2.79 (str1p): Nr. 79 Besprechung mit den Ministerpräsidenten vom 25. September 1923, 10 Uhr

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 21). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

RTF

[349] Nr. 79
Besprechung mit den Ministerpräsidenten vom 25. September 1923, 10 Uhr1

1

Die Anwesenheitsliste zu dieser von MinR Kiep protokollierten Besprechung konnte in R 43 I nicht ermittelt werden.

R 43 I /215 , Bl. 217–222

Der Reichskanzler begrüßte die anwesenden präsidierenden Mitglieder der Landesregierungen und dankte für ihr Erscheinen.

Es handele sich darum, zu einer Frage Stellung zu nehmen, die man wohl als die wichtigste bezeichnen könne, die aus der deutschen Politik seit Unterschrift des Versailler Vertrages sich ergeben habe: der Frage des Abbruchs des passiven Widerstandes.

Der Reichskanzler gab einen geschichtlichen Rückblick über die Entwicklung des passiven Widerstandes, von der Übersiedlung des Kohlensyndikats nach Hamburg2, über die verschiedenen Maßnahmen der Stillegung bis zum jetzigen Zustande, bei dem fast die ganze Bevölkerung des Ruhrgebiets zur Untätigkeit verurteilt sei. Hinsichtlich der Wirkungen sei einmal auf die allgemeine Demoralisation hinzuweisen, die bedenkliche Erscheinungen zeitige3. Noch gefahrdrohender sei jedoch die Rückwirkung dieses Zustandes auf die Finanzen und die Wirtschaft des Reichs. Die Summe, welche die Fortführung des Widerstandes verschlängen, seien so ungeheuer, daß bei einer Fortsetzung binnen kurzem der völlige Zusammenbruch der gesamten deutschen Wirtschaft unvermeidlich sei4. Alle Bemühungen der Regierung, durch Devisenerfassung, Stützungsaktionen und sonstige Maßnahmen die Währung zu halten, seien zur Erfolglosigkeit verurteilt, solange diese unabsehbaren Ausgaben beständen und weiter wüchsen. Es sei demnach festzustellen, daß der passive Widerstand zu einer Waffe geworden sei, die sich mehr gegen das Reich richte, als gegen den Gegner.

2

Die Verlegung nach Hamburg hatte das Kohlensyndikat am 9.1.23 beschlossen; s. dazu „Das Kabinett Cuno“, Dok. Nr. 37 mit Anm. 10 sowie Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 996.

3

Vgl. Anm. 8 zu Dok. Nr. 56. In der Fraktionssitzung der DVP am 12.9.23 hatte der Abg. Vögler ausgeführt, er habe dem RK erklärt: „Lassen Sie Rhein und Ruhr ruhig schmoren, aber kapitulieren Sie nicht. Unter Umständen Hilfe für Rhein und Ruhr einstellen. An Rhein und Ruhr herrscht die Korruption“ (Pol. Arch.: NL Stresemann  87).

4

Vgl. dazu die Ausführungen des RK in den beiden Besprechungen vom 24.9.23 (Dok. Nr. 76 u. 77).

Was die außenpolitische Seite der Frage anbelange, so müsse er sich mit Rücksicht auf die Notwendigkeit der Geheimhaltung eine gewisse Beschränkung auferlegen. Bei Übernahme der Regierung durch das jetzige Kabinett habe man gehofft, durch Fortführung des Widerstandes diesen dem Gegner gegenüber taktisch dahin ausnützen zu können, daß gegen seine eventuelle Aufgabe Vorteile eingehandelt werden könnten sowohl hinsichtlich der allgemeinen Reparationsfrage als auch insbesondere hinsichtlich der Modalitäten der Aufgabe. Heute stünde es jedoch fest, daß von einer weiteren Fortführung außenpolitische Vorteile nicht zu erhoffen seien. Nicht nur habe Frankreich unzweideutig[350] zu erkennen gegeben, daß es sich auf irgendwelche Verhandlungen vor Aufgabe des passiven Widerstandes nicht einlassen werde ( – wobei die Darstellung der französischen Presse unrichtig sei, daß der französische Botschafter in schroffem Ton eine Erörterung abgelehnt habe5; er habe lediglich erklärt, Verhandlungen über Detailfragen ablehnen zu müssen, ehe nicht in der Grundfrage der Aufgabe des passiven Widerstandes eine Entscheidung getroffen sei –), sondern auch die übrigen alliierten Regierungen hätten sich insofern dem französischen Standpunkt angeschlossen, als sie der Deutschen Regierung anempfohlen hätten, den Widerstand zunächst aufzugeben. Die Englische Regierung habe darüber hinaus ihre Absicht bekundet, gegen irgendwelche französischen Versuche, das Deutsche Reich zu zerstückeln, mit Entschiedenheit Stellung zu nehmen, und Belgien habe erklärt, daß es zwar in der Frage der Aufgabe des Widerstandes an Frankreich gebunden sei, nach solcher Aufgabe jedoch freie Hand habe, und seine Truppen zurückziehen werde, sobald die ersten Zahlungen erfolgten.

