2.206.2 (bru1p): 2. Politische Angelegenheit.

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2. Politische Angelegenheit.

Der Reichswehrminister betonte die Notwendigkeit einer Aussprache über die Frage der Legalität oder Illegalität der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei2. Er führte u. a. aus, daß die Marinewerft in Wilhelmshaven im August 1927 das Reichswehrministerium gefragt habe, ob die Nationalsozialistische Arbeiterpartei als legal oder illegal anzusehen sei. Die Antwort des Reichswehrministeriums habe gelautet, daß die Partei als illegal zu betrachten sei. Es habe dann u. a. im Mai 1928 der damalige Reichsminister des Innern Dr. von Keudell dem Reichswehrministerium gegenüber schriftlich die Auffassung vertreten, daß die NSDAP nicht als verfassungswidrig zu betrachten sei. Im Juli 1928 habe der damalige Reichsminister des Innern Severing dem Reichswehrministerium schriftlich mitgeteilt, daß er die Auffassung seines Amtsvorgängers, des Reichsministers Dr. von Keudell nicht teile.

2

S. Dok. Nr. 163. In einem Schreiben an Pünder hatte GenMaj. v. Schleicher an die Bitte des RWeM erinnert, eine Kabinettssitzung über die Legalität der NSDAP abzuhalten. „Wenn das Kabinett nicht in allernächster Zeit zu einem Beschluß kommen sollte, sähe sich der Herr Reichswehrminister gezwungen, die von ihm verfügten Maßnahmen (Verbot der Einstellung von Leuten in die Reichswehr, die sich bei der NSDAP betätigt haben, Verbot nationalsozialistischer Arbeiter und Angestellter in Wehrmachtsbetrieben usw.) von sich aus wieder aufzuheben. Diese Maßnahme läßt sich nicht umgehen, da sonst nicht nur unsere Arbeiten in Fragen des Landesschutzes und vor allem des Grenzschutzes Ost gefährdet, sondern auch der Reichskasse […] durch arbeitsgerichtliche Verurteilung Kosten entstehen würden“ (R 43 I /2682 , S. 549).

[752] Das Reichswehrministerium sei nun besonders deshalb in einer schwierigen Lage, weil einige Arbeiter wegen ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen worden seien. Kürzlich habe das Arbeitsgericht in Wilhelmshaven entschieden, daß die Entlassung eines Arbeiters zu Unrecht damit begründet worden sei, daß er zur NSDAP gehöre3. Das Reichswehrsministerium sei zur Zahlung des Arbeitslohnes für mehrere Wochen verurteilt worden. Vor allen Dingen entstehe auch die Verpflichtung, nach Rechtskraft des Urteils die entlassenen nationalsozialistischen Arbeiter wieder einzustellen.

3

In dem Verfahren eines Heizers gegen die Marinewerft Wilhelmshaven, die ihn wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen hatte, hatte das Arbeitsgericht zugunsten des Klägers mit der Begründung entschieden, die eidlichen Bekundungen im Ulmer Reichswehrprozeß bewiesen, daß die NSDAP keine gewaltsamen Umsturzbewegungen verfolge. Dem Kläger war eine Summe von 1065,71 RM zugestanden worden (Deutsche Zeitung Nr. 290 a vom 11.12.30 in R 43 I /2682 , S. 545).

Der Reichsminister des Innern betonte, er habe volles Verständnis dafür, daß der Reichswehrminister die Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP angeschnitten habe. Die Frage sei von großer Bedeutung, auch wegen des vor dem Staatsgerichtshof schwebenden Prozesses wegen Zahlung der Polizeikostenzuschüsse an Thüringen4. Bis zum 14. September 1930, d. h. bis zur eidlichen Vernehmung Hitlers in Leipzig5, müsse man nach seiner Ansicht unbedingt die Partei als revolutionäre Partei ansehen. Bis zu diesem Zeitpunkt seien auch in der nationalsozialistischen Literatur in stärkstem Maße revolutionäre Äußerungen gebracht worden. Derartige Äußerungen seien nach der eidlichen Vernehmung Hitlers in Leipzig stark in den Hintergrund getreten. Die Aussage Hitlers in Leipzig sei sehr eigentümlich. Er habe erklärt, daß er im Jahre 1923 in München durch Gewalt zu seinen Schritten veranlaßt worden sei6. Die Bayerische Regierung habe wiederholt dahin Stellung genommen, daß diese Darlegung Hitlers der Wahrheit nicht entspreche.

