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Text

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Die deutsch-polnischen Handelsvertragsverhandlungen.

I.

Bisherige Entwicklung der Verhandlungen.

In den seit 2 Jahren mit Polen schwebenden Handelsvertragsverhandlungen erstreckte sich das Hauptinteresse des Verhandlungsgegners auf die Bewilligung von 4 Forderungen:

1. Veterinärpolizeiliche und zolltarifarische Einfuhrerleichterungen bei lebendem Rindvieh, Schafen und Schweinen sowie bei von diesen stammendem frischen und zubereiteten Fleisch.

2. Einräumung eines Kohlenkontingents in beinahe der Höhe, wie es durch das Versailler Diktat dem deutschen Bergbau aufgezwungen war2.

2

Vgl. diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 56, P. 1.

3. Herabsetzung der Holzzölle, insbesondere des Schnittholzzolles um 60% der autonomen Sätze.

4. Herabsetzung der Getreidezölle um etwa 66% der autonomen Sätze.

Zu diesen Forderungen nahm das Reichskabinett in seinen Beratungen im Oktober 19263 folgendermaßen Stellung:

3

Vgl. Dok. Nr. 90, P. 1.

1. Es wurde einmütig beschlossen, bei Getreide die Sätze des Bülow-Tarifes nicht zu unterschreiten.

[690] 2. Es wurde die Möglichkeit eines nennenswerten Entgegenkommens auf dem Gebiete der Schnittholzzölle verneint.

3. Ein Kohlenkontingent in Höhe von etwa 200 000 Tonnen wurde für tragbar erachtet.

4. Die Einfuhr von lebenden Tieren sowie von frischem Rindfleisch wurde aus Gründen des Seuchenschutzes abgelehnt. Hingegen wurde beschlossen, wöchentlich 1000, also jährlich 52 000 Stück geschlachteter Schweine für den Verbrauch in Oberschlesien und darüber hinaus eine nicht kontingentierte Einfuhr von geschlachteten Schweinen in besonders zu bestimmende Wurstfabriken anzubieten. (Das Maß der hier zu erwartenden Einfuhr wurde auf bis 600 000 Stück Schweine geschätzt.)

Schließlich wurde zur taktischen Behandlung der Angelegenheit der Beschluß gefaßt, die Bereitwilligkeit in der Frage der Kohleneinfuhr den Polen gegenüber noch nicht zum Ausdruck zu bringen, hingegen die Beschlüsse hinsichtlich der Einfuhrerleichterungen für Schweinefleisch sofort in vollem Umfange dem Verhandlungsgegner als deutsches Angebot zu unterbreiten. Von diesem Entgegenkommen erhoffte man eine entsprechende Nachgiebigkeit der bis dahin auf der ganzen Linie ablehnenden Polen sowohl in den Fragen der Niederlassung wie der polnischen Vertragszollsätze.

Diese Hoffnung blieb unerfüllt. Von einigen wenigen, unbedeutenden Zugeständnissen zolltariflicher Art abgesehen wurden die alten Forderungen unverändert aufrecht erhalten und das deutsche Angebot als völlig unzureichend bezeichnet. Bei dieser Sachlage wurden die Verhandlungen noch einige Wochen fortgeschleppt, bis dann infolge der polnischen Ausweisungspraktiken deutscherseits der Abbruch vollzogen wurde4.

4

Siehe Dok. Nr. 182, P. 4 und Nr. 185.

II.

Taktische Gesichtspunkte für die Wiederaufnahme der Verhandlungen.

Der mit dem geschilderten Vorgehen beabsichtigte Zweck wurde wie gesagt nicht erreicht. Mein Herr Amtsvorgänger5 hat gemeinsam mit dem damaligen Herrn Reichsminister des Innern6 in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht, daß die Zugeständnisse auf dem Gebiete der Viehwirtschaft sowohl mit Rücksicht auf die Seuchengefahren wie auch auf die wirtschaftlichen Schädigungen die Grenze des Entgegenkommens darstellen müßten. Nichtsdestoweniger wurde gleich dieses äußerste Entgegenkommen angeboten und damit zum Ausgangspunkt der Verhandlungen gemacht, ein Verfahren, das die deutsche Delegation in eine immer schwierigere Lage hineinmanövriert hätte, wenn die Angelegenheit nicht durch den Abbruch der Verhandlungen zum Stillstand gekommen wäre.

5

Haslinde.

6

Külz.

Diese Schwierigkeiten werden voraussichtlich wiederkehren. Es wird außerordentlich schwer sein, von dem einmal erfolgten Angebot wieder abzugehen. Die Gegenseite wird ohne Zweifel bei Wiederaufnahme der Verhandlungen[691] darauf verweisen, daß deutscherseits bereits Einfuhrerleichterungen für etwa 600 000 Schweine angeboten worden sind und wird versuchen, von diesem Angebot ausgehend noch weitere Zugeständnisse im Verhandlungswege zu erzielen oder aber zum mindesten dieses Angebot auch im endgültigen Vertrage festzulegen. Derartige Versuche müssen unter allen Umständen vereitelt werden.