5

Dazu meldete „Die Zeit“, Nr. 221 vom 25.9.23: „Zu der Meldung des ‚Petit Journal‘, dem französischen Botschafter in Berlin sei Anweisung zur Einstellung der Besprechung mit dem Reichskanzler gegeben worden, wird vom Wolffschen Telegrafen-Büro bemerkt, daß diese Information nicht, wie in dem Blatt angegeben, aus der französischen Botschaft in Berlin stamme. Damit entfällt wohl der Wert und die Glaubwürdigkeit der ganzen Meldung.“ Am folgenden Tag wies „Die Zeit“ die Behauptung der „Deutschen Zeitung“, der frz. Botschafter sei in seinem letzten Gespräch mit dem RK grob geworden und habe sich dann verabschiedet als „glatt erfunden“ zurück. S. zur frz. Haltung auch die Tagebucheintragung des engl. Botschafters D’Abernon vom 23.9.23 (Botschafter der Zeitenwende II, S. 302 f.) sowie Anm. 8 zu Dok. Nr. 76.

Er, der Reichskanzler, wolle nun aus diesen Zusicherungen keine allzu günstigen Schlüsse ziehen und warne dringend vor einem falschen Optimismus. Andererseits könne man derartige außenpolitische Möglichkeiten, die überdies in der allgemeinen Gestaltung der europäischen Kräfteverteilung objektiv begründet seien, nicht völlig ignorieren; und es komme daher nach Auffassung der Reichsregierung nicht in Frage, etwa mit Aufgabe des Widerstandes zugleich auch die Beziehungen zu den Okkupationsmächten abzubrechen6. Würde man solches tun, so würde man den etwa zum Eingriff geneigten Mächten jede rechtliche und tatsächliche Handhabe dazu abschneiden.

6

S. demgegenüber die Haltung der DNVP, des OB Jarres und der Parteiopposition innerhalb der DVP-Fraktion (Dok. Nr. 77 mit Anm. 25 u. 28).

Das bedeute andererseits aber auch nicht etwa eine Kapitulation; vielmehr sei der gegenwärtige Schritt zunächst eine interne deutsche Maßnahme und die Kapitulationsfrage könne allenfalls erst dann entstehen, wenn die materiellen Forderungen der Gegner bekanntgegeben und zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht würden7. Bei solchen Verhandlungen, über deren Form das Kabinett sich erst schlüssig werden müsse, werde die Reichsregierung unter allen Umständen daran festhalten müssen:

7

In der Fraktionssitzung der DVP vom 25.9.23 führte deren Vorsitzender Scholz allerdings aus: „Im Ruhrkampf kapitulieren wir, aber die Kapitulation bezieht sich doch nicht auf unser Verhältnis zu Poincaré“ (Pol. Arch.: NL Stresemann  87).

1. daß eine Abtretung deutschen Gebiets nicht in Frage kommt,

2. daß ohne Verfügung über das Ruhrgebiet keine Zahlungsmöglichkeit gegeben sei,

[351] 3. daß die Zurückführung der Ausgewiesenen und die Amnestierung der Verurteilten eine Ehrensache sei.

