1.80.2 (str2p): 2. Lage in Sachsen:

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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2. Lage in Sachsen:5

5

Teilweiser Abdruck dieses TOP in Vermächtnis I, S. 189 ff.

Der Reichskanzler berichtete über die Vorgänge seit der letzten Ministerbesprechung6. Er habe den dort gefaßten Beschlüssen entsprechend ein Schreiben an den sächsischen Ministerpräsidenten gerichtet7. Am Sonntagabend sei ihm die Antwort des letzteren übermittelt worden, welche Dr. Zeigner gleichzeitig in der Presse bekanntgegeben habe. Sie habe dahin gelautet, daß die sächsische Regierung keinen politischen Grund für ihren Rücktritt als vorliegend erachten könne, und die Rechtsgültigkeit des Vorgehens der Reichsregierung in Frage ziehe8.

6

S. Dok. Nr. 186, P. 2.

7

S. Dok. Nr. 188.

8

S. Dok. Nr. 191; Anm. 2 zu Dok. Nr. 192.

Auf Grund einer inzwischen vom Herrn Reichspräsidenten vorbereiteten Verordnung, welche dem Reichskanzler die erforderliche Vollmacht gebe9, habe er alsdann mit dem Reichswehrminister und dem Befehlshaber in Sachsen, General Müller, über die Auswahl der als Staatskommissar einzusetzenden Persönlichkeit Beratungen gepflogen. Von 3 in Frage kommenden Persönlichkeiten seien 2 aus personellen Gründen ausgeschieden, so daß man sich auf die 3. geeinigt habe. Dies sei der Reichsminister a. D. Dr. Heinze, der demgemäß zum Kommissar ernannt worden sei10.

9

VO des RPräs. vom 29.10.23 in RGBl. I, S. 995 . Zur Einstellung des RPräs. gegenüber dem Vorgehen gegen Sachsen s. Anhang Nr. 1. In der SPD-Fraktionssitzung vom 31.10.23 wurde an der Entscheidung Eberts, seinen Namen unter die VO zu setzen, scharfe Kritik geübt. So erklärte Breitscheid: „Verantwortung trifft Reichspräsident“. Der Abg. Hoch führte aus: „Nach meiner Ansicht ist Ebert erledigt. Wie konnte er eine solche Verwendung unterschreiben“ (Arch.soz.Dem.: NL Keil  II/24). S. a. Stresemanns Tagesnotizen vom 29.10.23, Vermächtnis I, S. 187.

10

Vor der RT-Fraktion der DVP berichtet Heinze am 6.11.23 u. a.: „Sonnabend vor acht Tagen war ich in der Reichskanzlei, da nannte man mir als Reichskommissar Schulze. Montag früh holte mich ein Offizier des Reichswehrministeriums aus dem Hause und bat mich, um Himmels willen Reichskommissariat zu übernehmen.“ In der gleichen Sitzung führte Stresemann aus: „Die Dinge haben sich so entwickelt: am 27. Oktober Brief an Zeigner, Kandidaten für Reichskommissar: Schulze, Dähne, Heinze. Ich habe Heinze bestimmt.“ (Pol.Arch.: NL Stresemann  87). S. dazu auch Vermächtnis I, S. 187, 189 f.

Es frage sich nun, wie die Dinge weiter verlaufen würden. Es sei klar, daß das neu zu bildende Kabinett in Sachsen nicht unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten Dr. Zeigner stehen dürfe11. Der Sächsische Landtag sei zu Dienstag einberufen mit der Tagesordnung: Entgegennahme einer Regierungserklärung.[877] Jedenfalls müsse der Kommissar versuchen, nach Möglichkeit vor Zusammentritt des Landtages die neue Regierung zu bilden12. Komme keine Regierung zu Stande, so müsse der Reichskommissar bis auf weiteres die Regierungsgeschäfte fortführen.