Die Verhandlungen wurden abgebrochen, weil Polen kein Entgegenkommen zeigte in einer Frage, die bei allen Handelsverträgen selbstverständliche Voraussetzung für die besonderen Regelungen der Ein- und Ausfuhr ist: die Meistbegünstigung auf dem Gebiete der Niederlassung und der Ein- und Ausreise. Es steht zu befürchten, daß diese bei Meistbegünstigungsverträgen völkerrechtlich übliche Voraussetzung in einem etwa zustandekommenden deutsch-polnischen Handelsvertrage nicht erreicht wird. Mit Rücksicht auf diese Abweichung von dem üblichen allgemeinen Teil der Handelsverträge muß Deutschland hinsichtlich des besonderen die zolltarifarischen Fragen regelnden Teiles sich eine Behandlung auf neuer Grundlage vorbehalten.

Das deutsche Angebot auf Einfuhrerleichterung für Schweine ist ausdrücklich in der Erwartung gemacht worden, daß hinsichtlich des Niederlassungsrechts Deutscher in Polen und der sonstigen politischen Forderungen (Liquidationen usw.) eine Regelung vereinbart wird, die vielleicht zwar nicht de jure, aber doch mindestens de facto deutschen Staatsangehörigen eine gleiche Behandlung zusichert wie den übrigen Ausländern. Diese Erwartung ist nicht erfüllt worden. Damit ist auch das deutsche Angebot sachlich ungültig geworden.

Demzufolge haben auch der Kabinettsrat am 15. März 19277 und das Kabinett am 31. März 19278 den erfolgreichen Abschluß der diplomatischen Verhandlungen über die Ausweisung und Niederlassung zur Vorbedingung für die Wiedereröffnung von Wirtschaftsverhandlungen mit Polen gemacht.

7

Siehe Dok. Nr. 201.

8

Siehe Dok. Nr. 215, P. 9.

Ein Handelsvertrag mit Polen, welcher auf dem Gebiete der Niederlassung, der Ein- und Ausreise wichtige Rechte, die zur Meistbegünstigung gehören, unerfüllt läßt, würde zu einem gefährlichen Präzedenzfall für alle nachfolgenden Handelsvertragsverhandlungen werden.

Ich komme hiernach zu der Auffassung, daß bei der etwaigen Wiederaufnahme der deutsch-polnischen Handelsvertragsverhandlungen taktisch folgendes Vorgehen ratsam und notwendig ist:

1. Diese Verhandlungen sind als völlig neuer Versuch zur Regelung der beiderseitigen Handelsbeziehungen aufzufassen. Die früheren Angebote und Absprachen, die unter anderen Voraussetzungen erfolgten, sind hinfällig.

2. Es muß den Polen in aller Schärfe und Klarheit vor Augen geführt werden, daß ein Handelsvertrag, der im allgemeinen Teil die deutschen Interessen nicht befriedigt, für Deutschland wertlos und unannehmbar ist.

3. In dem Umfange, in dem etwa die in den Handelsverträgen üblichen allgemeinen Voraussetzungen in einem zustandekommenden deutsch-polnischen Handelsvertrage eingeschränkt werden, müssen im besonderen Teil auch deutscherseits entsprechende Forderungen geltend gemacht werden.

[692] III.

Vorteile und Nachteile eines deutsch-polnischen Handelsvertrages.

Viele hunderte von Eingaben landwirtschaftlicher Organisationen9 haben mir Veranlassung gegeben, neben der Erwägung der taktischen Gesichtspunkte die sachlichen Interessen der deutschen Wirtschaft in ihrer Gesamtheit an einem Handelsvertrage mit Polen in meinem Ressort nachprüfen zu lassen.

9

In R 43 I /1106  und R 43 I /2425  befinden sich zahlreiche Eingaben des Reichslandbundes, des Dt. Landwirtschaftsrats sowie regionaler und lokaler Landwirtschaftsverbände zu den dt.-poln. Handelsvertragsverhandlungen. Sämtliche Eingaben wenden sich gegen dt. Konzessionen an Polen auf dem Gebiet agrarischer Einfuhren, insbesondere bei der Schweine- und Schweinefleischeinfuhr.

Diese Prüfung bestätigte zunächst meine Auffassung, daß die Gewinnmöglichkeiten, die sich der deutschen Wirtschaft durch eine Erhöhung ihres Absatzes nach Polen nach Abschluß eines Handelsvertrages bieten würden, als verhältnismäßig gering veranschlagt werden müssen.

Um über seine Währungsschwierigkeiten hinwegzukommen und seine Handels- und Zahlungsbilanz aktiv gestalten zu können, hat Polen namentlich seit Beginn des Jahres 1926 seine Einfuhr durch Erlaß von Einfuhrverboten und Erhöhung von Zollsätzen zu prohibitiver Höhe außerordentlich abgedrosselt. Diese Drosselung traf alle am Export nach Polen beteiligten Länder und hatte eine Verminderung der absoluten Höhe ihrer Einfuhrposten nach Polen zur Folge. Während die Ausfuhr um 30 Millionen Goldzloty und damit um 4% gegenüber dem Vorjahr stieg, ist die Einfuhr um 700 Millionen Goldzloty und damit um 44% gegenüber dem Vorjahre gesunken. Demgegenüber betrug, selbst unter der Wirkung des Zollkrieges10, der Rückgang des deutschen Exportes nach Polen nur 42%, erreichte also nicht einmal den allgemeinen Prozentsatz der polnischerseits vorgenommenen Einfuhrbeschränkungen.

10

Der Zollkrieg zwischen Dtld. und Polen dauerte seit dem Juni 1925 an. Vgl. diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 115, P. 3.

