1.8 (vsc1p): Agrarpolitik versus Handelspolitik

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Agrarpolitik versus Handelspolitik

Die mit der Eindämmung der Arbeitslosigkeit verknüpfte industrielle Wirtschaftsbelebung stellte die zentrale konjunkturpolitische Aufgabe der Regierung von Schleicher dar. In ihren ökonomischen Ausmaßen nicht weniger krisenträchtig und in ihren sozialen Folgen nicht weniger verhängnisvoll gestaltete sich die wirtschaftliche Lage im Agrarsektor. Seine Probleme resultierten kriegsfolgenbedingt aus dem Verlust traditioneller osteuropäischer Absatzmärkte und frachtkostenwirksam aus der Zerreißung alter Verkehrsverbindungen. Der Ausbau des Weimarer Sozialleistungssystems und die Angleichung des landwirtschaftlichen Lohnniveaus an das der Industrie war seit Mitte der zwanziger Jahre zusammengefallen mit einer weltweiten agrarischen Überproduktion und einem damit verbundenen Verfall der Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Grundprodukte wie Getreide und Kartoffeln. Tendenziell war von der sich öffnenden Preisschere der großlandwirtschaftlich strukturierte Nordosten des Deutschen Reiches stärker betroffen als die klein- und mittelbäuerlichen Betriebe im übrigen Reichsgebiet. Von Krisenerscheinungen waren aber auch sie keineswegs verschont geblieben. Die Erlöse, die sie aus dem Verkauf landwirtschaftlicher Veredlungsprodukte erzielten, sanken in dem Umfang, in dem mit der allgemeinen Wirtschaftskrise die Massenkaufkraft der Industriearbeiterschaft und die Nachfrage der städtischen Bevölkerung insgesamt zurückging114. Überschuldungen und Kapitalnot kamen hinzu und erstickten vor dem Hintergrund traditioneller Vorstellungen von dem notwendigen Erhalt eines bodenständigen Bauerntums die Sanierung unrentabel arbeitender[XLVII] Betriebe. Mit Preissubventionen, Zinsbeihilfen und anderen Schutzmaßnahmen im Rahmen bzw. in Ergänzung eines speziellen Osthilfeprogramms war versucht worden, den Krisensymptomen zu Leibe zu rücken115. Der sozialen Not, dem massenhaften Zusammenbruch einzelner Betriebe und ganzer Genossenschaften sowie der politischen Radikalisierung der Landbevölkerung konnte damit nicht Einhalt geboten werden116. Die Regierung Brüning hatte einen Ausgleich zwischen der grundlegenden Forderung der landwirtschaftlichen Interessenvertreter nach einer protektionistischen Abschottung des deutschen Binnenmarktes gegen Agrarimporte und dem Widerspruch von Industrie und Großhandel, die sich durch ausländische Boykottreaktionen in ihrer vom Export deutscher Waren abhängigen Existenz gefährdet sahen, nicht herbeiführen können. Die Regierung v. Papen, in der Reichsernährungsminister v. Braun die Autarkieinteressen der Landwirtschaft und Reichswirtschaftsminister Warmbold die Exportinteressen der Industrie nachhaltig vertraten, war einer Beantwortung der Frage nach dem Stellenwert und Umfang regulierender staatlicher Eingriffe in diesen Sektor des Wirtschaftslebens ausgewichen117. Sie sah sich mit den in dieser Auseinandersetzung in einer schiefen Schlachtordnung kämpfenden gewerkschaftlichen Kräften sogar noch einer dritten Front ausgesetzt, da von dieser Seite sowohl Staatsinterventionismus in der Arbeitsbeschaffungspolitik als auch – aus Sorge um den Erhalt der verbliebenen Arbeitsplätze – Wirtschaftsliberalismus für die Handelspolitik gefordert wurde118.

114

Vgl. dazu Dok. Nr. 17; 25; 63; 64; 69.

115

Vgl. dazu Dok. Nr. 40, Anm. 2; 47, Anm. 2.

116

Dok. Nr. 18; 21, P. 1; 50.

117

Vgl. dazu Dok. Nr. 8; 12, insbesondere Anm. 7; 20, insbesondere Anm. 2 und 4; 23; 25, insbesondere Anm. 14.

118

Dok. Nr. 9; 17; 63; 69.