11

S. hierzu Anm. 3 in Dok. Nr. 206.

12

Um 14.45 Uhr teilte RKom. Heinze telefonisch mit, er habe verfügt, daß der LT vorerst keine Sitzung abhalte. An die Minister habe er ein Schreiben gerichtet, sie müßten bis 14 Uhr ihre Ministerien verlassen haben und hätten sich als abgesetzt zu betrachten. Die Räumung der Ministerien sei erfolgt. Finanzministerium und Landtag seien militärisch besetzt. In einem Aufruf habe er seine Ernennung der Bevölkerung mitgeteilt. „Außer der Fühlungnahme mit den neuen Kabinettsmitgliedern“, gemeint sind die eingesetzten Kommissare, habe er keine weiteren Amtshandlungen durchgeführt (R 43 I /2309 , Bl. 253).

Der Reichsminister für Wiederaufbau bat, von irgendwelchen Maßnahmen auf Grund der Ermächtigungsverordnung abzusehen, bis erst der Versuch gemacht sei, eine neue Regierung in Sachsen ohne den Ministerpräsidenten Dr. Zeigner zu bilden. Ein solcher Aufschub der Vollstreckung sei dringend erwünscht mit Rücksicht auf die Erregung in Sachsen, die insbesondere infolge der letzten Vorgänge in Freiberg aufs Höchste gestiegen sei13. Er gebe überdies zu erwägen, daß nach verschiedenen Äußerungen der Presse die Rechtsbasis des Vorgehens der Reichsregierung in Zweifel gezogen werde14.

13

Nach einem telefonischen Bericht aus Dresden, der in der Rkei am 30.10.23 präsentiert wurde und den Kempner als „sichtlich gefärbt“ bezeichnete, hatte es in Freiberg zwischen Reichswehr und Bevölkerung mehrere schwere Zusammenstöße gegeben, bei der die Soldaten mehrfach auf die Bevölkerung geschossen hatten, wodurch es zahlreiche Tote und Verletzte gegeben hatte. Außerdem waren in Freiberg Verhaftungen durch das Militär vorgenommen worden. Dem Bericht zufolge war die Bevölkerung auch erbittert, da durch die Reichswehr Lebensmittel aufgekauft wurden (R 43 I /2309 , Bl. 260–262); s. a. Schultheß 1923, S. 206.

14

Vgl. hierzu Anm. 2 zu Dok. Nr. 192; s. aber demgegenüber auch Dok. Nr. 187.

Der Reichsminister des Innern führte aus, daß er vor Ernennung des Kommissars eine Unterrichtung des Kabinetts und die Gelegenheit zur Beschlußfassung erwartet haben würde. Er halte den eingeschlagenen Weg für falsch und insbesondere die Berufung eines Mitgliedes der Deutschen Volkspartei zum Reichskommissar für verfehlt15.

15

S. hierzu Dok. Nr. 187; die Ausführungen des RIM in Dok. Nr. 186, P. 2.

Er bitte dringend, weitere Maßnahmen zu unterlassen, bis ein erneuter Verständigungsversuch unternommen sei. Im übrigen empfehle er auch der Reichswehr, in ihrem Vorgehen in Sachsen sich Zurückhalt aufzuerlegen. Die Vorgänge in Pirna und Freiberg riefen nicht nur in Sachsen und im übrigen Reiche tiefste Erregung hervor, sondern seien auch geeignet, im Auslande die deutsche Regierung und insbesondere die militärische Exekutive in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen16.

16

Zu den Aktionen der RWe in Sachsen s. Anhang Nr. 1.

Bei dieser Gelegenheit müsse er auch auf das Vorgehen der bayerischen Regierung gegen die Juden in Bayern hinweisen17. Es kämen andauernd jüdische Flüchtlinge in das besetzte Gebiet, um bei den alliierten Behörden Schutz zu suchen. Unter solchen Verhältnissen, die ebenfalls den Ruf des Reiches im Auslande auf das ernsteste gefährdeten, könne er als Reichsminister des Innern die Verantwortung nicht tragen.