Bei den Besprechungen mit den Vertretern der Bevölkerung der besetzten Gebiete am Vortage sei Einigkeit darüber erzielt, daß diese die Notwendigkeit des jetzigen Schrittes voll würdige, andererseits aber einen Abbruch der Beziehungen aus Anlaß der Aufgabe des Widerstandes in ihrer großen Mehrheit ablehne8. Die Reichsregierung erbitte nunmehr die Zustimmung der Länder zu dem Schritte, damit die zu treffende Entscheidung von dem ganzen Deutschen Volke getragen werde. Dabei denke die Reichsregierung nicht daran, die Verantwortung für diese Entscheidung auf andere abzuwälzen, sondern sei nach wie vor bereit, sie allein zu tragen.

8

S. Dok. Nr. 76.

Der Preußische Ministerpräsident erklärte, daß er der Auffassung des Reichskanzlers über die gegenwärtige Lage sowie den Schlußfolgerungen, die er daraus ziehe, in allem zustimme. Hierbei halte er es, abgesehen von allen wirtschaftlichen, finanziellen und sonstigen Erwägungen für politisch richtiger, den Widerstand aus eigenem Entschlusse aufzugeben, als ihn in sich zusammenbrechen zu lassen.

Hauptaufgabe sei nunmehr, mit allen Mitteln zu suchen, mit den Gegnern zu Verhandlungen zu gelangen. Hierbei halte er die Aussichten für wenig günstig. Im übrigen stelle er jedoch zur Erwägung anheim, ob nicht mit Rücksicht auf die schwere innerpolitische Rückwirkung der jetzigen Entscheidung und des dadurch geschaffenen Zustand die Verhängung des Ausnahmezustandes über das Reichsgebiet sich empfehlen würde9.

9

Zur Erörterung des Ausnahmezustandes s. Anhang Nr. 1 sowie Dok. Nr. 83, P. b.

Der Bayerische Ministerpräsident stellte zunächst an den Reichskanzler die Frage, in welcher Form mit der Entscheidung, den Widerstand aufzugeben, an die Öffentlichkeit herangetreten werde.

Der Reichkanzler erwiderte, daß die Reichsregierung hierüber noch nicht Beschluß gefaßt habe. Erforderlich erscheine ihm einmal die Rücknahme der Verordnungen, sodann ein Aufruf an das Deutsche Volk, in dem die Gründe für die Aufgabe des Widerstandes dargelegt würden, und gleichzeitig ein Aufruf der Vertreter des besetzten Gebiets an die dortige Bevölkerung. Eine offizielle Notifizierung der Entscheidung an die Gegner halte er persönlich nur in dem Falle für erforderlich, daß seinerzeit der Beginn des Widerstandes ihnen offiziell angekündigt worden sei. Eine andere Frage aber sei natürlich, ob nicht die Botschafter der Okkupationsmächte, wenn sie bei ihm vorsprächen und Rückfragen stellten, eine entsprechende Antwort erhalten müßten10.

10

S. dazu Dok. Nr. 82. MinDir. von Schubert hatte dem RK vorgeschlagen, es nicht bei einer Proklamation zu belassen, sondern der frz. und der belg. Reg. den Abbruch des Widerstandes zu notifizieren und Abschrift der Note dem engl. und dem ital. Botschafter zuzustellen. Gleichzeitig mit der Note sollte die erst nach Festlegung deren Inhalts zu entwerfende Proklamation veröffentlicht werden (R 43 I /189 , Bl. 170).

Der Bayerische Ministerpräsident dankte für die Mitteilungen und wies darauf hin, daß es vor allem darauf ankomme, den Anschein einer Kapitulation im Lande zu vermeiden. Daß die Finanzlage des Reichs eine Beendigung des Widerstandes erheische, sei allen klar und würde auch von der Bevölkerung[352] des besetzten Gebiets voll gewürdigt; andererseits müsse man der großen Erregung, die sich gewisser Kreise der Bevölkerung des Reichs bemächtigt habe, Rechnung tragen. Hierzu sei erforderlich, daß in einer Kundgebung vor der ganzen Welt das völkerrechts- und vertragswidrige Verhalten der Einbruchsmächte festgestellt und des Weiteren die Schlußfolgerung daraus gezogen würde, daß der Versailler Vertrag auch für Deutschland nicht mehr gelte11. Auf solche Weise könne man den Eindruck der Kapitulation vermeiden und damit auch die schweren innerpolitischen Erschütterungen, die anderenfalls mit Bestimmtheit zu erwarten seien. Es stände die Zukunft und die Einheit des Reichsgebiets unter Umständen in Gefahr. In Bayern seien allerdings alle ernsthaften Politiker entschlossen, ihrerseits alles zu tun, diese Gefahr zu bannen und die Einheit des Reichs zu wahren: separatistischen Bestrebungen stände die Bayerische Regierung gänzlich fern12.

