2.71.5 (str1p): a) Fühlungnahme mit den Vertretern des besetzten Gebiets.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 15). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

RTF

a) Fühlungnahme mit den Vertretern des besetzten Gebiets.

Der Reichskanzler berichtete kurz über den gegenwärtigen Stand der Verhandlungen mit den Okkupationsmächten9 und wies daraufhin, daß in den nächsten Tagen auf Grund der endgültigen Stellungnahme in Paris entscheidende Beschlüsse voraussichtlich zu fassen sein würden10. Mit Rücksicht hierauf[321] sei es erwünscht, möglichst in wenigen Tagen die Vertreter des besetzten Gebietes zu einer Besprechung nach Berlin zu berufen.

9

S. Dok. Nr. 64 u. 68.

10

Am gleichen Tag legte MinDir. von Schubert in einer vertraulichen Aufzeichnung dar, welche Schritte vermutlich in der nächsten Zeit vorzunehmen seien. Es sei damit zu rechnen, daß die Franzosen nicht auf die deutschen Vorstellungen eingehen würden, dennoch müsse der passive Widerstand abgebrochen werden. Dann seien zwei Gesichtspunkte, die in der Tendenz einander widersprechen würden, abzuwägen: „Einerseits ist es notwendig, unserem Vorgehen möglichst den Charakter einer bedingungslosen Kapitulation zu nehmen. Andererseits muß vermieden werden, daß die Form der Aufgabe des Widerstandes den Franzosen doch noch die Möglichkeit beläßt, sich unter Vorwänden der gemeinsamen Verhandlungen über die Ruhr- und Reparationsfrage zu widersetzen.“ Daher sei erforderlich, 1. die Aufgabe des passiven Widerstandes nicht zu verschleiern, sondern ihn offen und unzweideutig darzustellen. 2. Es dürfe nicht verschwiegen werden, daß die finanzielle Lage die Fortsetzung des Widerstandes unmöglich gemacht habe. Doch dürfe nicht der Eindruck entstehen, der RReg. sei die Freiheit der Entschließung geraubt. 3. Als Folge der Aufgabe des Widerstandes müßte eine Erfüllung der von Deutschland in den Verhandlungen mit Frankreich und Belgien dargelegten Vorstellungen erwartet werden. „4. Sollten sich Frankreich und Belgien der Erkenntnis dessen verschließen, was jetzt von ihrer Seite zu geschehen hat, so sind die Folgen unabsehbar. Ein deutsch-alliiertes Zusammenarbeiten im Ruhrgebiet wäre, auch nur für die Dauer des Provisoriums, ausgeschlossen. Die Reichsregierung würde dann gezwungen sein, die Sorge für die Aufrechterhaltung der Ruhe und des wirtschaftlichen Lebens in den besetzten Gebieten Frankreich und Belgien zu überlassen. Sie allein würden für alle Folgen die Verantwortung tragen. – 5. Der vorstehende Gedankengang wäre mit einem starken, ernsten Appell an die Mächte zu schließen, nunmehr, nachdem Deutschland die letzten ihm möglichen Schritte getan hat, sofort an die endgültige Regelung heranzutreten“ (Pol. Arch.: Büro RM PA, Bd. 1).

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete hielt ebenfalls eine beschleunigte Fühlungnahme mit dem besetzten Gebiet für erforderlich und meinte, daß außerdem die Parteiausschüsse und die Ministerpräsidenten der Länder zur Aussprache hinzugezogen werden müßten.

Der Reichskanzler bat, den Kreis der nach Berlin zu berufenden Vertreter aus dem besetzten Gebiet nicht zu weit zu ziehen, da andernfalls unnötiges Aufsehen erregt und Veranlassung zu unerwünschten Gerüchten gegeben würde11.

