2.104.1 (ma11p): [Parlamentarische Lage.]

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[Parlamentarische Lage.]

Der Reichskanzler berichtete über die innen- und außenpolitische Lage und wies auf die Notwendigkeit hin, während der folgenden Wochen eine innerpolitische Krise zu vermeiden. Es handle sich somit darum, ein Verfahren zu finden, das eine Regierungskrisis aus der Tätigkeit des Reichstags heraus umgehen lasse.

Abgeordneter Minister a. D. Scholz führte aus, daß auch nach Auffassung seiner Partei eine möglichste Abkürzung der Beratungen des Reichstags erwünscht sei1. Die Schwierigkeit bestehe darin, daß die äußerste Rechte und die äußerste Linke Neigung zum Konflikt hegten. Allerdings sei den Sozialdemokraten scheinbar daran gelegen, eine alsbaldige Auflösung des Reichstags zu vermeiden. Am besten würde es sein, wenn der Reichstag mit der Beratung des Etats für 1924 beschäftigt werden könne. Vor allen Dingen müsse man vermeiden, daß der Reichstag mit der Vorlage betreffend Abänderung des Wahlrechts2 befaßt werde.

1

Vgl. Dok. Nr. 102, Anm. 1.

2

Entwurf eines 3. Gesetzes zur Abänderung des Reichswahlgesetzes; s. Dok. Nr. 94, P. 5.

Der Staatssekretär in der Reichskanzlei berichtete, daß nach Mitteilung des Reichsfinanzministeriums die Vorlage eines Etats erst in drei bis vier Wochen möglich sein würde. Für den Augenblick seien nur zwei Gesetze zur vorläufigen Feststellung des Etats vorgesehen3.

3

S. Dok. Nr. 105, Anm. 4.

Der Reichsminister des Auswärtigen gab auf Einladung des Reichskanzlers eine vertrauliche Schilderung der außenpolitischen Lage unter besonderer Darlegung der letzten Verhandlungen zwischen dem Botschafter von Hoesch und dem Ministerpräsidenten Poincaré. Im allgemeinen seien verschiedene Ansätze zu einer Verständigung festzustellen, insbesondere auf Grund der Einstellung des Sachverständigen-Ausschusses; doch bilde die intransigente Haltung des Ministerpräsidenten Poincaré in der Frage der Teilung der Reichsbahn noch immer den Gegenstand ernster Gefahren4. Die Nichtverlängerung der Micum-Verträge[363] bedeute für Frankreich ein sehr schwieriges Problem; England zeige die Neigung zu vermitteln, so z. B. in der Pfalzfrage und in der Frage der Kontrollkommission. Die Aussichten für die Verwirklichung der Goldnotenbank seien nicht ungünstig. Alle Hoffnungen würden aber zerstört, wenn infolge einer innerpolitischen Krisis das Vertrauen des wohlwollenden Auslands in eine lebens- und arbeitsfähige Regierung in Deutschland erschüttert und die Hoffnung bei den Franzosen erweckt würde, durch ein weiteres offensives Verhalten die letzte Widerstandskraft des Reichs zu brechen. Aus diesem Grunde müsse der Reichstag sich Zurückhaltung auferlegen und das gesetzgeberische Werk, das unter dem Ermächtigungsgesetz zustande gekommen sei, nicht umstoßen.

4

Am 11. 2. hatte der dt. Botschafter in Paris, v. Hoesch, eine Unterredung mit dem frz. MinPräs. Poincaré. Nach dem telegrafischen Bericht Hoeschs vom 11. 2. (Nr. 84) habe Poincaré dabei u. a. erklärt, die frz. Reg. sei entschlossen, das Ausbeutungssystem im besetzten Gebiet nicht abzubauen, bevor nicht deutscherseits etwas geleistet werde. Die Ausführungen Hoeschs über die Bereitwilligkeit Deutschlands, die Eisenbahn in den Dienst der Reparationen zu stellen und evtl. die Reparationssachlieferungen über eine Eisenbahnanleihe zu finanzieren, habe Poincaré mit Interesse entgegengenommen. Jedoch werde er einer Vereinheitlichung der dt. Bahnen nicht zustimmen. Aus Gründen der Sicherheit müsse eine gesonderte Verwaltung der Rheinbahnen aufrechterhalten bleiben, entweder in Form einer frz.-belg. Regie oder einer internationalen Gesellschaft (Pol. Arch. des AA, Büro RM, 5 Reparation, Bd. 17).