Als unbewältigte Erblast drängten die Probleme der Agrar- und Außenhandelspolitik gegen Ende des Jahres 1932 unter für die neue Reichsregierung denkbar schlechten Startbedingungen einer Entscheidung zu. Der Deutsche Landwirtschaftsrat, ein dem DIHT vergleichbarer Zusammenschluß der Landwirtschaftskammern, hatte über die der Agrarlobby bis zum Reichspräsidenten hin zur Verfügung stehenden Interventionskanäle versucht, auf die Regierungsbildung Einfluß zu nehmen und seine „scharfe Opposition“ gegen jedes Reichskabinett angekündigt, „das nicht unverzüglich den Schutz der bäuerlichen Wirtschaft (…) durchführt“119.

119

Dok. Nr. 1, Anm. 5.

Nach dem, was im Vorstehenden über v. Schleichers politischen Neuansatz gesagt wurde, verwundert es nicht, wenn er als Reichskanzler ungeachtet jenes einseitigen Verbalradikalismus die bislang vermiedene Interessenkollision nicht dadurch zu vermeiden suchte, daß er ein Lager ausgrenzte, sondern sich zunächst um einen Interessenausgleich zwischen den divergierenden Kräften bemühte. Kabinettsintern gehörte die Verpflichtung der wichtigsten Kontrahenten, Warmbold und v. Braun, auf eine von beiden mitzutragende Kompromißlinie zu den wichtigsten mit der Regierungsneubildung verbundenen Personalentscheidungen120. Er selbst bemühte sich im direkten Gespräch mit den[XLVIII] landwirtschaftlichen Interessenvertretern durch das Angebot einer pragmatischen Lösung um eine Entschärfung und Zurückführung des Konflikts auf den Boden sachlicher Auseinandersetzung. Dabei muß dahingestellt bleiben, ob sich die Regierung v. Schleicher durch die Erwartungen, die sie damit nach allen Seiten bei den Betroffenen weckte, letztendlich einen Dienst erwies.

120

Dok. Nr. 1; 25.

Inhaltlich konnte sich das Reichsernährungsministerium im Ressortstreit um die mengenmäßige Festlegung noch zu duldender Agrarimporte nicht durchsetzen. Im Handelspolitischen Ausschuß der Reichsregierung verwiesen Auswärtiges Amt, Reichswirtschafts- und Reichsfinanzministerium auf die mit der Ankündigung der Einfuhrkontingentierung verbundenen handelskriegsähnlichen Zustände der vergangenen Monate. Sie empfahlen, das bevorstehende Auslaufen einiger wichtiger Handelsverträge zu nutzen, um die im Ausland als diskriminierend empfundene Kontingentierungspolitik „durch das normale Mittel, nämlich Zollerhöhungen“, zu ersetzen121.

121

Dok. Nr. 20 – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 17; 24; P. 8; 25; 33. P. 3 und 7; 41; 45; 51; 57, P. 1; 59, P. 2; 62.

Als Gegenleistung für ein vom Reichskanzler tatsächlich erreichtes vorläufiges Stillhalten der Landbundführung hatte diese einen generellen Schutz landwirtschaftlicher Betriebe vor Zwangsvollstreckungen gefordert. Hier sah der Reichskanzler die „völlige Vereisung des Wirtschaftslebens“ voraus, wenn durch einen Totalschutz die Gläubigerforderungen des Handwerks und der mittelständischen Wirtschaft vollkommen eingefroren würden122. Er glaubte deshalb über den bereits gegebenen, von der Regierung v. Papen sogar erweiterten Schutz zunächst nicht hinausgehen zu können. Als Tauschobjekt bot sich allein noch die Ausweitung des gleichfalls schon bestehenden Verwendungszwangs für deutsche Agrarprodukte an. Vom Gedeihen der Vieh- und Milchwirtschaft hing ein großer Teil der landwirtschaftlichen Veredlungswirtschaft ab. Maßnahmen zur Überwindung des stagnierenden Absatzes von Milch und Milchprodukten konnten daher stärker als andere Stützungsaktionen eine Anhebung der Einkommen dieser Betriebe bewirken123. Mit einer Notverordnung des Reichspräsidenten vom 23. Dezember 1932 wurde demzufolge der Reichsregierung die Möglichkeit eröffnet, den deutschen Margarineproduzenten die Beimischung einheimischer tierischer Fette zu den importierten pflanzlichen Rohstoffen zur Auflage zu machen124. Obwohl es sich hier nur um eine Rahmenbestimmung für den Fall handelte, daß auf dem Wege freiwilliger Vereinbarungen das gesteckte Ziel nicht zu erreichen war, nahm der Streit um die noch gar nicht zur Ausführung gebrachte „Margarine-Notverordnung“ zur Jahreswende 1932/33 eine derartige Wendung ins Grundsätzliche, daß an ihm die bedrängte Stellung der Regierung v. Schleicher, inmitten einer zum Kompromiß nicht mehr bereiten Gesellschaft und unter dem Druck lobbyistischer Pressionen stehend, exemplarisch abzulesen war125.

