1.4 (str1p): Das Rumpfkabinett Stresemann

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 21). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

Das Rumpfkabinett Stresemann

Nach dem Rücktritt der sozialdemokratischen Minister am 2. November151 stellte sich die Frage, ob eine neue parlamentarische Mehrheit für die Regierung Stresemann durch Hereinnahme der Deutschnationalen möglich sein würde. Erhebliche Teile der DVP-Fraktion plädierten unter heftiger Kritik an Stresemann für diesen Weg. Da aber weder die Deutschnationalen noch Stresemann hierzu bereit waren152 und die Deutsche Volkspartei trotz aller Rechtstendenzen in der Fraktion ebenso wie das Zentrum und die Demokraten an Stresemann festhalten wollten, blieb nur der Weg einer parlamentarisch nicht abgesicherten Minderheitsregierung. Von den drei Ressorts, die durch das Ausscheiden der Sozialdemokraten vakant geworden waren, wurde nur das Innenministerium, allerdings nicht sofort, wieder besetzt. Stresemann schlug für diesen Posten trotz der Bedenken der Demokraten153 den aus dem besetzten Gebiet ausgewiesenen Duisburger Oberbürgermeister Jarres vor, der am 11. November ernannt wurde. Er stand dem rechten Flügel der Deutschen Volkspartei nahe und sollte einen erheblichen Einfluß auf die Rheinlandpolitik Stresemanns gewinnen.

151

Dok. Nr. 216.

152

Dok. Nr. 268.

153

Dok. Nr. 228.

Alle Spekulationen, daß ein Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Regierung und ein Vorgehen gegen die Kommunisten in Sachsen eine Entspannung der Einstellung Bayerns gegenüber dem Reich bewirken würde, erwiesen sich als falsch. Mit der Alarmmeldung, die 7. bayerische Division werde den Marsch nach Berlin unternehmen, wenn nicht binnen 48 Stunden eine neue Regierung gebildet sei, wurde am 3. November Stresemann aus einer Kabinettssitzung zu einer Unterredung mit Ebert und Seeckt gerufen154. Ebert wollte die Reichswehr gegen Bayern aufmarschieren lassen. Dem versagte sich Seeckt jedoch mit dem Hinweis, daß sie hierzu „sowohl nach Zahl wie nach[XLIX] Stimmung unserer Truppen“ nicht in der Lage sei. Wenn sich die Meldung von der beabsichtigten Aktion der bayerischen Division auch noch am gleichen Tage als unrichtig herausstellte, so mußte Stresemann doch aus der Weigerung Seeckts, Reichswehr gegen rebellierende Truppen aufmarschieren zu lassen, einen deutlichen Eindruck von den Grenzen der Staatsloyalität der Reichswehr erhalten. So erklärte Seeckt am gleichen Tage dem in Berlin die Chancen einer nationalen Diktatur sondierenden bayerischen Polizeiobersten Seißer, daß er den Krieg von 1866 nicht wiederholen wolle155. Das war deutlich genug. Dennoch marschierte die Reichswehr gegen Bayern auf, allerdings nicht gegen die 7. Division, die nicht zum Marsch auf Berlin antrat, da Lossow ihr einen solchen Befehl nur geben wollte, wenn er sicher war, daß sich die Reichswehr insgesamt hinter die Proklamierung einer nationalen Diktatur stellte, wohl aber gegen die südlich der thüringischen Grenze stehenden nationalistischen Kampfverbände. Am 6. November begann mit Einwilligung Eberts der Einmarsch von Reichswehrtruppen nach Thüringen. Er hatte den doppelten Zweck, die in Bildung begriffenen proletarischen Hundertschaften aufzulösen und die Grenze gegen Bayern abzuschirmen. Hier spitzte sich die Lage zu. Zwar warnte Stresemann in einer Ministerbesprechung vom 5. November156 vor einer Überschätzung der Bedrohung, die die Anwesenheit rechtsradikaler Verbände um Koburg darstellte, schloß aber nicht aus, daß es zu einem bewaffneten Konflikt kommen und sich in Norddeutschland ähnliche Putschversuche wiederholen könnten wie der am 1. Oktober gescheiterte Versuch des Majors Buchrucker157, sich der Festung Küstrin zu bemächtigen. Seiner Beteuerung den Ministerkollegen gegenüber, daß „eine vollkommene Sicherung geschaffen sei“, läßt sich entnehmen, daß er sich der Loyalität der in Sachsen und Thüringen stehenden vier Reichswehrregimenter versichert hielt. Die Spannung löste sich, und der bayerische Druck auf Berlin wurde genommen durch das Vorpreschen Hitlers in München und das Scheitern seines Putschversuches vom 9. November, der im Reich ohne Resonanz blieb. Dessen unmittelbares Ergebnis war in Berlin die Übertragung der vollziehenden Gewalt an Seeckt158 und in München die Ausschaltung der Nationalsozialisten, die Diskreditierung Kahrs und das offene Zerwürfnis zwischen diesem und Ministerpräsident Knilling159. Allerdings ergab sich aus der Frage der Zuständigkeit für die strafrechtliche Verfolgung der Putschisten ein neuer Konfliktstoff zwischen München und Berlin. Der Ansicht des Reichsanwalts, daß die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs gegeben sei, schloß sich die Reichsregierung an, während die bayerische Regierung und ihr Justizminister Gürtner der Meinung waren, daß der Fall vor ein bayerisches Volksgericht gehöre160.

