaften, wenn insbesondere wir, einen Mann der Arbeiterschaft zum Arbeitsminister vorgeschlagen hätten. Ich habe darüber meine eigenen Gedanken: Wir sind zu positiver Mitarbeit bereit. Aber wir haben noch keine Veranlassung, uns restlos dieser Regierung zu verbinden. Es muß sich da erst noch manches klären. Wir haben volle Freiheit und Möglichkeit, in Verbindung mit dem jetzigen Arbeitsminister, dessen soziale Haltung wir kennen, unseren sozialen Willen zum Ausdruck zu bringen, ohne uns als Gewerkschaften in politische Einzelbindungen einzulassen. So wird es vorerst richtig sein. […] Ich sage noch einmal, daß wir den Eindruck mitgenommen haben, daß in General Schleicher etwas von diesem gleichen Willen und Erkennen des Volkes lebendig ist. Und ich glaube, daß auch die freien Gewerkschaften mit dem gleichen Eindruck ungefähr von Schleicher schieden.“ (Nachl. Kaiser , vorl. Nr. 221). – Zum Prestige v. Schleichers in Gewerkschaftskreisen vgl. auch Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934. S. 641.

Reichspräsident von Hindenburg versicherte, daß er immer ein warmes Herz für das Volk und für den kleinen Mann gehabt habe. Das habe er in seinem ganzen militärischen Leben immer betätigt. „Ich bin nie anders geworden und werde auch nicht anders werden.“ Die gemachten Vorschläge werde er mit warmem Verständnis und mit allem Wohlwollen prüfen, nur müsse er darauf hinweisen, daß die Finanzlage des Reichs bestimmte Grenzen setze. Er empfehle, daß die Herren die Fragen auch mit dem Reichsarbeitsminister Dr. Syrup, zu dem sie doch Vertrauen hätten, eingehend besprächen6.

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Dazu in den Akten der Rkei nichts ermittelt. – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 63.

Herr Imbusch dankte dafür und erklärte, Einzelheiten mit dem Reichsarbeitsminister, zu dem sie durchaus Vertrauen hätten, besprechen zu wollen. Er empfehle noch, daß die Regierung auch den Mittelstand, Handwerk und Gewerbe, bei der Arbeitsbeschaffung besonders berücksichtige; die Maßnahmen der früheren Regierung haben auch Verständnis für den Mittelstand vermissen lassen. Auch empfehle er Anhörung der Vertreter der Arbeitnehmer bei den zu treffenden Maßnahmen.

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