Es zeigt sich also, daß der Rückgang der deutschen Ausfuhr nach Polen nicht so sehr eine Folge des Zollkrieges als vielmehr die Wirkung der allgemeinen polnischen Einfuhrbeschränkung gewesen ist, ja, daß es Deutschland sogar gelang, trotz des Zollkrieges mit seinen Exporten noch um geringes hinter dem allgemeinen Rückgang zurückzubleiben.

Diese Tatsache wird auch seitens der an einem Handelsvertrag mit Polen interessierten Exportindustrien nicht in Abrede gestellt, es wird jedoch darauf verwiesen, daß in den letzten Monaten des Jahres 1926 die polnische Einfuhr wieder ständig angestiegen sei, daß man demzufolge in Kürze wieder mit besseren Absatzbedingungen zu rechnen hätte.

Diese Schlußfolgerung dürfte sich als falsch erweisen. Die polnische Handelsbilanz entwickelte sich in den ersten beiden Monaten des laufenden Jahres im Vergleich zum Dezember 1926 folgendermaßen:

in Millionen Goldzloty

Einfuhr

Ausfuhr

Bilanz

Dez. 1926:

91,0

118,8

+27,8

Jan. 1927:

107,69

114,79

+7,09

Febr. 1927:

111,99

116,39

+4,4

Es zeigt sich deutlich, daß diese Einfuhrsteigerung bei einem gleichzeitigen Rückgange der polnischen Ausfuhr die Aktivität der polnischen Handelsbilanz bereits wieder in Frage gestellt hat. Diese neuerliche Einfuhrsteigerung zwingt Polen also bereits wieder zur Preisgabe seiner mit Mühe erreichten Aktivität in der Handelsbilanz.

Will die polnische Regierung ihre Währung aufrecht erhalten, so muß sie unter allen Umständen für einen Ausgleich in der Handelsbilanz Sorge tragen, und dies wird sie, wie bisher schon, am ersten wieder auf der Einfuhrseite versuchen, die ihrer Willensbestimmung in ganz anderem Umfange überlassen ist als eine Steigerung ihrer Ausfuhr. Wird dieser Ausgleich nicht erzielt, so drohen neue Währungswirren, die gleichfalls eine Senkung der ausländischen Importmöglichkeit nach Polen bedeuten.

Die Einnahmen im polnischen Staatshaushalt beliefen sich:

Dezember1926

auf

233Millionen Goldzloty

Januar1927

auf

191Millionen Goldzloty

Februar1927

auf

165Millionen Goldzloty

Selbst für den Fall, daß es gelänge, durch Aufnahme größerer Auslandskredite einige Zeit hindurch eine Passivität der Handelsbilanz ohne diese Gefahr in Kauf zu nehmen, wird einmal diese Möglichkeit nur für kurze Zeit bestehen, zum anderen werden gerade diejenigen Länder, die die Kredite gewährt haben – und hierfür kommt Deutschland nicht in Frage – größten Wert darauf legen, daß Polen seinen Zuschußbedarf bei ihnen deckt.

Aus diesen Überlegungen gewinne ich die Überzeugung, daß Deutschland selbst bei voller Ausnutzung seiner relativ günstigen örtlichen Lage zu Polen, selbst unter der Voraussetzung, daß es die gleichen Importmöglichkeiten erhält wie andere mit Polen politisch befreundete oder durch Kreditgewährung wirtschaftlich verbundene Länder, und schließlich selbst unter voller Würdigung der durch die deutsche Exportkreditversicherung geschaffenen Exporterleichterungen, angesichts der von der polnischen Regierung durchgeführten und aufrechtzuerhaltenden allgemeinen Importdrosselung keine größeren Exportmöglichkeiten erzwingen kann als sie in den Jahren 1924 und 1925 vor dem Zollkrieg bestanden. Der bei Eintreffen aller dieser Voraussetzungen durch einen Handelsvertrag deutscherseits zu erzielende Gewinn gegenüber 1926 würde sich also auf höchstens 100–120 Millionen Mark belaufen können.

Diesen für den Verkehr zweier so bedeutender Wirtschaftsgebiete verhältnismäßig unbedeutenden Gewinnmöglichkeiten stehen beträchtliche Verlustaussichten gegenüber.

Hier sei zunächst betont, daß bereits vor Eintritt des Zollkrieges im Handelsverkehr zwischen beiden Ländern eine starke Passivität zu Ungunsten[694] Deutschlands bestand. Der Wert der deutschen Einfuhr aus Polen war um 25–35% größer als der Wert der deutschen Ausfuhr nach Polen. Dieses für Deutschland ungünstige Verhältnis wurde auch durch den Zollkrieg nicht beseitigt. Bedenkt man, daß Polen gleichzeitig seine Gesamteinfuhr erheblich gesenkt hat, daß aber diese Maßnahme keine Erhöhung der für Deutschland vorhandenen Passivität in den beiderseitigen Handelsbeziehungen zur Folge haben konnte, dann erscheinen die Wirkungen des deutsch-polnischen Zollkrieges doch in einem etwas anderen Lichte, als es gewöhnlich seitens der am Export interessierten Wirtschaftskreise dargestellt wird.

Würde somit ein deutsch-polnischer Handelsvertrag diese Passivität der deutschen Handelsbilanz zu Polen, die sich im Jahre 1926 bereits auf 91 Millionen Mark belief, voraussichtlich noch erhöhen, so wäre damit schon der deutschen Allgemeinheit eine Last auferlegt, die den höchstens mit 120 Millionen Mark zu veranschlagenden Gewinn einzelner deutscher Exportindustrien volkswirtschaftlich völlig aufheben würde.