154

Dok. Nr. 217 und Anhang 1.

155

Deuerlein, Hitlerputsch, Dok. Nr. 79.

156

Dok. Nr. 222.

157

Dok. Nr. 97.

158

Dok. Nr. 231; 232.

159

Zu den Münchener Vorgängen die Berichte der dortigen Reichsvertretung Dok. Nr. 235, 239, 248, 256.

160

Dok. Nr. 248; 268; 277.

[L] Gravierend für das Schicksal der Regierung Stresemann war das bayerische Problem aber von nun an nicht mehr. Wenn die Aussichten für einen Fortbestand des Rumpfkabinetts von vornherein schlecht waren, so lag der Grund darin, daß die Sozialdemokraten mit ihrem Ausscheiden aus der Regierung sofort in Opposition gegangen waren; hatte doch Sollmann bereits in der Kabinettssitzung vom 1. November erklärt, daß keineswegs mit einer wohlwollenden Neutralität gerechnet werden könne. Noch schärfer hatte in der Fraktionssitzung vom Vortage Reichstagspräsident Löbe die Forderung erhoben, mit dem Ausscheiden aus der Koalition „zum reinen Klassenkampf“ zurückzukehren. Es war nicht möglich, einen „modus vivendi“ mit den Sozialdemokraten zu finden, wie Stresemann zunächst gehofft hatte161. So lief die Frage nach der Dauer des Rumpfkabinetts darauf hinaus, ob und wie lange es Stresemann möglich sein würde, ohne Reichstag zu regieren. Eine Möglichkeit, Zeit zu gewinnen, bestand darin, die nächste Sitzung des Reichstages, der zuletzt am 13. Oktober getagt hatte, möglichst lange hinauszuschieben162. Auf Antrag der Sozialdemokraten, die nach dem Hitlerputsch erst recht mit ihrer angekündigten Opposition ernst machen wollten, setzte der Reichstagspräsident die nächste Sitzung auf den 20. November fest163. Für diese Sitzung war mit Mißtrauensanträgen der Kommunisten, der Sozialdemokraten und der Deutschnationalen zu rechnen. Welche taktischen Möglichkeiten boten sich der Regierung? Es lag nahe, vom Reichspräsidenten für den Eventualfall eine Auflösungsordre zu erbitten, ähnlich wie sie Stresemann vor dem Ermächtigungsgesetz erhalten hatte, um den Reichstag unter Druck zu setzen. Stresemann hat einen solchen Gedanken wiederholt erwogen164. Es läßt sich jedoch weder aus den Akten der Reichskanzlei noch aus anderen Überlieferungen feststellen, ob er mit einem solchen Gesuch wirklich an den Reichspräsidenten herangetreten ist. Möglicherweise hat er mit dem Reichspräsidenten die Auflösungsfrage erörtert, ohne direkt eine Auflösungsordre zu erbitten. Stresemann hat selber wie auch andere Kabinettsmitglieder Zweifel geäußert, ob die Auflösung und die dann notwendige Durchführung von Neuwahlen insbesondere im Hinblick auf das besetzte Gebiet zweckmäßig seien und ob überhaupt Neuwahlen zu einer arbeitsfähigeren