2.68.1 (vsc1p): [Anlage.]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 4). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett von Schleicher Kurt von Schleicher Bild 102-14090Franz Bracht Bild 183-2007-1009-501Friedrich Syrup Bild 146-1986-031-11Bild 183-H27728

Extras:

 

Text

RTF

[Anlage.]

Fort mit dem Narrenspiel negativer parlamentarischer Mehrheiten!

Seit der Revolution von 1918 war es immer schwer, die deutsche Regierungsmaschine nach vorgeschriebener Gebrauchsanweisung in Gang zu bringen und noch schwerer, sie in Gang zu halten. Heute droht sie endgültig ins Stocken zu geraten. Kein Wunder, daß nicht nur fanatische Revolutionäre die stürmische Forderung erheben, diese Maschine müsse zerschlagen und zum alten Eisen geworfen werden2. Die letzten Monate dürften aber vielen die Augen geöffnet haben für die ebenso einfache als grundlegende Tatsache, daß es mit der Zerschlagung nicht getan wäre, daß vielmehr alles getan werden muß, was notwendig ist, sie zum Funktionieren zu bringen.

2

Vgl. dazu Dok. Nr. 60, insbesondere Anm. 2.

Darüber kann freilich kein Zweifel mehr herrschen, daß die parlamentarische Krise in Deutschland auf ihrem Höhepunkt angelangt ist. Diese Krise hat ihre tiefsten Ursachen in der Aufspaltung, der Atomisierung des öffentlichen Willens in geistiger, sittlicher und politischer Richtung. Die parlamentarischdemokratische Regierungsweise setzt, wenn sie funktionieren soll, die Möglichkeit[298] einer Mehrheitsbildung auf der Grundlage einheitlicher staatlicher Willensbildung voraus. Nur unter dieser Voraussetzung gewährleistet sie eine stabile Staatsführung. Wie steht es aber damit zurzeit in Deutschland?

Die politischen Willensrichtungen ausschlaggebender politischer Gruppen, wie der kommunistischen und demokratischen Marxisten einerseits und der Nationalsozialisten andererseits, sind in positiver Hinsicht schlechthin unvereinbar. Aber auch die politischen Zielsetzungen der Nationalsozialisten und der Mittelgruppen einschließlich der Deutschnationalen sind so sehr entgegengesetzt, daß eine positive Zusammenarbeit auf längere Sicht nur schwer vorstellbar ist. Der Ausweg, die gegebenen Mehrheitsverhältnisse durch Wahlen zu ändern, hat sich als zurzeit nicht zum Ziele führend erwiesen. Es wäre auch eine gefährliche Illusion zu glauben, daß irgend eine Wahl in nächster Zeit in dieser Hinsicht eine entscheidende Änderung bringen könnte3. Dieser Auffassung ist sogar der „Vorwärts“, der im Leitartikel der Morgenausgabe vom 18. Januar 1933 im Blick auf etwaige Reichstagswahlen u. a. schrieb:

3

Zur Kabinettsdiskussion über RT-Neuwahlen s. Dok. Nr. 56.

„Auch dieser neue Wahlkampf kann aber die Entscheidung nicht bringen, um die sich die regierungsfähige nationale Rechte schon seit Jahr und Tag herumquält. Man wird also nach der Wahl nicht weiter sein, als man vor ihr gewesen ist. Die Wirren werden fortdauern, und die Wirtschaft darf an ihnen weiter zugrunde gehen.

So stehen wir vor der zunächst jedenfalls unabänderlichen Tatsache, daß im deutschen Reichstag nur eine negative Mehrheit vorhanden und möglich ist. Eine Mehrheit, die zwar in der Ablehnung jeder möglichen Regierung – aus entgegengesetzten Gründen! – einig ist, die sich aber unfähig zeigt zu gemeinsamer Arbeit und zu sicherer Staatsführung.

Nun bestimmt Artikel 54 der Reichsverfassung:

„Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“

Die Handhabung des Artikels 54 nach dem Buchstaben, die Gegensätzlichkeit der Parteien, die in unüberbietbarer Verantwortungslosigkeit das Parteiinteresse über die einfachsten Staatsnotwendigkeiten stellen, mußten die Krise immer mehr verschärfen. Um in dieser Lage dem Staate trotzdem eine starke und stabile Führung zu sichern, halten viele die Beiseiteschiebung der Verfassung für unumgänglich notwendig4. Ein solcher Schluß erscheint uns aber nicht nur gefährlich, sondern auch überflüssig. In unserer gegenwärtigen politischen Lage gilt es vielmehr, eine sowohl im parlamentarisch-demokratischen System überhaupt als auch im Artikel 54 der Reichsverfassung unterstellte, unausgesprochene Voraussetzung deutlich herauszustellen.

4

Einzelheiten zur verfassungsrechtlichen Diskussion über Art. 54 RV s. in Dok. Nr. 56, Anm. 39.