Darüber hinaus brächte aber eine auch nur teilweise Bewilligung der polnischen Forderungen Wirkungen für die deutsche Wirtschaft im allgemeinen, für die deutsche Landwirtschaft im besonderen mit sich, die ein Vielfaches an Schädigungen hervorrufen würden, als an Gewinnaussichten bei Abschluß eines Handelsvertrags überhaupt besteht.

Bei seiner dünnen Bevölkerung (in Polen leben je qkm 75,3 Menschen, in Deutschland hingegen 134,1) besitzt das Land einen agrarischen Exportüberschuß, der, wenn er zum erheblichen Teil seinen Weg nach Deutschland fände, die gesamten Absatz- und Preisgrundlagen und damit die Grundlage der Rentabilität der deutschen Landwirtschaft vollständig zu stören und in Unordnung zu bringen vermag.

Auf dem Gebiete der Ackerbauproduktion hat Polen z. B. eine größere Roggenanbaufläche als Deutschland. Und obwohl es bei extensiver Betriebsweise nur 80% der deutschen Gesamterträge erzielt, vermag es einen ungleich größeren Anteil dieser Erzeugung ins Ausland zu überführen. Das Angebot an polnischem Roggen ist in Polen selbst und auf dem Weltmarkte gerade in den Monaten nach der Ernte zeitweise so dringend, daß diese Frucht zu jedem Preise abgegeben wird. Es darf darauf verwiesen werden, daß nach den amtlichen Preisermittlungen der Produktenbörse in Rotterdam beispielsweise im August/September 1926 deutsch-polnischer Roggen frei Rotterdam zu einem Preise von 8,30 M je Ztr. gehandelt worden ist. Polnischer Roggen nahm dem deutschen Roggen in Jahren einer Überschußerzeugung infolge dieser Schleuderkonkurrenz den größten Teil seiner Exportmöglichkeiten weg. Bedenkt man, daß, von dem Wirtschaftsjahre 1926/27 abgesehen, das Roggenproblem noch keineswegs gelöst ist, da bereits im nächsten Wirtschaftsjahre wieder sowohl in Polen wie in Deutschland wie im Jahre 1925/26 eine Überschußerzeugung stattfinden kann, dann wird man bereits die allein auf diesem Gebiet der deutschen Landwirtschaft drohenden Gefahren nicht hoch genug veranschlagen können.

Denn Exportmöglichkeiten für Roggen sind heute nur in ungleich geringerem Umfange gegeben als vor dem Kriege. Ein Teil des vor dem Kriege als[695] Roggenkäufer auftretenden Auslandes (Nordfrankreich, Belgien, Holland, Skandinavien) hat sich dem Weizenkonsum zugewandt, und soweit deutscher und polnischer Roggen im Auslande zu Futterzwecken erworben wurde, hat er seine Absatzmöglichkeiten dadurch verloren, daß angesichts der Weltüberproduktion an Mais dieses wertvolle Futtergetreide jetzt einen relativ so tiefen Preisstand aufweist wie vor dem Kriege niemals, und daher naturgemäß von den Züchtern und Mästern bevorzugt wird.

Hat Polen bereits in dem knappen Herbst 1926 zu 8,30 M je Ztr. frei Rotterdam verkauft, so wird es in Jahren einer Überschußerzeugung sicherlich nicht zu höheren Preisen verkaufen, es wird daher versuchen, das einzige noch maßgebende Roggenkonsumland der Welt, Deutschland, mit seiner Überschußerzeugung, gleichgültig zu welchen Preisen, zu beliefern. Da aber die klimatische und natürliche Gleichartigkeit der Vegetationsbedingungen in beiden Ländern im allgemeinen auch in Deutschland eine Überschußernte bedingt, wenn in Polen eine solche vorliegt, würde somit auf einen unabsetzbaren deutschen Roggenüberschuß noch derjenige Polens treffen, wenn hinsichtlich der Einfuhrmöglichkeiten den Polen irgendwelche Erleichterungen gewährt würden. Die Roggenkrise des Wirtschaftsjahres 1925/26 mit ihren verhängnisvollen Auswirkungen nicht nur landwirtschaftlicher, sondern allgemeinwirtschaftlicher Art dürfte noch zu gut in Erinnerung sein, als daß es vonnöten wäre, auf die Auswirkungen einer solchen Tatsache hier näher einzugehen.

