1.168 (mu22p): Nr. 424 Staatssekretär Pünder an Reichspostminister Schätzel. 24. Januar 1930

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 12). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

RTF

[1388] Nr. 424
Staatssekretär Pünder an Reichspostminister Schätzel. 24. Januar 1930

R 43 I /300 , Bl. 355-358, hier: Bl. 355-358 Reinkonzept1

1

Das Reinkonzept trägt die Paraphe des RK.

[Betrifft: Fragen zum Young-Plan.]

Hochverehrter Herr Minister!

Sehr gern erfülle ich Ihren Wunsch nach Beantwortung der mir gestellten 5 Fragen2. Ich bitte sehr um Entschuldigung, wenn die Antwort etwas eingehender ausfällt, da man die 5 Fragen bei ihrer Bedeutung und ihrer Kompliziertheit nicht so ohne weiteres mit ja und nein beantworten kann.

2

Die im folgenden bei den entsprechenden Absätzen angeführten Fragen waren Schätzel „von prominenter Seite“ seiner Partei vorgelegt worden. Er bat Pünder, sie im Laufe der Woche zu beantworten (21.1.30; R 43 I /300 , Bl. 353 f., hier: Bl. 353 f.). Am 30. 1. fand in München eine gemeinsame Sitzung der Parteileitung und der RT- und LT-Fraktionen der BVP statt, in der das Haager Abkommen behandelt wurde (Bericht des Vertreters der RReg. München vom 31.1.30; R 43 I /2257 , Bl. 132 f., hier: Bl. 132 f.).

Zu 1 und 23: Die Deutsche Delegation hat in diesen Fragen dauernd an folgenden Leitsätzen festgehalten:

3

Die beiden Fragen lauteten: „1. Ist im Haag für den Fall der Zerreißung des Young-Plans den Franzosen das Recht von Deutschland zugebilligt worden, Sanktionen zu verhängen, d. h. unter Umständen das geräumte Gebiet wieder zu besetzen? 2. Ist es richtig, daß in dem Londoner Abkommen ein einseitiges Vorgehen eines Siegerstaates ausgeschlossen war?“

a) Der Versailler Vertrag darf für die Zukunft unter keinen Umständen mehr für Fragen der Sanktionen in Betracht kommen.

b) Für den voraussichtlich allein in Betracht kommenden Regelfall muß ausschließlich der Young-Plan, mit den in ihm vorgesehenen Revisionsbestimmungen gelten.

c) Für den vermutlich für alle Zukunft sehr unwahrscheinlichen Fall des Zerreißens des Young-Plans durch eine deutsche Regierung müssen entsprechend dem gegenwärtigen Völkerrecht ausschließlich die Regeln dieses Völkerrechts gelten.

d) Die Unterschiede zwischen den Fällen b) und c) müssen mit aller Schärfe herausgearbeitet werden, damit der Fall des Zahlungsunvermögens mit daraus entstehenden Schwierigkeiten einwandfrei zu b) gehört und unter keinen Umständen die Folgewirkungen der Ziffer c) auslöst.

Zu 1: Diese 4 Gesichtspunkte sind in der gefundenen Regelung eindeutig herausgearbeitet worden. Im Falle c) würde die dann am Ruder befindliche deutsche Reichsregierung durch den Akt des vorsätzlichen Zerreißens die Handlungsfreiheit für sich im vollen Maße in Anspruch genommen haben, und es erwächst daraus die nach den völkerrechtlichen Regeln selbstverständliche Folge der gleichen Handlungsfreiheit für den Gegner. Wenn wir also in dem Notenaustausch diese Handlungsfreiheit anerkannt haben, ist dadurch den Gläubigern,[1389] insbesondere Frankreich, nicht mehr zugestanden worden, als was ihnen schon nach dem Völkerrecht zustünde. Welche Mittel der dann mit Handlungsfreiheit ausgestattete Gegner nach dem Völkerrecht hat, ist in dessen Regeln nicht bestimmt. Theoretisch ist im Falle der völkerrechtlichen Handlungsfreiheit auch das letzte Mittel, nämlich der Krieg, nicht ausgeschlossen. Der Gegner hat aber zu prüfen, inwiefern er durch sonstige völkerrechtliche Bindungen in der Wahl seiner Mittel beschränkt ist; als solche Bindungen möchte ich z. B. auf den Völkerbundspakt, das Locarno-Abkommen und den Kellogg-Pakt hinweisen. Würde der Gegner in der Wahl seiner Mittel über das Ziel hinausschießen und z. B. ohne weiteres mit dem Krieg beginnen, so würde das zweifellos einen Verstoß gegen alle drei völkerrechtlichen Bindungen darstellen. Wie es sich mit dem Mittel der Wiederbesetzung geräumten Gebiets verhält, ist gleichfalls nicht ausdrücklich erörtert, da es überhaupt diesbezügliche Formulierungen des Völkerrechts nicht gibt. Ob also in dem extremen Fall des Zerreißens des Young-Plans durch eine deutsche Regierung die Wiederbesetzung geräumten Gebiets noch ein völkerrechtlich zuzulassendes Mittel der Ausübung der gegnerischen Handlungsfreiheit darstellt, wird von den Umständen des Falles abhängen. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß in dem Notenaustausch ausdrücklich gesagt ist, daß nur solche Mittel angewendet werden dürfen, die dem Zweck der weiteren gesicherten Durchführung des Youngplanes dienen. In dem französischen Havas-Communiqué ist bekanntlich ausdrücklich erklärt worden, daß selbst nach französischer Auffassung nur wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen in Betracht kommen, nicht dagegen kriegerische Maßnahmen und solche der Wiederbesetzung4.