11

Zu den Besprechungen am 24.9.23 wurden eingeladen als Vertreter des besetzten Gebietes (12 Uhr) aus dem altbesetzten preußischen Gebiet: 5 Personen; aus dem neubesetzten preußischen Gebiet: 5 Personen; aus dem hessisch-besetzten Gebiet: 4 Personen; aus dem pfälzisch-besetzten Gebiet: 2 Personen, dazu als Vertrauensmann der RReg. OB Jarres; zur Besprechung um 16.30 Uhr wurden eingeladen neben den zuständigen preußischen Vertretern die Gesandten Bayerns, Hessens, Badens und Oldenburgs, der OPräs. von Münster, die RegPräs. von Münster, Arnsberg, Düsseldorf, Aachen, Köln, Koblenz, Trier und Wiesbaden, der Sonderkommissar Bayerns, die Staatskommissare für die Pfalz und das besetzte Baden, der Landeskommissar in Mainz, der Verbindungsmann zu den Bergarbeiterverbänden, die OB Jarres und Külb, die 20 Vertreter des Wirtschaftsausschusses, die Vorsitzenden der Abwehrausschüsse in Unna, Heidelberg und Köln mit einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer, die 6 Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Rhein-Ruhr, 7 Vertreter der Spitzenorganisation der Eisenbahner, der Vorsitzende des Landesverbandes der Beamten in Köln, die Städtevereinigung mit drei Vertretern, der Deutsche Bergarbeiter- und der Christliche Bergarbeiterverband mit je drei Vertretern, die Parteiausschüsse Elberfeld und Dortmund mit je fünf Vertretern und zwei–drei Mitglieder des pfälzischen Aktionsausschusses. Zusammen mit den Mitgliedern der RReg. und des PrStMin. wären für die Nachmittagssitzung etwa 110 Personen zusammengekommen (Vorschlagsliste des RMinbesGeb. vom 21.9.23; R 43 I /215 , Bl. 147–148).

Der Reichsminister des Innern sowie der Reichsarbeitsminister und der Reichsverkehrsminister stimmten dem Gedanken einer Fühlungnahme mit den Vertretern des besetzten Gebietes zu, wiesen jedoch daraufhin, daß die Reichsregierung sich vorher klar sein müsse, welche Beschlüsse sie fassen wolle und was den Vertretern aus dem besetzten Gebiet gesagt werden solle. Letztere würden unbedingt vollste Aufklärung verlangen12, und es könnte leicht aus Anlaß der Aussprache zu Indiskretionen kommen.

12

Vgl. hierzu Dok. Nr. 70.

[322] Der Reichskanzler betonte abermals die unbedingte Notwendigkeit einer Fühlungnahme und wies daraufhin, daß auch der Herr Reichspräsident das Haupterfordernis der gegenwärtigen Lage darin erblicke, die öffentliche Meinung auf die zu treffenden Entscheidungen in richtiger Weise vorzubereiten. Der Gefahr der Indiskretion könne man begegnen, indem man den Kreis der Beteiligten nach Möglichkeit beschränke und im übrigen die Zusammenstellung [!] auf eine informatorische Aussprache abstelle.

Nach einer weiteren Erörterung über die zu beteiligenden Vertreter wurde beschlossen, dieselben in zwei Zusammenkünften zu empfangen und außerdem mit den Ministerpräsidenten eine Aussprache abzuhalten. Es wurde folgendes Programm aufgestellt:

Montag, den 24. September 12 Uhr mittags: Aussprache mit den Parteivertretern13,

13

S. Dok. Nr. 76.

Montag, den 24. September 4½ Uhr nachm.: Empfang des Wirtschaftsausschusses, der Abwehrausschüsse und der Beamtenorganisationen (zusammen etwa 50 bis 60 Personen)14,

14

S. Dok. Nr. 77.

Dienstag, den 25. September vorm. 10 Uhr: Aussprache mit den Ministerpräsidenten15. Sämtliche Empfänge im Reichskanzlerhause.

15

S. Dok. Nr. 79.

Bei einer Zusammenkunft des Reichsministeriums am 23. September werde das Reichsministerium die näheren Modalitäten der Aussprache festsetzen16.

16

Eine Ministerbesprechung am 23. 9. konnte in den Akten der Rkei nicht ermittelt werden. In R 43 I /1318  liegt eine Einladung zu einer Sitzung des Kabinetts unter Hinzuziehung der StS von Maltzan und Weismann am 22. 9. zur Erörterung der politischen Lage vor. Eine Niederschrift konnte nicht ermittelt werden.

b) Der Reichskanzler schlug vor, die aus Anlaß eines Abbaus des passiven Widerstandes zu treffenden Maßnahmen durch einen besonderen Ausschuß der beteiligten Ressorts vorbereiten zu lassen. In Frage kämen die Reichsministerien der besetzten Gebiete, des Innern, des Auswärtigen, der Finanzen, der Arbeit, des Verkehrs, der Ernährung und der Wirtschaft; die Federführung übernehme zweckmäßigerweise das Reichsministerium für die besetzten Gebiete. Es handle sich darum, eine Art von Demobilmachungsplan vorzubereiten17.