In ähnlicher Weise macht sich die geringe Bevölkerungsdichte Polens auf seine Exportmöglichkeiten in Kartoffeln bemerkbar. Bei der intensiven Hackfruchtkultur der ehemals deutschen, jetzt polnischen Provinzen erzeugt Polen die höchste Kartoffelquote je Kopf der Bevölkerung. Es erntete im Durchschnitt der letzten 5 Jahre 10,4 dz je Kopf, während Deutschland nur 5,75 dz erzeugte. Nun ist bekannt, daß bereits in normalen Jahren ein großer Teil der deutschen Kartoffelerzeugung nicht abzusetzen ist. Nachdem die Verwertung in den Brennereien und in den sonstigen technischen Nebengewerben eine beträchtliche Einschränkung erfahren hat, und nachdem auch der Verbrauch von Speisekartoffeln bei weitem nicht mehr den Umfang der ersten Nachkriegszeit erreicht, um wieviel mehr müssen diese Verhältnisse in Polen eintreten, das fast das Doppelte der deutschen Erzeugung pro Kopf der Bevölkerung erzielt, selbst wenn man berücksichtigt, daß angesichts der tieferen Lebenshaltung der Verbrauch von Kartoffeln zu Speisezwecken erheblich größer ist und auch der Schwund mehr vernichten dürfte. Bedenkt man fernerhin, daß die Spirituserzeugung infolge Rückgang des Branntweinverbrauchs auch in Polen auf 25% der Vorkriegsproduktion zurückgegangen ist und daß die Leistungsfähigkeit der polnischen Stärke- und Flockenfabriken gegenüber der zu bewältigenden Überschußproduktion nicht ins Gewicht fällt, so versteht man, daß Polen mit aller Macht bestrebt ist, sich ein Ausfuhrventil für seinen gewaltigen Überschuß zu erschließen. Auch hier wird Deutschland zunächst als das gegebene Absatzgebiet betrachtet. Denn einmal ist in den anderen Ländern Europas der Kartoffelverbrauch erheblich geringer als in Polen und Deutschland, und weiterhin sind die Anforderungen an die Beschaffenheit der Ware in den sonst als Abnehmer in Frage kommenden Gebieten, namentlich in England und der Schweiz,[696] so außerordentlich hoch, daß sie von der polnischen Kartoffelerzeugung im allgemeinen nicht erfüllt werden können.

Deutschland aber hat bekanntlich bereits in normalen Jahren einen Kartoffelüberschuß, den es nur zu bewältigen vermag, wenn seine verarbeitende Industrie und seine Brennereien voll leistungsfähig sind und sich schließlich beträchtliche Verfütterungsmöglichkeiten ergeben. Selbst in dem besonders ungünstigen Jahre 1926/27 ist eine fühlbare Knappheit an Speiseware nirgendwo eingetreten. Lediglich der Beschäftigungsgrad der verarbeitenden Gewerbe wies Veränderungen gegenüber normalen Jahren auf.

Kann somit festgestellt werden, daß Deutschland ständig seinen Gesamtbedarf an Kartoffeln zu decken vermag, so bleibt noch zu berücksichtigen, daß die Absatzmöglichkeiten für den überwiegend im Osten stattfindenden Kartoffelbau dadurch erheblich beeinträchtigt werden, daß die Hauptabsatzbezirke des rheinisch-westfälischen Industriegebietes in stärkstem Umfange mit den Ausfuhrüberschüssen Hollands und Belgiens beschickt werden. Der deutsche Kartoffelbau leidet bereits unter dieser Beschränkung seiner Absatzmöglichkeiten außerordentlich, und die Lage ist zur Zeit für ihn nur deshalb erträglich, weil die Einfuhr der billigen polnischen Überschußerzeugung durch Kampfzölle gesperrt ist. Würde diese Einfuhrmöglichkeit in einem deutsch-polnischen Handelsvertrage wieder eröffnet, so würde der deutsche Kartoffelbau von allen Seiten einem drückenden Wettbewerb ausgesetzt sein, dem er angesichts der tiefen Lebenshaltung gerade der polnischen Konkurrenten, den man mit Recht als ein soziales Dumping ansprechen kann, nicht gewachsen wäre. Auch hier würde bei der Gleichmäßigkeit der Entwicklungsbedingungen in beiden Ländern die polnische Einfuhr immer dann besonders dringend sein, wenn deutscherseits bereits eine Überschußproduktion vorliegt.

Somit ergibt sich für die Beurteilung der Versorgungsverhältnisse beider Länder die Feststellung, daß an den wichtigsten Erzeugnissen des osteuropäischen Ackerbaues, an Roggen und Kartoffeln Deutschland und Polen zusammen in normalen Jahren eine ihren gemeinsamen Eigenbedarf weit überschreitende Überschußproduktion aufweisen. Der erzeugte Überschuß ist in dem dünner besiedelten Polen pro Kopf der Bevölkerung ungleich höher als in Deutschland. Er belastet daher die polnische Erzeugung erheblich härter. Deutschland deckt jedoch normalerweise seinen Bedarf an diesen beiden Ackerbauerzeugnissen vollständig. Die Betriebs- und Rentabilitätsverhältnisse innerhalb der deutschen Landwirtschaft haben sich auf diese Versorgungslage eingestellt. Schwere Erschütterungen und große Kapitalverluste müßten die Folge sein, wenn das Deutsche Reich sich lediglich zu dem Zwecke, um dem polnischen Landwirt einen Teil der durch die Überschußproduktion auf ihm ruhenden Last abzunehmen, zur Abnahme von Erzeugnissen bereitfinden würde, an denen es selbst bereits ein Exportinteresse besitzt.

Die Tatsache, daß sowohl Deutschland wie Polen in den verflossenen Jahren keine ausreichenden Absatzmöglichkeiten für diese Ackerbauerzeugnisse besaßen, zwang beide Länder dazu, die überschüssigen Mengen auf dem Wege der Verfütterung bestmöglich zu verwerten, brachte sie somit in heftigsten Wettbewerb zueinander auch auf dem Gebiete der Viehwirtschaft. Gerade auf[697] der Grundlage der Überschußerzeugung an Roggen und Kartoffeln erwuchs in beiden Ländern in raschem Tempo eine Schweinezucht, die in Polen den Eigenbedarf der Bevölkerung bereits weitgehend übersteigt, in Deutschland hingegen den ungleich größeren Konsum schon zu decken vermag.