Parteienkonstellation im Reichstag führen würden165. Eine andere[LI] taktische Überlegung Stresemanns ging davon aus, daß die unterschiedlich begründeten Mißtrauensanträge der verschiedenen Parteien wahrscheinlich jeweils keine Mehrheit auf sich vereinen würden. Stresemann war zunächst geneigt, in diesem Falle zu lavieren und im Amt zu bleiben166, entschloß sich aber schließlich, den Reichstag durch die Vertrauensfrage zu einer klaren Stellungnahme zu zwingen167, falls tatsächlich die Sozialdemokraten trotz des vom Reichspräsidenten unternommenen Versuchs, sie davon abzuhalten168, einen Mißtrauensantrag stellen sollten. Das im Reichstag von den bürgerlichen Koalitionsparteien eingebrachte Vertrauensvotum wurde nach einer glänzenden, aber wirkungslosen Rede Stresemanns am 23. November mit 151 gegen 231 Stimmen bei 7 Enthaltungen abgelehnt. Ohne verfassungsrechtlich hierzu gezwungen zu sein – es lag kein Mißtrauensbeschluß des Reichstages gemäß Artikel 54 der Reichsverfassung vor –169, zog das Kabinett die politische Konsequenz aus der parlamentarischen Lage und demissionierte am gleichen Tage169a. Es blieb noch bis zum Antritt der Regierung Marx am 30. November geschäftsführend im Amt170.

161

Vermächtnis, Bd. 1, S. 193.

162

Dok. Nr. 222; 242.

163

Dok. Nr. 242.

164

Dok. Nr. 214; 224; 268 sowie hier Anm. 44, 55, 56.

165

Reichspressechef Kalle hielt es für ausgeschlossen, daß der Reichspräsident dem Reichskanzler, wenn dieser darum gebeten hätte, die Auflösungsvollmacht verweigert hätte: „der Herr Reichskanzler hätte darin sicherlich einen Mangel an Vertrauen des Herrn Reichspräsidenten erblickt und seine Konsequenzen gezogen“. Information des Reichspressechefs vom 20. November, Stresemann-Nachlaß, Bd. 4; nach Stockhausen, 6 Jahre Reichskanzlei, S. 95 hingegen soll Stresemann zuletzt gewillt gewesen sein, „dem Drängen der energischen Ministerkollegen von Brauns bis Koeth entsprechend, den Reichstag aufzulösen. Da fiel ihm Ebert in den Rücken, dem die eigenen Parteigenossen inzwischen die Hölle heiß gemacht hatten, und verweigerte ihm die Genehmigung.“ Von einer Ablehnung der Ermächtigung zur Reichstagsauflösung spricht auch H. Bernhard in Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, S. 244.

166

Dok. Nr. 268.

167

Dok. Nr. 278.

168

Dok. Nr. 268.

169

Vgl. G. Anschütz, Kommentar zur Reichsverfassung (141933), der ausdrücklich auf den Fall Stresemann eingeht.

169a

Dok. Nr. 279.

170

Über die Verhandlungen zur Bildung des ersten Kabinetts Marx in der Zeit vom 23. – 30. 11. s. G. Abramowski, Die Kabinette Marx I und II, Einleitung.

Extras (Fußzeile):