17

S. Anm. 12 zu Dok. Nr. 193; Dok. Nr. 211.

[878] Der Reichsernährungsminister äußerte die Auffassung, daß, nachdem nun einmal die Ermächtigungsverordnung und die Berufung des Reichskommissars in der Presse bekanntgegeben seien, die Reichsregierung unmöglich den Schritt rückgängig machen könne.

Der Reichskanzler wies gegenüber den Ausführungen des Reichsministers des Innern darauf hin, daß bei der Ministerbesprechung am 27. d. Mts. von allen Mitgliedern des Reichsministeriums zu dem von ihm vorgeschlagenen Schreiben an den sächsischen Ministerpräsidenten die Zustimmung erteilt worden sei18. Darin liege auch die Zustimmung zu den auf Grund des Schreibens im Falle der Ablehnung zutreffenden Maßnahmen. Überdies habe er mit den aus Dresden zurückgekehrten Herren der Sozialdemokratischen Partei am Abend des 28. die Lage erörtert, so daß eine fehlende Orientierung nicht behauptet werden könne19. Mit Rücksicht auf die Lage in Bayern sei es überdies nicht möglich gewesen, die zu treffenden Entscheidungen weiter aufzuschieben20.

18

Vgl. hierzu Dok. Nr. 186, P. 2.

19

S. hierzu Tagesnotizen, 28.10.23, in: Vermächtnis I, S. 187; vgl. außerdem die Ausführungen Dittmanns in Dok. Nr. 193.

20

Vgl. hierzu die Ausführungen in Dok. Nr. 193.

Der Reichswehrminister wies die gegen die Reichswehr bezgl. ihres Verhaltens in Sachsen vorgenommenen Angriffe zurück und gab eine Schilderung über die Vorgänge in Freiberg. Er bitte den Reichsjustizminister, mit möglichster Beschleunigung außerordentliche Gerichte einzusetzen, welche in der Lage sein würden, den Sachverhalt objektiv festzustellen.

Der Reichsminister für Wiederaufbau äußerte die Auffassung, daß sich Blutvergießen hätte vermeiden lassen, wenn die Truppeneinmärsche jeweils vorher angezeigt worden wären. Im übrigen wolle er keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß er und seine Fraktionskollegen in der Besprechung am 27. lediglich dem Verständigungsversuche, nicht dagegen den nunmehr getroffenen Maßnahmen, ihre Zustimmung erteilt hätten.

Der Reichskanzler erklärte, er habe den bestimmten Eindruck gewonnen, daß in der Sitzung am 27. ein übereinstimmender Beschluß gefaßt sei21.

21

S. Dok. Nr. 192.

Der Reichswirtschaftsminister bestätigte die Auffassung des Reichskanzlers und wies darauf hin, daß es äußerst gefährlich sei, der Reichswehr bei ihrer Aufgabe in Sachsen Beschränkungen aufzuerlegen, welche die Sicherheit der Truppen gefährdeten.

Der Reichsminister des Innern wiederholte seine Ausführungen hinsichtlich des Verhaltens der Reichswehr und stellte fest, daß er in der Sitzung am 27. seine Zustimmung zu den nunmehr getroffenen Maßnahmen nicht erteilt habe. Er habe allerdings die Erörterung so aufgefaßt, daß der Reichswehrminister als Inhaber der vollziehenden Gewalt die Verantwortung trage und dem Ministerium lediglich von seinen Absichten habe Kenntnis geben wollen.

Der Reichsverkehrsminister stimmte den Ausführungen des Reichskanzlers zu und schlug vor, die Verhandlungen mit den Parteien in Sachsen durch die Parteileitung führen zu lassen.

[879] Der Reichskanzler stellte hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Angelegenheit fest, daß er Minister Heinze bitten wolle, vor Empfang weiterer Weisungen keine Schritte zu unternehmen. Diese Weisungen wolle er nach Prüfung der Rechtslage und im Einvernehmen mit den beteiligten Stellen im Laufe des Nachmittags festlegen und nach Dresden übermitteln22.

22

S. dazu Stresemanns Aufzeichnung v. 29.10.23, in: Vermächtnis I, S. 189 ff.

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