1.22.11 (str2p): 10. Ernährungslage (außerhalb der Tagesordnung).

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10. Ernährungslage (außerhalb der Tagesordnung).

Der Reichsarbeitsminister bat, die Ernährungslage zum Gegenstand der Erörterung zu machen. Die Erregung in der Bevölkerung sei groß und es herrsche allgemein die Auffassung, daß besondere Maßnahmen erfolgen ten, um die Ernährung sicherzustellen53.

53

Unter der Überschrift „Unruhen in Berlin und im Reiche“ hatte „Die Zeit“, Nr. 238 vom 14.11.23, berichtet: „Wegen der enormen Preiserhöhungen kam es in den letzten Tagen in Berlin und im Reiche an verschiedenen Stellen zu erregten Auftritten. Während in der Reichshauptstadt die Unruhen zum Glück unblutig verlaufen sind, nehmen die Krawalle im Reiche zum Teil einen recht ernsten Charakter an.“ Es folgten Mitteilungen aus Berlin, Köln, Mülheim, Frankfurt/M., Düsseldorf, Oberhausen, Kreuznach. Am folgenden Tag wurden zusätzlich Unruhen aus Leipzig und Hannover gemeldet. Am 17. 10. meldete „Die Zeit“, Nr. 240: „Unruhen und Plünderungen in Groß-Berlin. Scharfe Zusammenstöße zwischen Polizei und Erwerbslosen.“ Anlaß war die Aufhebung der Versorgung mit Markenbrot. MinR Kiep berichtete über die Ernährungslage in Berlin auf Grund von Mitteilungen aus dem REMin. und des PrStKom. für Ernährung StS Ramm. Die Preisfrage sei ausschließlich Ursache des Notstandes. Es sei ein Unglück, daß die Aufhebung der Zwangswirtschaft für Brot mit einem Tiefpunkt der Geldentwertung und weitgehender Arbeitslosigkeit zusammenfalle. „Abhilfe kann demgemäß nur geschaffen werden, indem der bedürftigen Bevölkerung vermehrte Geldmittel zur Verfügung gestellt werden. Dies ist bereits geschehen in Gestalt einer Brotbeihilfe für die Altrentner, Erwerbslosen und kinderreichen Familien. Die Anweisung hierzu ist am vergangenen Sonnabend vom Reichsarbeitsministerium ausgegangen [RArbM an Ländersozialminister, 14.10.23; R 43 I /1263 , Bl. 204–205]; die Durchführung wird mit allen Mitteln beschleunigt, teilweise sind gestern und heute die erhöhten Auszahlungen erfolgt, teilweise kommen [!] insbesondere in der Provinz, wird es noch einige Tage dauern, bis die erforderlichen Geldmittel an Kassen zur Verfügung stehen“ (R 43 I /1263 , Bl. 206).

[581] Der Reichspostminister und der Reichsverkehrsminister stimmten den Ausführungen des Vorredners zu; letzterer regte insbesondere an, daß die Ministerien ermächtigt würden, beim Kartoffelankauf durch die Beamtenorganisationen die Ausfallsbürgschaft zu übernehmen54.

54

S. dazu auch Dok. Nr. 141. Schon am 30. 9. hatte der RWeM dem RK ein Schreiben aus dem Kreis Görlitz vom 24.9.23 zugeleitet, in dem berichtet wurde, die Beamten würden so schlecht bezahlt, „daß ihre Frauen selbst mit Ährenlesen gehen möchten. – Das hiesige Gut liegt in unmittelbarer Nähe einer großen Stadt und wird gerade jetzt von Beamten der Schutzpolizei und Mannschaften der Reichswehr überlaufen, die Kartoffeln usw. kaufen wollen, wobei sie darüber klagen, daß sie nirgend welche bekommen, weil sie Marktpreise anzulegen außer Stand sind. Selbst die Damen ihrer Vorgesetzten klagen, sie könnten bei der herrschenden Teuerung kaum noch alle 14 Tage einmal Fleisch auf den Tisch bringen“ (R 43 I /2566 , Bl. 41–42).