4

Vgl. Dok. Nr. 20, P. 6 und Dok. Nr. 156.

5

Die Vernehmung Hitlers vor dem Reichsgericht in Leipzig hatte nicht am 14., sondern am 25.9.30 stattgefunden: s. Dok. Nr. 118, P. 2.

6

Vgl. Dok. Nr. 163, Anlage 1.

Zu beachten seien auch die nationalsozialistischen Äußerungen im Reichstag. Während einer Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten Hoegner sei von nationalsozialistischer Seite der Zwischenruf gefallen: Man dürfe im Interesse der Partei sein Ehrenwort brechen7.

7

Während einer RT-Rede Hoegners am 18.10.30 hatte der NSDAP-Abg. Gregor Strasser den Zwischenruf gemacht: „Diesem System gegenüber kenne ich kein Ehrenwort“ (RTBd. 444, S. 133 ).

Letzten Endes sei es Sache der persönlichen Überzeugung, ob man Hitler glauben könne oder nicht. Er, der Reichsminister des Innern, könne Hitler nicht glauben. Nach seiner Überzeugung müsse sich jede Führung des Reichs und der Länder so einstellen, als ob die Nationalsozialisten in gefährlicher Stunde sich nicht verfassungstreu verhalten würden.

Er empfehle, eine endgültige Stellungnahme des Reichskabinetts zur Frage des Nationalsozialismus zurückzustellen, wenigstens so lange, bis der vor dem Staatsgerichtshof schwebende Streit wegen der Zahlung der Polizeikostenzuschüsse entschieden sei. Zur Zeit kämpften bei den Nationalsozialisten zwei Strömungen,[753] eine radikale und eine mehr legale. Man könne nicht sagen, daß die Nationalsozialisten nie legal sein würden.

Der Reichspostminister führte aus, daß in seinem Ressort die Nationalsozialisten gerade unter der höheren Beamtenschaft in stärkstem Maße an Anhängern gewönnen. Er, der Reichspostminister, könne sich unmöglich auf den Standpunkt stellen, daß die bloße Zugehörigkeit zur NSDAP beamtenrechtliche oder arbeitsrechtliche Folgen habe. Es müsse eine gewisse Agitation hinzukommen, um derartige Folgen hervorzurufen.

Nach seiner Auffassung habe Hitler im Jahre 1923 unter einem gewissen Zwange gehandelt.

Staatssekretär Dr. Joël teilte mit, daß bei der Reichsanwaltschaft ein Verfahren gegen Goebbels wegen Vorbereitung zum Hochverrat schwebe8. In diesem müsse die Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP zur Entscheidung kommen. Dem Oberreichsanwalt sei eine neue preußische Denkschrift zu dieser Frage zugegangen, die dem Reichsjustizministerium nicht bekannt sei, aber angeblich schweres Belastungsmaterial der Nationalsozialisten enthalte9.

8

Gegen Goebbels war 1929 ein Hochverratsverfahren vom RIMin. beantragt und von der Reichsanwaltschaft eingeleitet worden. Der Reichsanwalt erhob am 6.4.32 gegen Goebbels Anklage, ohne daß es zu einer Verhandlung kam (Bucher, Der Reichswehrprozeß, S. 13–14).

9

S. Dok. Nr. 163, Anm. 3.

Wenn die Reichsregierung jetzt zur Frage der Legalität oder Illegalität der Nationalsozialisten endgültig Stellung nähme, würde der Entscheidung des Oberreichsanwalts bzw. des Reichsgerichts in gewisser Weise vorgegriffen.