11

Vgl. hierzu Anm. 24 zu Dok. Nr. 77.

12

S. Anm. 29 zu Dok. Nr. 77.

Der Württembergische Staatspräsident stellte sich auf den Standpunkt des Preußischen Ministerpräsidenten, warnte jedoch davor, den Widerstand jetzt beim Abbruch als einen Fehler zu bezeichnen. Er begrüßte die Erklärung des Bayerischen Ministerpräsidenten, daß an eine Rüttelung an der Reichseinheit von Seiten der Bayerischen Regierung nicht gedacht werde. Träten derartige Bestrebungen im Reich auf, so müsse die Reichsregierung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen eintreten. Die überwältigende Mehrheit des Deutschen Volkes stände hinter der Reichsregierung und habe zu ihr das Vertrauen, daß sie für die Lösung der jetzigen Krisis die richtige, würdige und der Sachlage entsprechende Form finden werde.

Eine Ablehnung des Versailler Vertrages halte er für nicht unbedenklich, insbesondere, da hierdurch jede Verhandlungsmöglichkeit von vornherein abgeschnitten werde; insbesondere aber Frankreich die Möglichkeit gegeben würde, alle Abtrennungspläne ohne rechtliche oder tatsächliche Behinderung durchzuführen.

Der Reichskanzler teilte mit, daß verschiedene Entwürfe für den Aufruf an das deutsche Volk vorlägen; in allen sei als Einleitung vorgesehen ein Protest gegen den Rechtsbruch der Okkupationsmächte13. Hinsichtlich der Frage einer Ablehnung des Versailler Vertrages sei er persönlich der Meinung, daß Leistungen aus dem Vertrage solange unmöglich seien, als nicht das Ruhrgebiet dem Reiche wieder zur Verfügung stände und die Souveränität wieder hergestellt sei. Der Vertrag und die Leistungen müßten daher ruhen, solange nicht derjenige Zustand am Rhein und an der Ruhr wiederhergestellt sei, den der Vertrag von Versailles gewährleiste14.

13

Zu den Entwürfen und ihre Behandlung durch die RReg. s. Dok. Nr. 81.

14

Auf diese Ausführungen Stresemanns hin führte LegR Redlhammer in einer Aufzeichnung für StS von Maltzan vom 25.9.23 aus, der RK habe wohl unter dem Eindruck der Forderung von Knillings, den VV für nichtig zu erklären, dargelegt, die Reparationsleistungen sollten bei Aufgabe des passiven Widerstandes erst dann wieder erfüllt werden, wenn die Ausgewiesenen zurückgekehrt und die Bestraften amnestiert worden seien sowie nach Wiederherstellung der Verfügungshoheit des Reichs über das Ruhrgebiet und des vertragsmäßigen Zustands im altbesetzten Gebiet. Nach Meinung Redlhammers war diese Formulierung bedenklich, da sie von Frankreich als „neuerliche Renitenz“ bewertet werden könne. Es sei denkbar, daß dann die Wiederaufnahme der Reparationsleistungen zur Vorbedingung für die Verhandlungen gemacht werde wie bisher die Aufgabe des passiven Widerstandes. Es erscheine daher zweckmäßig, hierüber nichts in die Presseverlautbarung gelangen zu lassen, wenn auch sachlich richtig sei, über die Frage selbst erst während der Verhandlungen eine Entscheidung zu treffen (Pol. Arch.: NL Maltzan : Bis zum Aufruf).

