1.216.1 (ma32p): 1. Bergbaufragen.

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1. Bergbaufragen.

Der Reichskanzler betonte einleitend die besondere Vertraulichkeit der Behandlung dieses Beratungsgegenstandes.

Der Reichsarbeitsminister berichtete eingehend über den Stand der seit mehreren Tagen im Gange befindlichen Verhandlungen vor der Schlichtungskammer über die Regelung der Arbeitszeit und die Lohnfrage im Ruhrbergbau. Er führte aus, daß die Verhandlungen sich überaus schwierig gestalteten und daß sie möglicherweise zu ernsten Komplikationen führen würden1. Er suche einen Ausweg zur Erleichterung dieser Schwierigkeiten und glaube eine Möglichkeit hierzu durch die Schaffung eines Lastenausgleichs in der Sozialversicherung[1424] des Kohlenbergbaus finden zu können. Man könne nämlich daran denken, für den Kohlenbergbau die Beiträge zur Invalidenversicherung, die 4% des Lohnes ausmachen, zu Lasten des Versicherungsträgers um die Hälfte zu ermäßigen, so daß 2% des Lohnes frei würden. Der Versicherungsträger werde dadurch mit 30 Millionen jährlich belastet. Dieser könne die Mehrlast aus vorhandenen Überschüssen bis zum Jahre 1932 ohne weiteres tragen, so daß jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt eine Belastung der Reichskasse nicht in Frage kommen könne. Da der Reichstag aufgelöst sei, komme für die Durchführung einer solchen Maßnahme nur der Weg des Artikel 48 der Reichsverfassung in Frage. Zunächst müsse natürlich das Schlichtungsverfahren seinen Fortgang nehmen. Der Schiedsspruch werde wahrscheinlich noch am gleichen Tage gefällt werden2. Angesichts des Umstandes, daß es in seiner Auswirkung zu schweren Erschütterungen des gesamten Wirtschaftslebens kommen könne, durch Aussperrungen und Streik, halte er es für die Pflicht der Reichsregierung, sich schon jetzt grundsätzlich darüber schlüssig zu werden, ob sie den von ihm vorgezeichneten Weg der Herbeiführung eines Lastenausgleichs in der Sozialversicherung durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten für zulässig und für zweckmäßig halte. Es sei für ihn und seine Haltung während des Schlichtungsverfahrens auch überaus wertvoll, über die Einstellung des Kabinetts zur Sache unterrichtet zu sein, zumal wenn er von einem Kabinettsbeschluß bei den bevorstehenden taktischen Verhandlungen, wenn auch nur unter Beobachtung[1425] größter Zurückhaltung, einen ihm geeignet erscheinenden Gebrauch machen könne.

1

Die zur Beilegung des Tarifkonflikts im Ruhrkohlenbergbau am 11.4.28 eingeleiteten Schlichtungsverhandlungen hatten zu keiner Einigung geführt. Die von den Bergarbeiterverbänden geforderte Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung – Einführung der Siebenstundenschicht unter Tage und der Achtstundenschicht über Tage – wurden von den Arbeitgebern als wirtschaftlich nicht tragbar abgelehnt (DAZ Nr. 171/172 vom 13.4.28). Der Schiedsspruch des Schlichters wurde für den 14. 4. erwartet.

2

Am 14. 4. wurde der Schiedsspruch im Arbeitszeit- und Lohnstreit des Ruhrbergbaus gefällt. Er sah im wesentlichen Folgendes vor: 1) Die Arbeitszeit der Arbeiter über Tage, soweit sie unmittelbar mit der Förderung zu tun haben, beträgt 8 Stunden. Die Arbeitszeit in den übrigen durchgehenden Tagesbetrieben beträgt 9½ Stunden ab 1.5.28, 9 Stunden ab 1.8.28. 2) Sämtliche Schichtlöhne und die Lehrlingslöhne erhöhen sich um 8%. Bei einer Erhöhung der Kohlenpreise kann das Lohnabkommen mit einmonatiger Frist gekündigt werden, sonst ist es bis zum 31.3.29 unkündbar.

Dieser Schiedsspruch wurde sowohl von den Bergarbeitergewerkschaften wie auch vom Zechenverband abgelehnt. Der Zechenverband begründete seine Ablehnung in einem Schreiben an den RArbM vom 17. 4. Darin wird u. a. ausgeführt, „daß der Schlichter die vom Zechenverband gestellten, volkswirtschaftlich wohlbegründeten Anträge restlos unberücksichtigt gelassen“ habe. Da der Ruhrbergbau bereits mit Verlusten bzw. unzureichenden Gewinnen arbeite, was durch die Erhebungen des RWiMin. und das Gutachten der Schmalenbach-Kommission bestätigt worden sei, würde die im Schiedsspruch festgesetzte 8%ige Lohnerhöhung eine untragbare Mehrbelastung für die Betriebe bedeuten. Auch hinsichtlich der Arbeitszeit lasse der Schiedsspruch „jede Rücksicht auf praktische Erfordernisse der Wirtschaft vermissen“. Eine Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruchs dürfe daher „unter keinen Umständen eintreten“ (Zechen-Verband an RArbM, 17.4.28, abschriftl. an RK, R 43 I /2176 , Bl. 103–111). Auch die Vereinigung der Dt. Arbeitgeber-Verbände kritisierte den Schiedsspruch in einem Schreiben an den RArbM. Es heißt darin: „Wir bedauern, daß durch einen solchen Schiedsspruch die bereits in den Auseinandersetzungen der letzten Lohnbewegung klar zu Tage getretene Krise des Schlichtungswesens eine weitere Verschärfung erfahren muß. Die Zahlen zeigen, daß eine Durchführung des Schiedsspruchs auf jeden Fall zu einer Verlustwirtschaft größten Umfanges im Ruhrbergbau führen müßte. Die Folge müßte eine wesentliche Einschränkung des Absatzes und der Förderung sein. Dies bedeutet Vermehrung der Feierschichten, wenn nicht gar Stillegung einzelner Schächte. Diese Folgen aber würden gerade die Arbeiterschaft auf das schwerste treffen, so daß der Schiedsspruch nicht allein wirtschaftlich der Billigkeit nicht entspricht, sondern auch seine soziale Auswirkung äußerst beklagenswert sein müßte. Sie müßte dazu führen, daß eine evtl. Lohnerhöhung eines Teiles der Arbeiterschaft auf Kosten der Arbeitslosigkeit eines anderen Teiles gehen würde.“ (Vereinigg. der Dt. Arbeitgeber-Verbände an RArbM, 19.4.28, abschriftl. an RK, R 43 I /2176 , Bl. 112–115).

Das Kabinett erörterte darauf in eingehender Aussprache sowohl die rechtliche wie auch die politische und wirtschaftspolitische Seite der Angelegenheit.

Der Reichskanzler stellte als Ergebnis der Aussprache die Auffassung des Kabinetts dahin fest, daß auf Grund des Artikel 48 der Reichsverfassung auch Maßnahmen eines sozialpolitischen Lastenausgleichs möglich sind, wenn durch Aussperrungen oder Streiks im Ruhrgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gefährdet wird.

Der Reichsarbeitsminister wird ermächtigt, falls es aus taktischen Gründen erforderlich wird, in geeigneter Form auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Sollten solche Maßnahmen tatsächlich nötig werden, so bedürfen die Einzelheiten erneuter Beratung im Kabinett3.

3

Siehe Dok. Nr. 465.

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