Staatssekretär Heinrici berichtete ausführlich über die Ernährungslage auf dem Gebiete der Getreide- und Fettversorgung55.

55

Aus dem Bericht des REMin. über den Stand des Wirtschaftslebens und der Volksernährung im Oktober 1923 vom 29.11.23 geht hervor, daß der Getreide- und Mehlbedarf von der Reichsgetreidestelle und dem freien Handel „im allgemeinen ausreichend“ habe gedeckt werden können, doch sei dabei in hohem Maße auf die Bestände der Reichsgetreidestelle zurückgegriffen worden, „weil diese gegen Papiermark verkaufte, während Mühlen, Getreidehandel und Landwirtschaft Mehl und Getreide im allgemeinen nur gegen wertbeständige Zahlungsmittel abgaben. Wie im Vormonat sei die Fettversorgung befriedigend gewesen, doch habe eine genaue Kontrolle der Margarinepreise vorgenommen werden müssen. Die Zufuhr von Butter sei völlig unzureichend (R 43 I /1263 , Bl. 294–296). S. a. Dok. Nr. 141.

Ministerialdirektor Hoffmann erstattete anschließend daran Bericht über die Lage der Kartoffelversorgung56.

56

Aus dem Oktoberbericht des REMin. (s. Anm. 55) geht hervor, daß die Kartoffelernte 1923 schlechter als im Vorjahr war und durch die Transportbeschränkung der Eisenbahn. infolge der Besetzung des Ruhrgebiets weniger Kartoffeln befördert werden konnten. Der Berliner Kartoffelpreis sei von Monatsbeginn bis Ende von 1,25 Goldmark auf 1,50 bis 1,90 Goldmark gestiegen. In Papiermark seien keine Abschlüsse mehr getätigt worden. Die Versorgung mit Winterkartoffeln sei vor allem in Sachsen schlecht. Wegen des schlechten Ernteausfalls sei die Tendenz festzustellen, die Kartoffelausfuhr selbst in Überschußgebieten einzuschränken (R 43 I /1263 , Bl. 295).

Danach beruhe die gegenwärtige Notlage in erster Linie auf der abgeschwächten Kaufkraft des Geldes: Vorräte seien an sich wohl genügend vorhanden, eine Abgabeweigerung auf seiten der Landwirtschaft könne man nicht feststellen57.

57

Auf Grund dieser Mitteilung sandte MinR Kiep an den REM eine Eingabe aus Hamburg, in der gesagt wurde, daß die mecklenburgische Landwirtschaft und Teile der preußischen und lauenburgischen sich weigere, Papiermark für Kartoffeln anzunehmen. Erst am 14.12.23 antwortete hierauf MinDir. Hoffmann in Vertretung des REM dem Landesverband Nordmark der deutschen Beamten- und Angestelltengewerkschaften, daß sich das REMin. für eine Produktenabgabe auch gegen Papiermark bei der Landwirtschaft eingesetzt habe. „Wenn bei einer größeren Anzahl von Landwirten trotzdem eine Abneigung gegen die Annahme von Papiermark bestand, so hat diese ihren Grund darin, daß hierbei infolge der rapiden Geldentwertung der einzelne Landwirt häufig großen Verlusten ausgesetzt war, da es ihm oft nicht gelang, die vereinnahmten Beträge sogleich wertbeständig anzulegen.“ Durch die Rentenmark und den Beginn der Währungsstabilisierung sei eine Besserung der Verhältnisse zu erwarten (R 43 I /1263 , Bl. 116–117).

Staatssekretär Heinrici regte an, am folgenden Tage eine Referentenbesprechung im Reichsernährungsministerium abzuhalten, bei welcher er über alle Fragen Auskunft erteilen und Abhilfemaßnahmen mit dem Ziel einer Beschlußfassung zur Erörterung stellen werde58.

58

S. Dok. Nr. 141.

[582] Der Reichsminister für Wiederaufbau der in vorübergehender Abwesenheit des Reichskanzlers den Vorsitz übernommen hatte, schloß die Sitzung.

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