122

Vgl. Dok. Nr. 51.

123

Vgl. dazu Dok. Nr. 24, P. 10.

124

Dok. Nr. 33, P. 2 und 11.

125

Dok. Nr. 51, insbesondere Anm. 13.

[XLIX] Lautstarker Hersteller- und Verbraucherprotest, der von fast allen politischen Parteien – ausgenommen die Deutschnationalen – aufgenommen wurde, verschaffte sich in der Forderung Luft, die – wie man annahm – umsatzdämpfende und preistreibende Verordnung im Reichstag oder gar durch ein Volksbegehren zu Fall zu bringen126. Während der Reichskanzler sich willens zeigte, dem Einspruch des betroffenen Industrieverbandes zu trotzen, ging Geheimrat Kastl vom RDI Mitte Januar 1933 deutlich auf Distanz zur Reichsregierung, indem er den industriellen Widerspruch gegen die Verordnung mit dem Hinweis ummantelte, daß durch die nicht aussichtslosen Aufhebungsbegehren die stabilisierende Wirkung der Notverordnungspraxis ausgehöhlt und die Autorität des Präsidialregimes insgesamt untergraben werde127. Erschütterten schon die Massenproteste und die Aufkündigung des parteipolitisch-parlamentarischen Burgfriedens das „Versöhnungskonzept“ des Reichskanzlers, so waren die Ausführungen Kastls geeignet, das im Januar 1933 zunehmend labiler werdende Vertrauensverhältnis zwischen Reichspräsident und Reichsregierung weiter zu belasten128.

126

Dok. Nr. 33, P. 2, insbesondere Anm. 7.

127

Dok. Nr. 33, P. 2, insbesondere Anm. 4 und 7.

128

Dok. Nr. 65.

Einen Keil zwischen diese beiden, in der gegebenen Lage auf engste Zusammenarbeit angewiesenen Verfassungsorgane hatte bereits am 30. Dezember 1932 eine Berliner Abendzeitung unter der Überschrift „Die Nebenregierung der Großagrarier“ getrieben, als sie behauptete, der Reichspräsident habe unter dem Einfluß des „großagrarischen Klüngels“ auf den Erlaß der Verordnung besonderen Einfluß genommen129. Der Agrarpolitik der Regierung v. Schleicher wurde die Tendenz dieser Ausführungen nicht gerecht. Die geplanten und auch die später beschlossenen Maßnahmen zur Änderung des Milchgesetzes und der Verwendung von inländischem Käse130 kamen den mittelbäuerlichen landwirtschaftlichen Veredlungsbetrieben in relativ stärkerem Ausmaß zugute als den ostdeutschen Großgrundbesitzern, deren protektionistischen Forderungen die Reichsregierung bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr zögernd nachgegeben hatte. Andererseits wirkte die die Überparteilichkeit von Reichspräsident und Reichsregierung in Frage stellende, mit agitatorischer Vehemenz geführte öffentliche Auseinandersetzung insofern kontraproduktiv, als sich die Landbundführung ihrerseits propagandistisch herausgefordert sah und offensiv ihrer „hellsten Empörung“ über die agrarpolitische Tatenlosigkeit der Reichsregierung Ausdruck verlieh. Als Sofortmaßnahme zur Wiederherstellung geordneter Marktverhältnisse verlangte sie jetzt eine „völlige Buttereinfuhrsperre“131. Den Konflikt ausweitend, verband der Reichsernährungsminister den Protest der landwirtschaftlichen Interessenvertreter mit der Androhung seines eigenen Rücktritts für den Fall, daß die Landwirtschaft im Rahmen der laufenden Handelsvertragsverhandlungen nicht in die Lage versetzt[L] werde, sich vor der „ausländischen Schleuderkonkurrenz“ zu schützen. Dem Reichswirtschaftsminister warf er vor, von den vor Monatsfrist gegebenen handelspolitischen Zusagen abgerückt zu sein. Dessen im Kabinett vorgetragene Forderung nach Vorlage eines agrarpolitischen Gesamtprogramms, der der Reichskanzler in ausgleichendem Sinne widersprochen hatte, bezeichnete er als Hinhalteversuch mit dem erklärten Ziel, die Landwirtschaft „den Interessen der Exportindustrie zum Opfer“ zu bringen132.