[353] Der Badische Staatspräsident teilte mit, daß die badische Regierung die Gründe für die Stellungnahme der Reichsregierung wohl würdige und sich ebenfalls für eine Aufgabe des Widerstandes ausspreche. Dagegen würde die Ablehnung des Versailler Vertrages einen gefährlichen Zustand herbeiführen, da es gerade Hauptaufgabe sei, die Bevölkerung der besetzten Gebiete zu schützen, und zu Verhandlungen mit dem Gegner zu gelangen. Jeder Tag, der nach dieser Richtung hin versäumt werde, bedeute schwere Nachteile und ernste Gefahren für den wirtschaftlichen und innerpolitischen Bestand des Reiches. Er halte es für angebracht, den Ausnahmezustand zu erklären15.

15

Zum Verhalten der Bad. Reg. nach Verkündung des Ausnahmezustandes s. Dok. Nr. 88.

Der Hessische Ministerpräsident stimmte ebenfalls der Entschließung, den Widerstand aufzugeben, zu. Betrachtungen über die Vergangenheit seien fruchtlos; es müsse jedoch festgestellt werden, daß der Widerstand eine große historische Bedeutung gehabt habe. Gegen den Vorschlag, den Versailler Vertrag für gegenstandslos zu erklären habe er schwerste Bedenken: ein solcher vertragsloser Zustand würde dem Gegner freie Hand lassen und neue gefährliche Reibungsflächen, insbesondere aber neue Möglichkeiten für die Abtrennung der besetzten Gebiete, bedingen. Man müsse im Gegenteil versuchen, zu Verhandlungen zu gelangen.

In diesem Zusammenhange weise er darauf hin, daß die französische Regierung in letzter Zeit versucht habe, mit der hessischen Regierung Sonderverhandlungen aufzunehmen. Dieses Ansinnen sei mit Entschiedenheit zurückgewiesen worden16.

16

S. dazu den Bericht des Reichsvertreters in Hessen Eduard David vom 22.9.23, in: F. P. Kahlenberg, Die Berichte Eduard Davids …, Nr. 82, S. 124 f.

Die Verhängung des Ausnahmezustandes halte er nicht unbedingt für sofort erforderlich, im übrigen aber pflichte er den Ausführungen des Reichskanzlers in allem bei und sei der Auffassung, daß die Reichsregierung für die zu unternehmenden Schritte Bewegungsfreiheit haben müsse.

Der Sächsische Ministerpräsident stellte in den Vordergrund die Notwendigkeit, die öffentliche Meinung im Reiche rückhaltlos aufzuklären. Der größte Fehler der Vergangenheit sei die falsche Unterrichtung der Öffentlichkeit gewesen und die Förderung unbegründeter Hoffnungen17.

17

Zur Einstellung Zeigners gegenüber dem pass. Widerstand s. Anm. 7 zu Dok. Nr. 53.

Der passive Widerstand sei schon erledigt, seine Aufgabe brauche nicht erst beschlossen zu werden. Es kommt nun darauf an, mit allen Mitteln zu verhüten, daß Rhein und Ruhr vom Reiche abgetrennt würden. Aus diesem Grunde müsse man alles vermeiden, was der französischen Regierung eine Handhabe dazu biete. Verhandlungen abzulehnen oder hinauszuschieben. Er halte daher eine öffentliche Aussprache über die Rechtsverletzung der Okkupationsmächte für nicht unbedenklich.

[354] Die Verhängung des Ausnahmezustandes halte er nicht für zweckmäßig, da man hierdurch die Linksparteien, auf die die Regierung sich in erster Linie stützen müsse, vor den Kopf stoßen würde18.

18

Zum Verhalten der Sächs. Reg. während des Ausnahmezustandes s. insbesondere Dok. Nr. 147 sowie Anhang Nr. 1.

Der Reichskanzler erwiderte, daß, falls nicht in dem Aufruf an das deutsche Volk die Rechtswidrigkeit der Besetzung zum Ausdruck gebracht würde, die jetzige Entschließung nach innen und nach außen mißverstanden würde. Das deutsche Volk würde es nicht begreifen, warum ihm die schweren Opfer des passiven Widerstandes auferlegt worden seien, wenn die gegnerischen Maßnahmen gerechtfertigt gewesen seien. Frankreich würde aber andererseits vor der Welt seine Handlungsweise als gerechtfertigt hinstellen können.