4

Siehe dazu Schultheß 1930, S. 421 f.

In diesem Zusammenhang ist noch der Hinweis […]wert5, daß insofern die gegenwärtige Regelung besser ist, als wenn überhaupt nichts vereinbart worden wäre, als in letzterem Falle unsere Gegner beim Zerreißen des Vertrages durch eine deutsche Regierung ohne weiteres die völkerrechtliche Handlungsfreiheit gewonnen hätten, während sie nach den jetzt getroffenen Abreden sich zuvor dem Urteil des Haager Schiedsgerichts über die Frage des tatsächlichen Zerreißens beugen müssen6.

5

Die handschriftlich eingefügte Vorsilbe war nicht zu entziffern.

6

Siehe den Notenwechsel hierzu in RGBl. 1930 II, S. 103  f.

Zu 2: Es ist richtig, daß in dem Londoner Abkommen ein einseitiges Vorgehen eines Siegerstaates ausgeschlossen war7. Man kann vielleicht darüber streiten, ob es zweckmäßig war, in den neuen Verabredungen ein einseitiges Vorgehen zuzulassen. Persönlich stehe ich, wie ich freimütig erkläre, auf letzterem Standpunkt, und zwar aus folgendem Grunde: Wir mußten Wert darauf legen, daß alle Bezugnahmen auf Versailler Vertrag und Londoner Ultimatum in diesen Fragen ganz einwandfrei ausgeschlossen würden, und daß das künftige Verfahren den Regeln des allgemeinen Völkerrechts entsprechend gestaltet werde. Nach den allgemeinen völkerrechtlichen Regeln ist es nun unzweifelhaft, daß in einem solchen Falle, wo der eine Partner sich durch willkürlichen[1390] Akt von einem Vertrag lossagt, jeder einzelne andere Gegner die Handlungsfreiheit gewinnt, ohne an die Zustimmung anderer gebunden zu sein. Dem entspricht es also, wenn in den neuen Verabredungen das einseitige Recht jedes Gegners festgestellt worden ist.

7

Siehe vor allem Art. 2 der Anlage IV des Londoner Schlußprotokolls (RGBl. 1924 II, S. 355 ).

Zu 38: Hinsichtlich der Saarfrage wird der weitere Ablauf der Dinge nach meiner Überzeugung tatsächlich der sein, daß im Zeitpunkt der Ratifikation des Young-Planes dieser Fragenkomplex noch nicht geklärt ist, und insbesondere auch bestimmte Räumungsfristen für das Saargebiet noch nicht festliegen. Dies mag wenig erfreulich sein. Auf der anderen Seite wäre es aber bedenklich gewesen, die Saarverhandlungen von unserer Seite unter einen zeitlichen Druck zu setzen, da in dieser Frage ohne Zweifel die Zeit für uns arbeitet, indem nämlich das noch in den Händen der Franzosen befindliche Pfand nur ein zeitlich begrenztes ist und daher als Verhandlungsobjekt fortgesetzt bedeutungsloser wird.