In bezug auf die Entlassung von Arbeitern sei die Heeresverwaltung anders gestellt als die Reichspostverwaltung oder andere Behörden. Die Heeresverwaltung habe auch bestehendem Recht weit mehr Kündigungsgründe als die anderen Ressorts.

Generalmajor von Schleicher führte aus, das Reichswehrministerium habe bisher stets den Standpunkt vertreten, daß die Zugehörigkeit zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Grund zur Entlassung eines Arbeiters bilde. Dieser Standpunkt sei nach dem letzten Urteil des Arbeitsgerichts in Wilhelmshaven und nach anderen Urteilen kaum noch aufrechtzuerhalten. Vor allem müßten nun die entlassenen Arbeiter wieder eingestellt werden.

Besondere Schwierigkeiten bereite die Frage des Nationalsozialismus auch in den Grenzschutzangelegenheiten. In Oberschlesien wollten alle Parteien im Grenzschutz mitarbeiten mit Ausnahme der Kommunisten. Wie solle sich das Reichswehrministerium hier verhalten, wo es gerade in den Grenzgebieten besonders viele Nationalsozialisten gebe? Man werde einzelne Nationalsozialisten einstellen müssen, jedoch unbedingt davon Abstand zu nehmen haben, daß etwa geschlossene nationalsozialistische Formationen im Grenzschutz Aufnahme fänden.

Frick habe einmal seinen Parteiangehörigen verboten, in den Grenzschutz einzutreten. Sollten sie sich an dieses Verbot nicht halten, so habe Frick mit Veröffentlichung von Grenzschutzangelegenheiten gedroht. Eine derartige[754] Veröffentlichung würde zweifellos Landesverrat bedeuten. Trotz des Verbots Fricks seien die Nationalsozialisten zahlreich dem Grenzschutz beigetreten.

Der Reichsminister des Innern teilte in diesem Zusammenhang mit, daß der Abgeordnete Graf Reventlow kürzlich an ihn die Frage gerichtet habe, ob die Grenzschutzverbände in Oberschlesien gegen die Nationalsozialisten gerichtet seien.

Er, der Reichsminister des Innern, habe selbstverständlich diese Frage mit nein beantwortet. Weitere Fragen habe Graf Reventlow an ihn nicht gerichtet.

Der Reichskanzler vertrat die Auffassung, daß das Reichskabinett jetzt noch nicht zu der Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP endgültig Stellung nehmen könne. Auf jeden Fall müsse die Reichsregierung sich davor hüten, dieselben falschen Methoden gegen die Nationalsozialisten anzuwenden, welche in der Vorkriegszeit gegen die Sozialdemokraten angewendet worden seien. Anstelle des Reichswehrministers würde er vorläufig in den Heeresbetrieben sich um die Parteizugehörigkeit der Arbeiter nicht mehr kümmern. Natürlich müßten die schwebenden Prozesse durchgeführt werden. Bei der Einstellung in die Reichswehr sei nach seiner Auffassung die bisherige Praxis zu verfolgen. Was den Grenzschutz anlange, so werde weder in Oberschlesien noch auch in anderen Gegenden die Einstellung von Nationalsozialisten ausgeschlossen werden können. Von der Einstellung ganzer nationalsozialistischer Formationen in den Grenzschutz müsse natürlich Abstand genommen werden.

Die übrigen anwesenden Mitglieder des Reichskabinetts erhoben keine Einwendungen gegen diese grundsätzliche Stellungnahme des Reichskanzlers.

Staatssekretär Dr. Joël teilte zum Schluß der Aussprache mit, daß das Reichsjustizministerium für Beschleunigung des Verfahrens gegen Goebbels Sorge tragen werde. Das Reichsjustizministerium werde das Reichskabinett von der beabsichtigten Stellungnahme des Oberreichsanwalts zur Frage der Legalität oder Illegalität der NSDAP rechtzeitig unterrichten10.

10

In R 43 I nicht ermittelt.

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