Der Preußische Ministerpräsident pflichtete den Ausführungen des Reichskanzlers bei und wies darauf hin, daß man durch die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Besetzung auch die britische Regierung die sich öffentlich für die Unrechtmäßigkeit ausgesprochen habe, vor den Kopf stoßen würde. Im übrigen stimme er jedoch dem Sächsischen Ministerpräsidenten darin zu, daß man nach Möglichkeit Reibungen mit Frankreich vermeiden und mit allen Mitteln die Anbahnung von Verhandlungen anstreben müsse. Ein Vorschlag zu solchen Verhandlungen brauche von deutscher Seite nicht auszugehen; es lägen bereits genügende deutsche Angebote vor.

Was den Ausnahmezustand anbelange, so befürworte er eine solche Maßnahme ungern; andererseits sei bei der gegenwärtigen Lage mit allen Möglichkeiten zu rechnen, und die Reichsregierung müßte auf solche gefaßt sein.

Sonderverhandlungen mit Preußen, wie vom Hessischen Ministerpräsidenten bezüglich seines Landes berichtet seien französischerseits nicht versucht worden.

Der Thüringische Ministerpräsident führte aus, daß die thüringische Regierung den Entschluß der Reichsregierung warm begrüße, da sie schon lange der Überzeugung gewesen sei, daß der passive Widerstand zu keinen Erfolgen führen könne. Die Aufgabe des Widerstandes bedeute durchaus keine Kapitulation.

Im übrigen läge die Hauptaufgabe der Regierung auf dem Gebiete der Fürsorge für Wirtschaft und Ernährung. Maßnahmen seien erforderlich zur Behinderung von Stillegungen und zur Sicherstellung der Volksernährung.

Sei die Verhängung des Ausnahmezustandes nötig, dann müsse dies vom Reiche ausgehen19.

19

Zur Einstellung der Thür. Landesreg. gegenüber dem Ausnahmezustand s. Dok. Nr. 140.

Der Württembergische Staatspräsident teilte mit, daß an sein Land von französischer Seite aus keinerlei Ansinnen zu Sonderverhandlungen ergangen seien.

Der Bayerische Ministerpräsident verneinte dieses auch bezüglich Bayerns. Würde ein solcher Versuch von französischer Seite gemacht werden, dann würde die bayerische Regierung ihn ohne weiteres ablehnen und die Franzosen an die Reichsregierung verweisen.

[355] Seine Hauptsorge hinsichtlich der gegenwärtigen Lage sei die, daß der Eindruck der Kapitulation entstehe. Der passive Widerstand sei aus der Bevölkerung herausgewachsen und es müsse daher bei der Aufgabe auf die Stimmung der Bevölkerung Rücksicht genommen werden.

Daß der Widerstand aufhören müsse, stehe außer Frage, da die Mittel zu seiner Fortsetzung fehlten. Es sei jedoch fraglich, ob eine formelle Aufhebung der Verordnungen notwendig sei. Vielleicht würde es genügen, der Bevölkerung von der Notwendigkeit der Einstellung der Zahlungen Kenntnis zu geben, und jeder würde dann wissen, woran er sei, ohne daß die Verordnungen offiziell zurückgenommen würden. Hinsichtlich der etwaigen Verhandlungen mit Frankreich hege er nur geringe Zuversicht. Die Lage sei sehr ähnlich dem Zustande im November 1918. Er fürchte, es würden jetzt, ebenso wie damals, alle Hoffnungen enttäuscht werden. Er sei nach wie vor der Auffassung, daß der jetzige Schritt dem deutschen Volke gegenüber nur vertreten werden könne, wenn zugleich die Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Okkupationsmächte gebrandmarkt und mit allem Nachdruck erklärt werde, wie der Herr Reichskanzler es vorgeschlagen habe, daß das Reich nicht in der Lage sei, Leistungen zu tätigen, solange nicht der Zustand wiederhergestellt sei, den der Versailler Vertrag gewährleiste.