17

Bereits am 17. 9. hatte MinR Kiep vorgeschlagen, daß zur Aufhebung der das besetzte Gebiet betreffenden Beschlüsse organisatorische Vorbereitungen getroffen würden. „Es muß schon vor Eintritt der politischen Entscheidung ein klarer Aktionsplan vorliegen. Für die Verhandlungen mit der französischen Regierung ist ein Programm erforderlich (deutsche Forderungen hinsichtlich der Übernahme der Verwaltung und der Eisenbahn, Zurückführung der Ausgewiesenen usw., Inbetriebsetzung der Wirtschaft). Endlich muß eine Verhandlungskommission zur sofortigen Entsendung verfügbar sein. – Zur Durchführung dieser Vorbereitungen erscheint die sofortige Einsetzung eines ‚Demobilmachungsausschusses‘ (bestehend aus je einem Vertreter des Reichsinnen-, arbeits-, wirtschafts- und verkehrsministeriums) geboten. Die Federführung dürfte dabei dem Reichsministerium des Innern zukommen. Um in den Ressorts nicht unnötiges Aufsehen zu erregen, wäre es angebracht, die Aufforderung hierzu durch den Herrn Reichskanzler auf mündlichem Wege ergehen zu lassen und die Beteiligung auf je einen Vertreter (maßgebende Referenten oder Abteilungsleiter) zu beschränken.“ Aus einem Randvermerk Kieps geht hervor, daß er MinR Kempner veranlaßte, diesen Vorschlag in der TO der Sitzung vom 20. 9. zu berücksichtigen (R 43 I /215 , Bl. 42).

Das Reichsministerium stimmte dem Vorschlage zu.

[323] c) Auf eine Anfrage des Reichskanzlers erwiderte der Reichsminister der Finanzen daß alle Maßnahmen zur beschleunigten Durchführung der Währungsreform im Gange seien; insbesondere seien für den Notendruck Vorbereitungen getroffen und die Personalfrage in Behandlung18.

18

S. zum Stand der Währungsfragen Dok. Nr. 67, 81 u. 82, P. 2.

d) Auf Anfrage des Reichskanzlers teilte der Reichswirtschaftsminister mit, daß die von dem Devisenkommissar vorgeschlagenen Maßnahmen zur wirksamen Erfassung der Devisen19 in Angriff genommen seien und beschleunigt durchgeführt werden würden.

19

Devisenkommissar Felling hatte in einem Schreiben an den RK vom 18.9.23 über seine ersten Erfahrungen bei dem Versuch, unproduktive Devisen zu erfassen, berichtet. Er hatte ausgeführt, daß in der Bevölkerung keine Bereitschaft zur Ablieferung zugunsten des Reiches bestehe. Technische Schwierigkeiten würden eine allgemeine Beschlagnahme behindern, daher seien Maßnahmen zur individuellen Erfassung eingeleitet. Um für die beschlagnahmten Devisen einen wirklichen Gegenwert bieten zu können, sei erforderlich, daß die Sanierung der Währung und die Schaffung wertbeständiger Zahlungsmittel beschleunigt weitergeführt würden. Weiterhin sei erforderlich, daß die vom Reich in Anspruch genommenen Devisen zum Wiederaufbau der Wirtschaft Verwendung fänden. Auf einzelnen Gebieten seien die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tätigkeit des Devisenkommissars bereits gegeben: „Ich habe zum Beispiel festgestellt, daß Versicherungsnehmer nicht nur bereit sind, sondern es sogar vorziehen, Versicherungsprämien für Festmarkversicherungen in Devisen zu zahlen, soweit sie über solche verfügen. Das gleiche gilt insbesondere für landwirtschaftliche Bevölkerungskreise bei Einzahlungen auf wertbeständige Konten bei den in der letzten Zeit entstandenen Festmarkbanken. Ein Abkommen mit den großen Versicherungsgesellschaften, die bereit sind, die ihnen auf diese Weise zugehenden Devisenbeträge mir zur Verfügung zu stellen, steht unmittelbar vor dem Abschluß und ist dem Herrn Reichswirtschaftsminister zur Genehmigung vorgelegt. Die Verhandlungen mit den Festmarkbanken werden im Einvernehmen mit der Reichsbank beschleunigt geführt werden. Von beiden Maßnahmen verspreche ich mir einen schon in Kürze sich auswirkenden Teilerfolg, da im Falle eines Abschlusses beider Abkommen, insbesondere die über das ganze Land verbreitete Organisation der Versicherungsgesellschaften als Aufsaugeapparat für mich tätig sein wird“ (R 43 I /2448 , Bl. 22–25).

