2.111.1 (wir1p): Tagesordnung: Oberschlesien.

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Tagesordnung: Oberschlesien2.

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Am 12. August hatte der in Paris tagende Oberste Rat der Repko die Lösung der oberschlesischen Frage an den Völkerbund überwiesen (Art. 88 VV sah die Grenzziehung auf Grund der Volksabstimmung durch die alliierten und assoziierten Hauptmächte vor); am 20. Oktober 1921 übersendet der Völkerbundsrat dem Obersten Rat sein Gutachten, nachdem vorher aus verschiedenen Quellen Gerüchte über ungünstige Teilungspläne nach Deutschland gelangt waren.

Reichsminister Dr. Rosen referiert über die Berichte, die von Legationsrat Meyer aus Genf über die voraussichtliche Entscheidung des Völkerbundrats in der oberschlesischen Frage zugegangen sind. Absolut sichere Nachrichten wären nicht vorhanden, doch spräche die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Entscheidung in einem für uns ungünstigen Sinn ausfallen würde3. Die französische Diplomatie sei sehr rührig gewesen; die an der Entscheidung des Völkerbundrats beteiligten Diplomaten seien schon vor ihrer Reise nach Genf entsprechend[311] bearbeitet worden. Die Sitzungen in Genf seien mehr oder weniger nur ein Schauspiel gewesen. Botschafter Sthamer habe auf seine Anweisung den Urlaub unterbrochen und sei mit eingehenden Instruktionen nach London gefahren. Er werde das englische Kabinett über die weitragende praktische Bedeutung einer für uns ungünstigen Entscheidung nicht im Zweifel lassen4. Ob noch viel zu erreichen sei, wäre zweifelhaft. Vor Optimismus müsse gewarnt werden. Vor morgen früh würde eine Mitteilung über die Haltung der englischen Regierung kaum vorliegen können. Der Reichskanzler erklärt, daß vor Eingang der Meldung aus London keine definitiven Entschlüsse gefaßt werden können. Reichsminister Schiffer führt aus, daß alle Mittel, die eine für uns günstige Entscheidung noch herbeiführen könnten, erschöpft werden müssen. Dazu gehöre evtl. auch der Rücktritt des Kabinetts. Der Reichskanzler erklärt, er hätte vor einigen Tagen sich dahin geäußert, daß eine unglückliche Lösung der Oberschlesischen Frage nicht nur das Ende des Kabinetts, sondern auch eine Wendung der ganzen Politik bedeuten würde5. Er wolle es sich überlegen,[312] ob diese Erklärung in Form einer Drohung zu wiederholen sei. Vizekanzler Bauer führt aus, daß jede Krisenpolitik gefährlich sei. Die früheren Beispiele geben Anlaß zur Warnung. Er sehe nicht ein, daß die Grundlagen der bisherigen Politik zerstört seien. Im Reichstag würde sicher eine Mehrheit für das Kabinett zu finden sein. Eine Drohung mit dem Rücktritt sei jetzt nur dann angebracht, wenn man sich noch eine Einwirkung auf eine günstige Entscheidung hiervon verspreche.

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Über die Berichte des LegR Meyer findet sich in den Akten die folgende, unsignierte Aufzeichnung für den RPräs. vom 7.10.1921, die einer Notiz Hemmers zufolge diesem von MinDir. Behrend am 11. 10. übergeben wird: „Auf Grund der Berichte des nach Genf entsandten LegR Meyer stellt sich das Bild der Völkerbunds-Verhandlungen über Oberschlesien gegenwärtig wie folgt dar: – Es sind 2 Sachverständige ernannt worden, die als Grundlage für die weiteren Beratungen ein Gutachten über die oberschlesische Frage zu verfassen haben. Diese Sachverständigen sind ein Schweizer namens Herold und auffallenderweise ein Tscheche namens Hodacz, also der Vertreter eines Landes, das an der Regelung der oberschlesischen Frage unmittelbar interessiert ist. Beide Sachverständige unterliegen durchaus französischem Einfluß, der Tscheche mehr noch als der Schweizer. So erklärte Hodacz kürzlich nach seiner Rückkehr aus Paris dem deutschen Sachverständigen Geisenheimer gegenüber ganz offen, Kattowitz, Beuthen und Königshütte müßten an Polen fallen. – Beide Sachverständige haben nach ihren eigenen Äußerungen die Aufgabe, einen Vorschlag auszuarbeiten, wie nach Ziehung einer politischen Grenze in Oberschlesien die Einheit des oberschlesischen Wirtschaftsgebietes, besonders in Bezug auf Verkehr und Währung aufrecht erhalten werden kann. – Dem Vernehmen nach haben die Sachverständigen einen Vorschlag in Bearbeitung, durch den das Zentralrevier mittels einer Nordsüdlinie in der Weise geteilt wird, daß etwa 2/5 mit den Städten Kattowitz, Königshütte und Beuthen an Polen fallen. Ferner soll das an Polen abzutretende Gebiet wirtschaftlich für eine längere Übergangszeit unter internationale Kontrolle gestellt und zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens deutsche Hilfe auf allen Gebieten, insbesondere auf verkehrstechnischem und sozialem Gebiet, sowie in der Währungsfrage zur Verfügung gestellt werden. Die deutsche Mark soll mit Hilfe der Reichsbank alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel bleiben. Deutschland will man zu dieser Hilfe durch folgende Zusagen gewinnen:

1. Lieferung der zur Versorgung erforderlichen Kohlenmengen aus dem abzutretenden Gebiet. 2. Das bisherige deutsche Eigentum wird nicht liquidiert. 3. Die Einwohner werden vom Militärdienst befreit. – Den von Deutschland abgetretenen Teilen sollen auch die früher tschechischen jetzt polnischen Gebiete zugeschlagen und aus dem so geschaffenen ganzen Gebiet ein besonderes Wirtschaftsgebiet im polnischen Staat gebildet werden. – An die Spitze der wirtschaftlichen Verwaltung soll ein Wirtschaftsrat gestellt werden, dem neben Deutschen und Polen auch Tschechen als Mitglieder angehören sollen. – Es liegt auf der Hand, daß diese letzten Vorschläge auf Einwirkung des tschechischen Vertreters zurückzuführen sind. Die Tschechen sind an er Regelung der oberschlesischen Frage unmittelbar interessiert und wollen anscheinend jetzt die Gelegenheit benutzen, für eigene Zwecke besondere Vorteile aus dem oberschlesischen Handel herauszuschlagen und auf diesem Wege den tschechischen Einfluß auch auf die ihnen bisher entzogene oberschlesische Industrie auszudehnen. – Diese ganze von den Sachverständigen geplante Regelung schafft ein völlig lebensunfähiges Gebilde, das nach eigenem Eingeständnis seiner Erfinder nur mit Hilfe des in diesem Gebiete nicht mehr souveränen früheren Besitzers über Wasser gehalten werden kann. – Vor allem ist der Plan, die deutsche Mark mit Hilfe der Reichsbank als alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel gelten zu lassen, eine völlige Unmöglichkeit. Die Reichsbank ist ein privates Bankunternehmen; sie kann gegen ihren Willen nicht gezwungen werden, als Notenbank in einem Lande zu dienen, welches der deutschen Souveränität nicht untersteht. Die freiwillige Übernahme einer derartigen Verpflichtung wird sie aber ablehnen. Damit ist aber die Aufrechterhaltung der deutschen Währung im abgetretenen Gebiete ausgeschlossen. Es liegt auf der Hand, daß die wirtschaftliche Nutzung des polnischer Souveränität unterstehenden Gebietes durch nichtpolnische Organe selbst beim besten Willen aller Beteiligten notwendigerweise zu fortdauernden Reibungen, ja zu Schlimmerem führen müssen. Eine friedliche Entwicklung der Dinge in diesem Winkel Europas wird damit unmöglich gemacht, dauernde ernste Gefahren werden heraufbeschworen. – Der ganze Vorschlag ist künstlich konstruiert und steht im schroffen Gegensatz zu den wirtschaftlichen Notwendigkeiten, wie sie von der Deutschen Regierung immer wieder betont und von hervorragenden englischen, amerikanischen und neutralen Sachverständigen wiederholt anerkannt worden sind. – Die deutschen Vertreter in London, Rom, Paris und Madrid haben Anweisung erhalten, gegen die Weiterverfolgung dieses bekanntgewordenen Planes der beiden Sachverständigen bei den Regierungen ernsteste Vorstellungen zu erheben. In gleicher Weise bemühen sich die in Genf anwesenden Vertreter des Auswärtigen Amtes sowie die deutschen Sachverständigen aus Oberschlesien, allen an der Bearbeitung der oberschlesischen Frage beteiligten Faktoren des Völkerbundes das Unsinnige dieses Planes klarzumachen.“ (R 43 I /360 , Bl. 23-26). Auch die Presse zeigte sich über die zu erwartende Entscheidung stark beunruhigt; eine Zussmmenstellung von diesbezüglichen Presseartikeln findet sich bei Laubach, Kabinette Wirth, S. 319.

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Am 6. Oktober 1921 hatte Minister Rosen sich in einem privaten Schreiben an Lord Curzon darum bemüht, England für eine deutschlandfreundlichere Oberschlesienpolitik als die zu erwartende zu gewinnen. Dieser private Brief und eine vom 10.10.1921 datierte Antwort Curzons, er habe sich aus der Diskussion um Oberschlesien herausgehalten, ist in den Memoiren Rosens abgedruckt (Rosen, Wanderleben, Bd. 3/4, S. 394).

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In einem in der Basler Nationalzeitung und über WTB veröffentlichten Interview des RK vom 7. 10. hatte Wirth abschließend ausgeführt: „Inzwischen blicken alle Augen in Deutschland nach Genf. Eine Entscheidung, die unserem guten Rechte nicht entspricht, würde nicht nur jede Möglichkeit eines Wiederaufstiegs für das unglückliche Oberschlesien vernichten, sie würde auch das demokratische friedliche Deutschland ins Herz treffen. Gebe Gott, daß sich diese deutsche und auch europäische Lebensfrage zum Guten wende.“ (R 43 I /360 , Bl. 5).

Reichsminister Schiffer erklärt sich damit einverstanden, daß vor weiteren Entschlüssen die Meldungen aus London abgewartet werden. Reichsminister Rathenau hält die sofortige Rücktrittserklärung für richtig. Nur eine Demission könne vielleicht noch in London wirken, irgend eine andere Kundgebung würde ihren Zweck verfehlen. Auch innerpolitisch sei die Rücktrittserklärung dringend erwünscht, da das Volk eine Handlung der Regierung erwarte. Er selbst würde nicht eine Stunde mit der Erklärung der Demission warten, sei aber mit Rücksicht auf die Stimmung im Kabinett damit einverstanden, daß ein definitiver Entschluß erst morgen Vormittag gefaßt werde6.

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Die Nachrichten gehen erst am 12.10.1921 ein (s. Dok. Nr. 111).

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