Die polnische Delegation beziffert ihren derzeitigen Exportüberschuß an Schweinen selbst auf 1,6 Millionen Stück, in Wirklichkeit dürfte er noch höher sein. Denn die angeblichen Bestandsziffern, die sich 1924 auf etwa 5,5, 1926 auf etwa 8 Millionen Stück Schweine, für dieses Jahr also auf 40% des derzeitigen deutschen Schweinebestandes beliefen, würden an sich noch keinen Exportüberschuß zulassen, da Polens Bevölkerung etwa 43% der des Reiches ausmacht. Mithin könnte, selbst bei der Annahme eines geringeren Eigenverbrauches pro Kopf der Bevölkerung, ein so starker Exportüberschuß nicht bestehen, wenn die polnischen Bestandsziffern zuträfen.

Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall. Denn einmal ist in Polen seit 1921 keine amtliche Viehzählung mehr erfolgt, alle späteren Berichte beruhen auf Schätzungen. Darüber hinaus weist jedoch eine von Krolikowski, Ministerialdirektor der Wirtschaftsabteilung des polnischen Ackerbau- und Domänenministeriums, verfaßte Schrift „Die Landwirtschaft in Polen“11 nach, daß Polen bereits im Jahre 1924 nicht weniger als 336 468 tons Schweine exportiert hat, d. h. also bei Zugrundelegung eines Durchschnittsgewichtes pro Schwein von 180 bis 220 Pfd. nicht weniger als 3,4 Millionen Stück Schweine.

11

Anm. der Vorlage: „Publikation des Ministeriums für Ackerbau und Staatsdomänen der polnischen Republik, Serie A, Nr. 16, Warschau 1925, S. 71.“

[…]

Demzufolge ergibt sich, daß der polnische Schweineüberschuß, der sich bereits im Jahre 1924 auf 3,4 Millionen Stück belaufen hat, im Augenblick noch beträchtlich größer sein muß, da bisher eine ständige Erweiterung vorgenommen wurde und der Eigenverbrauch nicht wesentlich anstieg. Diese Überschußproduktion versuchte man naturgemäß im Auslande unterzubringen. Insbesondere exportierte man nach den in erster Linie als Abnehmer für Schweinefleisch in Frage kommenden Märkten Groß-Britanniens. Seit etwa einem halben Jahre sind jedoch die Exportmöglichkeiten dorthin so gut wie verschlossen, zumal vor allem die hochwertigen Anlieferungen aus Kanada, Südamerika und Neuseeland fast die gesamte englische Nachfrage auf sich gezogen haben. Die polnischen Schweinelieferungen als die qualitativ minderwertigsten fielen demzufolge als erste aus der englischen Nachfrage aus, ihnen folgten diejenigen Sowjet-Rußlands, Deutschlands, Hollands und Dänemarks. Alle diese Länder leiden jetzt unter den Wirkungen einer nicht abzusetzenden Überproduktion, und sie alle versuchen, in erster Linie Deutschland als Absatzgebiet zu gewinnen. Erhält eines von ihnen Erleichterungen zugestanden, dann werden die anderen unverzüglich auf Grund des ihnen gewährten Meistbegünstigungsrechtes Ansprüche auf gleiche Zugeständnisse erheben und nicht ohne weiteres mit dieser Forderung abzuweisen sein.

Die somit zur Zeit außerordentlich umworbene deutsche Nachfrage nach Schweinefleisch und Mastschweinen kann aber bereits vollständig aus deutscher[698] Erzeugung gedeckt werden. Wie in der den Herren Kabinettsmitgliedern zugegangenen nachdrücklichen Vorstellung des Deutschen Landwirtschaftsrates vom 23. Februar 192712 schlüssig dargelegt worden ist, ist ein Bestand von 19½ Millionen Schweinen, von denen etwa 13 Millionen zum Verkauf gelangen, ausreichend, um den derzeitigen, gegenüber der Vorkriegszeit etwas geringeren Schweinefleischbedarf der deutschen Bevölkerung vollauf zu decken. Wie labil die Versorgungslage auf Grund dieser gesteigerten Eigenproduktion geworden ist, bewies die Tatsache, daß bereits die drohende Aussicht des Abschlusses eines Handelsvertrages mit Polen in Verbindung mit einigen Äußerungen des deutschen Verhandlungsleiters13 den Anstoß geben konnten zu Massenverkäufen, die mangels ausreichender Aufnahmefähigkeit des Marktes in wenigen Tagen Preisstürze bis zu 25% des Wertes eintreten ließen. Ein derartiges Abgleiten der Preise hätte niemals eintreten können, wenn tatsächlich zwischen dem Bedarf und der Eigenerzeugung noch größere Spannungen bestanden hätten.

12

Dt. Landwirtschaftsrat an den RK, 23.2.27, betr. Dt.-poln. Handelsvertrag, in R 43 I /1106 , Bl. 164–176.

13

StS a. D. Lewald.

Bilden somit diese Vorgänge der letzten Wochen einen Beweis für die nahezu vollständige Deckung des derzeitigen deutschen Eigenbedarfes, so zeigen sie auf der anderen Seite deutlich die Folgen, die eintreten müßten, wenn den polnischen Forderungen auch nur zu einem nennenswerten Teil stattgegeben würde. Die Schweinepreise sind in Deutschland in ganz kurzer Zeit um etwa 20 M je Ztr. Lebendgewicht gefallen. Selbst wenn man annimmt, daß wieder eine leichte Erholung eintreten könnte und daß sich für den Durchschnitt des laufenden Wirtschaftsjahres nur eine Senkung um 10 M ergeben sollte, so bedeutete dies bei einer Verkaufsmenge von 13 Millionen Schweinen zu durchschnittlich je 2 Ztr. noch immer 260 Millionen M, also bereits mehr als das Doppelte des bestenfalls durch den Handelsvertrag erzielten Exportgewinns14.