[299] In der parlamentarischen Mehrheit, der das Recht des Sturzes einer Regierung zugesprochen wird, sind immer zwei untrennbar verbundene Willenselemente wirksam gedacht: Die Ablehnung der bestehenden Regierung und der gemeinsame Wille, an die Stelle der gestürzten Regierung eine solche der eigenen Mehrheit zu setzen.

Verschwindet das zweite, positive Willenselement und tritt nur noch eine negative Mehrheit in Erscheinung, so muß die buchstabenmäßige Handhabung des Artikels 54 zur Verkehrung seines Sinnes und zur staatlichen Anarchie führen. Also Ausschaltung dieses Artikels der Verfassung? Nein, sondern sinngemäße Verbindung mit Artikel 53 der Reichsverfassung. Dieser Artikel sagt:

„Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag [die] Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.“

Wenn nun heute die parlamentarischen Verhältnisse nur negative Mehrheiten, aber keine positiven ermöglichen, dann müssen durch eine stärkere Hervorhebung des Artikels 53 die Gefahren, die durch Mißbrauch des Artikels 54 drohen, unschädlich gemacht werden.

Das kann nur geschehen, wenn dem Reichspräsidenten nach Artikel 53 es nicht nur als sein Recht, sondern als seine Pflicht zuerkannt wird, auf Grund eines Mißtrauensvotums eingereichte Rücktrittsgesuche der Regierung erst anzunehmen und die Regierung erst zu entlassen, wenn eine positive Mehrheit für eine neue Regierung gesichert erscheint.

Die negative Mehrheit hat dabei keinerlei Recht, sich über Nichtbeachtung ihrer negativen Beschlüsse zu beklagen. Sie braucht nur die negative Mehrheit, d. h. regierungsunfähige, in eine positive regierungsfähige zu verwandeln. Das kann niemals Aufgabe der Regierung oder des Reichspräsidenten sein, sondern ist die alleinige Pflicht der Mehrheit, die die Regierung stürzen will.

Aus diesen Feststellungen ergibt sich, daß die heutige politische Lage in Deutschland keineswegs zur Konstruktion eines Staatsnotstands zwingt, daß vielmehr eine dem Geiste der Verfassung entsprechende Anwendung der Artikel 53 und 54 der Reichsverfassung auf die heutigen Verhältnisse genügt, die vorhandenen Schwierigkeiten zu meistern. Die Regierung hat damit zugleich die nötige Bewegungsfreiheit gewonnen, zu einem ihr passenden Zeitpunkt den Reichstag aufzulösen und selbst eine positive Mehrheit zu schaffen.

Wie steht es aber mit den sonstigen Beschlüssen einer negativen Mehrheit, deren Vertrauensvotum unwirksam ist? Kann eine solche Mehrheit der Regierung nicht doch verhängnisvolle Situationen bereiten? Hier zeigt eine ebenso drastische wie treffende Stellungnahme des württembergischen Staatspräsidenten Dr. Bolz die Lösung. Dr. Bolz ist der Führer der geschäftsführenden württbg. Regierung. Als kürzlich eine negative Mehrheit im württbg. Landtag einen Beschluß faßte, dessen Ausführung die Regierung Bolz nicht glaubte verantworten zu können, erklärte Bolz kurz und bündig der negativen Mehrheit:

„Wenn Sie diesen Beschluß durchgeführt haben wollen, dann müssen Sie erst eine andere Regierung suchen.“

Die Annahme eines Mißtrauensantrags durch eine rein negative Mehrheit darf also bei sinnvoller und verantwortungsbewußter Anwendung des parlamentarisch-demokratischen[300] Systems und der Reichsverfassung nur die Bedeutung einer Demonstration eines unfähigen Mißvergnügens haben.

Ähnlich liegen die Dinge bei irgendwelchen andern Beschlüssen einer solchen negativen Mehrheit. Die Regierung ist nur insofern gehalten, sie auszuführen, als sie die Durchführung verantworten kann. Paßt der negativen Mehrheit dieser Zustand nicht, dann braucht sie sich nur um eine positive Mehrheit erfolgreich bemühen. Sie hat aber keinen Anspruch darauf, mit dem Narrenspiel negativer parlamentarischer Mehrheiten den Staat zugrunde richten zu dürfen.

Die Verfassung eines Volkes ist nicht Selbstzweck. Sie soll als Grundgesetz des Staates dem Strom des nationalen Lebens die allgemeine Richtung des Strombettes vorzeichnen. Diese Aufgabe kann sie aber nur erfüllen, wenn sie selbst den inneren Gesetzen der Entfaltung dieses Stromes immer wieder angepaßt wird. Es ist heute Zeit, eine solche Angleichung vorzunehmen, wenn nicht alles in die Tiefe gerissen werden soll.5

5

Der StSRkei bestätigt am 28. 1. im Auftrag des RK dankend den Eingang des Schreibens. Der RK habe den Inhalt „mit besonderem Interesse“ zur Kenntnis genommen (R 43 I /1865 , S. 397).

Simpfendörfer, Md.R.

Extras (Fußzeile):