Abgeordneter Merck stimmte den Vorrednern im Grundsatze zu, wies jedoch auf die stark aggressiven Absichten der Rechten und der Linken im Reichstag hin und warnte vor einer beschleunigten Herbeiführung der Neuwahlen.

Der Reichsminister des Innern berichtete über die bisherige Entwicklung der Wahlrechtsvorlage5 und wies darauf hin, daß die Regierung auf Grund des Antrags des Reichsrats verpflichtet gewesen sei, den Entwurf des Wahlgesetzes vorzubereiten. Solle der Gesetzentwurf nicht weiter betrieben werden, so müßten die Parteien sich der Reichsregierung gegenüber entsprechend erklären.

5

S. Anm. 2.

Abgeordneter Minister a. D. Koch äußerte die Auffassung, daß die Wahlen zum Reichstag nach Möglichkeit nicht vor den französischen Wahlen erfolgen sollten. Ein neues Ermächtigungsgesetz käme in der Zwischenzeit nicht in Frage. Es komme daher darauf an, die Parteien in der Zwischenzeit von Konflikten mit der Reichsregierung abzuhalten. Hierzu sei erforderlich eine stete Bereitschaft der Reichsregierung zur Auflösung und ein enges Einvernehmen zwischen den Koalitionsparteien, damit, wenn es zur Krisis komme, ein geeigneter Auflösungsgrund gewählt werde.

Der Reichsarbeitsminister stimmte den Ausführungen des Vorredners zu und unterstrich die Notwendigkeit für die Koalitionsparteien, jedem Versuch des Reichstags, das Gesetzgebungswerk des Ermächtigungsgesetzes umzustoßen, entschlossen entgegenzutreten.

Der Reichsminister des Auswärtigen wies darauf hin, daß die Regierungsparteien bei etwaigen Versuchen, die Notverordnungen des Ermächtigungsgesetzes abzuändern oder umzustoßen, keinesfalls mitwirken dürften. Die Parole müsse lauten: Aufrechterhaltung der Verordnungen oder neues Wirtschaftselend, neue Inflation.

[364] Abgeordneter Becker-Arnsberg unterstrich die Notwendigkeit einer völligen Einigung zwischen Parteivertretern und Regierung. Die Koalitionsparteien seien unter sich völlig einig bis auf das Wahlgesetz, das nach der Auffassung seiner Partei unter keinen Umständen vorgelegt werden dürfe. Die Regierung müsse im übrigen den Oppositionsparteien klar zum Ausdruck bringen, daß im Augenblick einer Konfliktsdrohung der Reichstag aufgelöst würde mit der Parole: für die Gesetzgebung der Gesundung, gegen Inflation und Wirtschaftszerrüttung. Regierung und Parteien seien miteinander auf Gedeih und Verderb verbunden.

Die Aufhebung des Ausnahmezustandes bedeute eine erhebliche Erleichterung in der parlamentarischen Lage.

Abgeordneter Merck bezweifelte, ob die Aufhebung des Ausnahmezustandes auch für Bayern erwünscht sei. Er würde vom Standpunkt seiner Partei aus eine Verständigung mit den Deutschnationalen mehr begrüßen als eine solche mit den Sozialdemokraten.

Abgeordneter Erkelenz wies darauf hin, daß sich wohl eine ruhige Arbeit des Reichstags gewährleisten lasse, wenn man solche richtig organisiere und geeignetes Material beschaffe; hierzu eigne sich z. B. die Frage der Arbeitslosenversicherung.

Abgeordneter Scholz regte an, die Stellungnahme der Regierung, das Gesetzgebungswerk auf Grund des Ermächtigungsgesetzes als einheitliches Ganzes zu behandeln, in Form einer programmatischen Erklärung der Regierung zum Ausdruck zu bringen.

Abgeordneter Kempkes schloß sich dem Vorschlage des Abgeordneten Scholz an und bat nochmals, die Öffentlichkeit mit einer Wahlgesetzvorlage nicht zu beunruhigen.

Der Reichskanzler teilte mit, daß er davon Kenntnis nehme, daß die vertretenen Parteien bis auf die Demokratische Partei die weitere Behandlung des Wahlgesetzentwurfes nicht wünschten. Falls auch die übrigen Parteien eine ähnliche Stellung einnähmen, werde die Regierung durch WTB eine entsprechende Bekanntmachung veröffentlichen, und hiermit sei dann die Angelegenheit erledigt6.

6

Die Wahlgesetznovelle wird dem RT nicht vorgelegt; vgl. Dok. Nr. 115, P. 3.

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