14

Dazu hschr. Randbemerkung, wahrscheinlich von MinR Feßler: „Die Preissenkung kommt den deutschen Verbrauchern zugute, ist also kein nationaler Verlust.“

Neben dieser unmittelbaren wirtschaftlichen Wirkung etwaiger den Polen zu gewährenden Einfuhrerleichterungen dürfen alle jene mittelbaren Schädigungen und Beeinflussungen der deutschen Viehwirtschaft nicht außer acht gelassen werden, wie sie durch eine auch nur vorübergehende Erleichterung der Veterinärbestimmungen heraufbeschworen würden. Selbst die höchst unvollkommene, die eigenen Verhältnisse sicher aber auch nicht zu pessimistisch darstellende polnische Viehseuchenstatistik ergibt, daß am 15. Januar 1927 nicht weniger als 3268 Gehöfte gegenüber 328 am 15. Juni 1926 verseucht waren. Auf Grund der Seuchenverhältnisse in Polen hat die Tschechoslowakei erst vor kurzem Einfuhrverbot erlassen.

Neben den Wirkungen, die sich mir bei einer Prüfung des deutsch-polnischen Handelsvertrages auf wirtschaftlichem Gebiete als unabweisbar bevorstehend ergeben, wenn die polnischen Forderungen ganz oder nur zum wesentlichen Teil erfüllt werden, muß ich aber auch auf die politische Bedeutung hinweisen,[699] die diesem Vertragsschlusse zukommt. Der durch einen Vertrag zu erzielende Vorteil, der Welt dargetan zu haben, daß Deutschland bereit ist, seine Wirtschaftsbeziehungen mit Polen zu regeln und auszugestalten, muß nach allen Erfahrungen, die mit diesen Beweisen guten Willens gerade in rein wirtschaftlichen Fragen bisher gemacht werden konnten, als verhältnismäßig unbedeutend veranschlagt werden. Jedenfalls fällt er nicht ins Gewicht im Vergleich zu den Nachteilen, die sich nationalpolitisch wie auch auf dem Gebiete der inneren Politik ergeben würden, wenn durch ein Nachgeben in den Handelsverträgen die von mir befürchteten Folgen tatsächlich eintreten sollten.

Ich darf voraussetzen, daß sämtliche Herren Kabinettsmitglieder mit mir der Auffassung sind, daß die politische Zukunft des deutschen Ostens direkt abhängig ist von der Lösung des Problems der Ansiedlung eines möglichst dichten Gürtels treudeutschen und bodenständigen Bauerntums. Polen weist einen ungleich größeren Geburtenüberschuß auf als das Deutsche Reich. Die Bevölkerung Polens zeigt somit die Tendenz einer raschen Vermehrung, die ohne Zweifel seitens der polnischen Regierung dazu benutzt werden wird, Polens Ansprüche auf Vergrößerung seines Gebiets auf Kosten Preußens zu begründen. Hierfür spricht bereits die bezeichnende Tatsache, daß noch im Jahre 1925 der Unterstaatssekretär und Professor an der Universität Lemberg Dr. Ignatz Weinfeld in seinem statistischen Werke „Polen“15 durchgängig zur Republik Polen hinzugerechnet hat: ganz Litauen, Ruthenien, ganz Posen einschließlich der jetzigen Provinz Grenzmark, ganz Westpreußen, den Regierungsbezirk Oppeln, den Regierungsbezirk Allenstein, Galizien, wie schließlich Schlesien östlich der Oder, und auf diese Weise sowohl hinsichtlich des Gebiets als der Bevölkerungsziffer Ergebnisse erzielt, die Gebiet und Bevölkerung des preußischen Staates nicht unerheblich übertreffen. Für den nationalen Bestand nicht nur des deutschen Ostens, sondern des deutschen Volkes überhaupt ist es unter diesen Verhältnissen zwingende Notwendigkeit, den polnischerseits unternommenen Zersetzungs- und Auflösungsversuchen diesseits der deutschen Grenze ein wirkungsvolles lebendiges und lebensfähiges Bollwerk entgegenzustellen.

15

Anm. der Vorlage: „Warschau, Bibliotheka Polska 1925, S. 5 ff.“

Lebensfähig kann dieses Bollwerk aber nur sein, wenn die Grundlagen, die dem ostdeutschen Siedler für seine wirtschaftliche Betätigung von der Natur zugewiesen sind, der Anbau von Roggen und Kartoffeln sowie die Schweinemast, ihm soviel Rentabilität lassen, daß er sich auf seiner Scholle zu halten und den weiteren Bestand seiner Familie zu sichern vermag.

Gerade diejenigen Betriebszweige also, in denen Polen seine Hauptforderungen angemeldet hat, sind es, von denen auch der ostdeutsche Siedler und damit die Zukunft des deutschen Ostens abhängt. Wird die Bedeutung dieser natürlichen Grundlagen der landwirtschaftlichen Betriebsführung in Ostdeutschland zerstört, dann ist eine Siedlung unmöglich. Mit dem Bollwerk entschwände aber auch jene wirtschaftliche und politische Sicherungsmöglichkeit gegenüber polnischen Bedrohungen.