129

Wie Anm. 126.

130

Dok. 24, P. 10; 25; 26, P. 2; 33, P. 2; 45; 59, P. 3 – 6.

131

Wie Anm. 126. – Vgl. auch Dok. Nr. 48.

132

Dok. Nr. 45 – Vgl. auch Dok. Nr. 33, P. 2 und 356; 59, P. 2, insbesondere Anm. 17.

Für eine erneute Verständigung, die kabinettsintern nochmals gelang, war es im Verhältnis zur Agrarlobby zu spät. Dazu hatte nicht zuletzt v. Schleichers Haltung in der Siedlungsfrage beigetragen. Sie gehörte – gespeist aus einem Konglomerat sozialromantischer, volkserzieherischer und militärpolitischer Interessen und Ideologien – zu den seit längerem verfolgten Hauptanliegen des Generals und seiner Mitarbeiter im Reichswehrministerium. Das Projekt war nicht neu und stieß in weiten Kreisen der Öffentlichkeit auf zustimmendes Interesse133. Danach sollte in den dünn besiedelten Gebieten Ostdeutschlands siedlungswilligen Arbeitslosen Bauernstellen auf dem Boden unrentabler Güter übereignet werden. Wie der Reichskanzler in seiner Regierungserklärung vom 15. Dezember 1932 ausführte, könnte so die säkulare Wanderungsbewegung in die Städte umgekehrt, die verloren gegangene Bindung des Menschen an die „eigene Scholle“ zurückgewonnen und schließlich ein „Grenzwall gegen das Vordringen fremden Volkstums“ errichtet werden134. Obwohl ein vergleichbares Programm der Regierung Brüning von der ostdeutschen Agraropposition bereits als „Agrarbolschewismus“ diffamiert und hintertrieben worden war und die Siedlung auch unter der Regierung v. Papen stagnierte, wies v. Schleicher erneut auf den engen Zusammenhang hin, der seiner Ansicht nach zwischen Grenzsicherung, Arbeitsbeschaffung und Siedlung bestand135. Bedingt durch einen Übermittlungsfehler, nannte er dabei eine weit überhöhte Zahl der Fläche in den Ostprovinzen des Reiches, die der Siedlung zugeführt werden sollte136. Praktische Ansätze zur Realisierung des in seinen arbeitsmarktentlastenden Effekten sicher überschätzten Programms wurden mit der Konstituierung eines Regierungsausschusses für ländliche Siedlung gemacht137. In seinen hier dokumentierten Sitzungen widmete sich der Ausschuß grundsätzlichen Überlegungen zur beschleunigten Durchführung der Entschuldungsaktionen im Rahmen der „Osthilfe“, der Freistellung jenes Landes für Siedlungszwecke, das trotz wiederholter staatlicher Beihilfen nicht mehr sanierungsfähig war, und der Auswahl geeigneter Siedlerfamilien138. Aus ihrer Sicht sah sich die Reichsregierung vornehmlich finanziellen Problemen gegenüber. Da die Symptome der Agrarkrise auch die bereits früher angesetzten Siedler nicht verschont[LI] hatten, mußten deren Amortisationsleistungen per Beschluß der Reichsregierung gesenkt werden139. Problematischer zu überwinden war der hinhaltende Widerstand, mit dem sich die Hauptgläubiger der ostelbischen Güter, vor allem die Preußischen Landschaften, einer Liquidierung des bankrotten Großgrundbesitzes in den Weg stellten140. Sie zögerten Vollstreckungsmaßnahmen hinaus, um sich nicht dem Vorwurf der Agrarfeindlichkeit auszusetzen. Demgegenüber machte sich die Regierung v. Schleicher mit der Wiederaufnahme einer umstrittenen Siedlungspolitik zur Zielscheibe der jetzt bei lautstarker Agitation nicht mehr stehenbleibenden Großagrarier.

133

Vgl. Dok. Nr. 9; 17.

134

Dok. Nr. 25.

135

Vgl. dazu auch Dok. Nr. 36; 52.

136

Dok. Nr. 25, insbesondere Anm. 9; vgl. dazu auch Dok. Nr. 40, insbesondere Anm. 4.