8

Die Frage lautete: „Ist zu erwarten, daß im Zeitpunkt der Ratifikation des Young-Plans die Saarfrage noch nicht geklärt ist und insbesondere bestimmte Räumungsfristen für die Saar noch nicht festliegen?“

Zu 49: Nach dem Ergebnis der Verhandlungen im Haag ist kein Zweifel darüber möglich, daß Deutschland jederzeit die Möglichkeit hat, ein Moratorium zu verlangen, wenn es nicht mehr leistungsfähig ist, um durch dieses Verlangen zu einer Revision des Vertrages zu gelangen. Wie ich bereits zu 1) ausführte, sind diese Fälle ganz klar unterschieden von dem extremen Fall des mutwilligen Zerreißens des Vertrages.

9

Die vierte Frage: „Ist nach dem Ergebnis der Verhandlungen im Haag noch ein Zweifel darüber möglich, daß Deutschland jederzeit die Möglichkeit hat, ein Moratorium zu verlangen, wenn es nicht mehr leistungsfähig ist, und durch dieses Verlangen zu einer Revision des Vertrages zu gelangen [!] oder wird die Bestimmung so ausgelegt, daß Deutschland zwar zum Schein ein Moratorium verlangen könne, aber dann die Pflicht hat, die gestundeten Zahlungen neben den weiteren laufenden Zahlungen nachträglich zu entrichten?“

Diese Rechte Deutschlands sind keine Scheinrechte. Andererseits entspricht es aber dem Begriff eines Moratoriums und steht überdies leider mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit im Young-Plan verzeichnet, daß durch ein Moratorium gestundete Beträge nach Ablauf dieses Moratoriums nachgezahlt werden müssen10. Diese Bestimmungen des Young-Plans haben dann auch in dem sogenannten Schuldzertifikat Aufnahme gefunden. Es würde in einem solchen Falle rechtlich tatsächlich die Lage so sein, daß neben den weiter laufenden Zahlungen zunächst die gestundeten Beträge nachzuzahlen wären, d. h. also regelmäßig gesprochen, im 3. Jahre rund 2000 Millionen Annuität + 1400 Millionen Moratoriumsstundung des 1. Jahres. Daß dies ein wirtschaftlicher Unsinn ist, ist klar und auch im Haag von Seiten unserer Gegner verschiedentlich zugegeben worden. Angesichts der Formulierung des Young-Planes war aber die Formulierung einer anderen Bestimmung unmöglich. Es ist der Deutschen Delegation aber gelungen, und hierauf ist meines Erachtens ganz entscheidender Wert zu legen, daß im unmittelbaren Anschluß an diese Bestimmung auf deutschen Antrag ein Satz eingeschoben worden ist, wonach durch diese Vorschrift[1391] die Tätigkeit des Beratenden Sonderausschusses in keiner Weise getroffen werde. Der Beratende Sonderausschuß ist bekanntlich das große wirtschaftliche Organ im Anschluß an die Internationale Bank, das sozusagen als Rechtsnachfolger der Pariser Sachverständigenkonferenz zu betrachten ist und gerade in solchen Krisenfällen selbstverständlich mit anders gearteten Vorschlägen an die Parteien alsdann herantreten würde.

10

Siehe Ziffer 118 ff. des Young-Plans (RGBl. 1930 II, S. 448  ff.).

Zu 511: Hinsichtlich der Reparationskommission verweise ich auf Art. IV des Haager Paktes, wonach mit der Ingangsetzung des neuen Planes die Stelle für Reparationszahlungen und die damit in Verbindung stehende Berliner Organisation aufgehoben ist und auch die Beziehungen zwischen der Reparationskommission und Deutschland aufhören12. Der Beratende Sonderausschuß ist ganz im Gegensatz zu der in der Fragestellung anscheinend liegenden Befürchtung gerade das Organ, auf dessen praktische Tätigkeit deutscherseits der entscheidende Wert zu legen ist, da von ihm aus, wie gesagt, die Revision des Young-Planes dermaleinst ins Rollen gebracht werden wird.

11

Die Frage lautete: „Ist die Frage geklärt, ob die Reparations-Kommission endgültig verschwindet oder nur in die Form des Sonderausschusses der Bank für internationale Zahlungen umgewandelt wird?“

12

Siehe RGBl. 1930 II, S. 87  f.

Mit den ehrerbietigsten Empfehlungen, hochverehrter Herr Minister, verbleibe ich

Ihr

P[ü]n[der]

Extras (Fußzeile):