[700] Ein weiterer außerordentlich bedeutsamer nationalpolitischer Gesichtspunkt wäre damit gegeben, daß für den Fall einer Erfüllung der polnischen Forderungen in der überwiegend agrarischen und überwiegend vom Roggen- und Kartoffelbau sowie von der Schweinemast lebenden Provinz Ostpreußen notwendigerweise das Gefühl aufkommen müßte, vom Reiche verlassen zu sein und allein auf verlorenem Posten zu kämpfen. Schon jetzt bildet sich in dieser Provinz ein gewisses spezifisch ostpreußisches Heimatgefühl heraus, das naturgemäß hervorgerufen werden muß durch das Bewußtsein, vom Reiche abgetrennt zu sein durch einen Gürtel fremden Volkstums, der über 200 km breit ist.

Die Frage, ob und wie weit Ostpreußen deutsch bleiben wird, ist identisch mit der Frage, ob und wie weit diese Provinz wirtschaftlich lebensfähig erhalten werden kann. Die Rentabilität der ostpreußischen Landwirtschaft und damit ihre wirtschaftliche Existenzmöglichkeit wurde bereits vor dem Kriege und wird heute noch erheblich mehr durch die ungünstige Fracht und Marktlage der Provinz beeinträchtigt. Im Vergleich hierzu hätte der polnische Erzeuger nur etwa die Hälfte der mit dem Transport und der Fracht verbundenen Belastung auf sich zu nehmen. Der Transport eines Waggons Roggen von Ostpreußen nach Berlin würde einer Frachtbelastung von 3,14 RM per 100 kg unterliegen, der eines Waggons polnischen Roggens von der Grenze nach Berlin nur 1,59 RM für 100 kg kosten. Die entsprechenden Frachtsätze für Kartoffeln sind 1,25 RM für 100 kg und 0,59 RM für 100 kg, das Verhältnis für Schweine ist 270,20 RM und 119,80 RM für einen Waggon Schweine (40 Stück à ca. 2 Ztr.). Würde den polnischen Forderungen Rechnung getragen, so müßte die Erzeugung der schwer um ihr Deutschtum und um ihren Bestand ringenden Provinz in ihren Absatzmöglichkeiten von der polnischen Konkurrenz völlig überflügelt werden, eine Tatsache, die die politische Entwicklung endgültig zu Ungunsten Deutschlands wenden müßte.

Schließlich darf ich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß eine Erfüllung der polnischen Forderungen auch innerpolitisch die größten Schwierigkeiten mit sich bringen müßte. Die Schweinemast bildet das Kernstück des Kleinbetriebes, und es könnte in den Kreisen des Kleingrundbesitzers und der Landarbeiter nicht verstanden werden, wenn eine deutsche Regierung gerade das Rückgrat der wirtschaftlich schwächsten Betriebe einer nur geringen Gewinnmöglichkeit weniger Exportzweige zum Opfer bringen würde. Der bereits jetzt auf Grund der Beunruhigung der Winzer und der teilweisen Preisgabe der Interessen der Obst- und Gartenbauer entstandene Eindruck, als würden die Interessen des landwirtschaftlichen Kleinbesitzes durch die Regierung vernachlässigt, müßte dann eine entscheidende Verstärkung und Bestätigung erfahren. Es bedarf nicht der Betonung, daß diese Tatsache Schwierigkeiten innerpolitischer Art mit sich bringen müßte, deren Folgen verhängnisvoll werden könnten.

Alle angeführten Erwägungen haben mich die Überzeugung gewinnen lassen, daß bei den Handelsvertragsverhandlungen mit Polen einem volks- wie schließlich auch privatwirtschaftlich nicht ins Gewicht fallenden Exportinteresse von höchstens 120 Millionen Mark Nachteile wirtschaftlicher und politischer Art von vielfach größerem Ausmaße gegenüberstehen.

[701] Demzufolge vermag ich auf Grund dieser Überlegungen die Auffassung nicht zu teilen, als sei es im Interesse der Volkswirtschaft erforderlich, mit Polen unter allen Umständen zu einem Handelsvertrag zu gelangen. Ich bin vielmehr der Überzeugung, daß ein Handelsvertrag überhaupt nur dann abgeschlossen werden sollte, wenn die mit ihm für das deutsche Reich verbundenen Lasten nicht über die Verpflichtungen der Meistbegünstigung unter Voraussetzung des gleichen Zugeständnisses auf polnischer Seite hinausgehen. Das bedeutete lediglich Zugeständnisse zolltarifarischer Art, die bereits anderen Ländern gegenüber gemacht worden sind; außerdem ist für den deutschen Kartoffelbau ein seiner Bedeutung angemessener höherer Schutz vorzusehen. Dagegen müßte jede vertragliche Erleichterung auf veterinärpolizeilichem Gebiet ausgeschlossen sein.

Sollte es nicht möglich sein, unter diesen Bedingungen mit Polen zu einem Vertragsschluß zu gelangen, möchte ich den vertragslosen Zustand und selbst die Fortsetzung des Zollkrieges für das kleinere Übel gegenüber einem Vertrage betrachten, dessen Wirkungen ganz oder teilweise im Sinne meiner Befürchtungen verlaufen müßten16.

16

Zu dieser Denkschrift des REM übersandte RWiM Curtius am 5. 5. dem StRkei eine ausführliche Stellungnahme; siehe Dok. Nr. 228.

Schiele

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