Er halte es nicht für richtig, darüber hinaus den Willen zu Verhandlungen zu erkennen zu geben. Durch einen solchen tatsächlich vertragslosen Zustand werde Frankreich in eine Lage versetzt, die ihm erhebliche Verlegenheit bereiten würde. Die Fühlungnahme zu Verhandlungen müsse von der anderen Seite ausgehen. Die Reichsregierung müsse sich hüten, in der Kundgebung an die Öffentlichkeit Weichheit oder Nachgiebigkeit zu zeigen20.

20

Vgl. hierzu auch v. Knillings Bericht über diese Besprechung in der Sitzung des Bayer.StMin. vom 26.9.23, in: E. Deuerlein, Hitlerputsch, Dok. Nr. 12.

Der Sächsische Ministerpräsident äußerte die Vermutung, daß er mißverstanden worden sei. Er fordere nicht die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Besetzung, sondern empfehle aus den bereits erwähnten Gründen, die öffentliche Brandmarkung der Rechtswidrigkeit zu unterlassen. Es würde genügen, wenn der Standpunkt der Reichsregierung in diesem Punkte in indirekter Weise zu erkennen gegeben würde.

Der Oldenburgische Ministerpräsident stimmte für seine Person der Stellungnahme der Reichsregierung zu und bezeichnete es als dringend erwünscht über die in Verbindung mit der Aufhebung des Widerstandes auftauchenden zahlreichen Einzelfragen möglichst bald Klarheit zu schaffen. Oldenburg sei durch das Birkenfelder Gebiet an dem Problem beteiligt, und es erfolgten fortlaufende Anfragen der Beamtenschaft, wie sie sich unter den neuen Zuständen zu verhalten haben.

Der Badische Staatspräsident teilte mit, daß auch an die badische Regierung keine französischen Angebote zu Sonderverhandlungen herangetreten seien.

Der Reichskanzler erwiderte auf die Anfrage des Vertreters von Oldenburg, daß es schwer sei, die Folgen der Aufhebung des Widerstandes in allen Einzelheiten heute schon zu bestimmen, da noch nicht bekannt sei, wie der[356] Gegner sich verhalten würde. Infolgedessen könnten zunächst nur allgemeine Richtlinien ausgegeben werden.

Im übrigen wolle er darauf hinweisen, daß nach eingelaufenen Nachrichten es beabsichtigt sei, am 30. September die Rheinische Republik auszurufen21. Hiermit stünde offenbar in Verbindung die für den 1. Oktober angekündigte unbegrenzte Verkehrssperre. Er bitte, mit allen Mitteln auf die Bevölkerung hinzuwirken, daß der Gedanke einer Rhein-Republik Ablehnung finde. Zum Schluß faßte der Reichskanzler das Ergebnis der Besprechung dahin zusammen: Es herrsche Übereinstimmung aller Länder darin, daß der passive Widerstand aus innerpolitischen, insbesondere finanziellen, Gründen abgebrochen werden müsse; daß es weiterhin die Aufgabe der Reichsregierung sei, die Form der Einstellung des Widerstandes zu bestimmen in einer der Würde und der Ehre des deutschen Volkes entsprechenden Weise; schließlich, daß gegenüber allen Versuchen, die etwa entstehen sollten, an der Einheit des Reichs zu rütteln, Übereinstimmung aller verantwortlichen Führer bestehe, die Reichseinheit als unantastbares Gut zu wahren.

21

Von übereinstimmenden Meldungen der Kölner Presse, daß im Anschluß an eine Versammlung der rheinischen „Sonderbündler“ am 30.9.23 die „Rheinische Republik“ ausgerufen werden solle, berichtete „Die Zeit“, Nr. 223 vom 27.9.23. Ein Vertreter der „Sonderbündler“ habe mitgeteilt, daß von den Franzosen 70 Züge bereitgestellt worden seien und daß zur Versammlung 100 000 Anmeldungen vorlägen. Einzelne Gruppen würden gegebenenfalls bewaffnet gegen Gegendemonstrationen vorgehen. S. dazu auch Dok. Nr. 94.

Extras (Fußzeile):