e) Auf Anfrage des Reichskanzlers teilte der Reichswirtschaftsminister mit, daß alle in Frage kommenden Maßnahmen zur Beschränkung der unnötigen Einfuhr getroffen oder in der Vorbereitung begriffen seien20.

20

Eine wahrscheinlich aus dem RWiMin. stammende Zusammenstellung über verschiedene Importgüter und ihre jeweilige Bedeutung für die Gegenseitigkeit im Außenhandel war schon am 12.8.23 von Kempner und Grävell ausgezeichnet worden. Es geht daraus hervor, daß der Import von Kaffee im Jahr 1922/23 gegenüber dem Jahr 1913 erheblich zurückgegangen, demgegenüber der von Tee aber zugenommen habe. Die Einfuhr von Rohkakao und Kakaopulver lag über der von 1913, und in den ersten fünf Monaten des Jahres 1923 war die Schokoladeneinfuhr gegenüber dem gleichen Zeitraum des Jahres 1922 gestiegen. Der Import von Südfrüchten, Wein und Bier war rückläufig, aber der Likörimport hatte zugenommen, stammte allerdings zumeist aus Gebieten, die durch den VV von Deutschland abgetrennt worden waren. Die Einfuhr von Seide war stark rückläufig und hatte für Spitzen und Spitzenstoffen fast aufgehört (R 43 I /1174 , Bl. 89–103).

f) Auf Anfrage des Reichskanzlers teilte der Reichsarbeitsminister mit, daß das von ihm in Aussicht gestellte soziale Programm in Vorbereitung sei und schon am 22. des Monats einer Chefbesprechung unterbreitet werden könnte, so daß das Reichsministerium in der Lage sei, sich am 23. damit zu befassen21.

21

Eine Chefbesprechung im RArbMin. vom 22.9.23 behandelte Kohlenpreis und Kohlensteuern, jedoch nicht das angekündigte Sozialprogramm. Eine Kabinettssitzung vom 23. 9. konnte nicht ermittelt werden, auch keine Einladung hierzu. S. jedoch U. Oltmann, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staats- und Währungskrise 1923/24, S. 184 ff.; vgl. außerdem Dok. Nr. 97, P. d.

[324] g) Auf Anfrage des Reichskanzlers teilte der Reichsminister der Finanzen mit, daß die notwendigen Maßnahmen zur Stützung der Goldanleihe getroffen seien22.

22

Zum Stand der Goldanleihe s. Dok. Nr. 45, P. 5. Die Anfrage des RK dürfte auf ein Schreiben des DVP-Abg. Heinze vom 12.9.23 zurückgehen. Heinze hatte ausgeführt, daß in einer Fraktionssitzung vom gleichen Tag die Stützung der Goldanleihe nicht mit der ihm notwendig erscheinenden Klarheit behandelt worden sei. Sinke diese Goldanleihe unter Pari, so sei das Vertrauen zur Regierung auf das stärkste erschüttert, „die Möglichkeit etwas Wertbeständnis im Land zu haben, auf absehbare Zeit dahin“. Entsprechend solle auf den RFM eingewirkt werden. Auf Anordnung des StS von Rheinbaben wurde diese Angelegenheit den „kleinen Fragen“ zugeordnet (R 43 I /2439 , Bl. 184). – In der Fraktionssitzung der DVP vom 12.9.23 hatten die Abg. Kulenkampf und von Kardorff Zweifel an der Wirksamkeit der Goldanleihe geäußert (Pol. Arch.: NL Stresemann  87).

Infolge Behinderung des Reichskanzlers23 übernahm der Reichsarbeitsminister den Vorsitz.

23

Im Terminkalender ist am 20.9.23 für 18.30 Uhr eine Unterredung mit dem DVP-Abg. Heinze und für 20 Uhr ein Diner mit dem päpstlichen Nuntius Pacelli verzeichnet (BA: NL von Stockhausen  15).

Extras (Fußzeile):