137

Dok. Nr. 15; 24, P. 5. – Zur weiteren Arbeit der RRg. s. Dok. Nr. 40; 43; 49, insbesondere Anm. 13.

138

Dok. Nr. 40; vgl. auch Dok. Nr. 43; 59, P. 7.

139

Dok. Nr. 25, Anm. 10; 40, Anm. 6; vgl. auch Dok. Nr. 45; 48; 49, insbesondere Anm. 7; 57, P. 6.

140

Dok. Nr. 40, P. 1; 49, P. 2.

Nachdem die Vorstellungen verschiedener Agrarfunktionäre beim Reichskanzler, Reichswirtschafts- und Reichsernährungsminister nicht zu den von ihnen gewünschten Ergebnissen geführt hatten141, forderte der Reichslandbund die Reichsregierung offen zum Kampf heraus. Anläßlich eines Empfangs beim Reichspräsidenten am 11. Januar 1933 schilderte das Präsidium des Reichslandbundes die drückende Not des eigenen Berufsstandes und unterstellte der Reichsregierung die bewußt vorgenommene Nichteinhaltung gegebener Zusagen142. Hindenburg, der erwartungsgemäß großes Verständnis für „die schwer leidende Landwirtschaft“ zeigte, konfrontierte in einer unverzüglich anberaumten zweiten Besprechung v. Schleicher, Warmbold und v. Braun mit den von der Landbundführung erneut vorgetragenen Beschwerden143. Graf Kalckreuth konnte bei seinen ultimativ formulierten Forderungen, ohne dafür vom Staatsoberhaupt zur Ordnung gerufen zu werden, bis an die Grenze der Insubordination gehen, wenn er androhte, der Landwirt werde nötigenfalls „zur Selbsthilfe schreiten und sich außerhalb der Staatsordnung stellen“144. Während der Reichskanzler die bindende Erklärung abgab, durch unverzüglich zu fassende Regierungsbeschlüsse den Wünschen des Reichslandbundes nach hohen autonomen Zöllen für Agrarimporte und einem umfassenderen Vollstreckungsschutz noch weiter entgegenzukommen145, entzog sich der Reichslandbund ungeachtet des erzielten Besprechungsergebnisses der angebotenen Kooperation. Die gleichzeitige Veröffentlichung einer am Vormittag vom Bundesvorstand des Landbundes gefaßten Entschließung, in der die Reichsregierung der duldenden Hinnahme der „Verelendung“ und „Ausplünderung“ der Landwirtschaft in einem „selbst unter einer rein marxistischen Regierung nicht für möglich gehaltene(n) Ausmaß“ bezichtigt wurde, konnte der Reichskanzler nur als gezielten Affront auffassen und mit dem öffentlich erklärten Abbruch der Beziehungen zum Reichslandbund beantworten146.

141

Vgl. dazu Dok. Nr. 40, insbesondere Anm. 6; 47; 48; 51; 52.

142

Dok. Nr. 50.

143

Dok. Nr. 51.

144

Wie Anm. 143; vgl. dazu auch Dok. Nr. 52, Anm. 7; 56, Anm. 4.

145

Dok. Nr. 57, P. 5 und 7; vgl. Dok. Nr. 59, P. 2; 70.

146

Dok. Nr. 51, Anm. 16; vgl. Dok. Nr. 52, insbesondere Anm. 7.

Die dramatische Zuspitzung der Gegensätze, die sich im Streit um den Butterbeimischungszwang angedeutet hatte, zeigte nun Sogwirkung, um nachfolgend[LII] in den Strudel des Kanzlersturzes zu münden. Mit der aufgezwungenen Annahme der agraroppositionellen Kampfansage hatte sich der Kanzler nicht nur zur Abweichung von seinem Integrationskonzept verleiten, sondern gleichzeitig auf einen Weg locken lassen, der den Akteuren eines neuen politischen Arrangements, das sich in v. Papens nicht geheim gebliebenen Aktivitäten anbahnte, willkommenen Auftrieb gab147.

147

Dok. Nr. 54; 65; 77.

Die Deutschnationalen glaubten, die „Gunst der Stunde“ nutzen zu können. Ihr Parteiführer Hugenberg bot sich dem angeschlagenen Kanzler am 13. Januar 1933 zunächst als Koalitionspartner an, in dessen Hand die Ämter des Reichswirtschafts- und Reichsernährungsministers zu vereinigen seien. Dem damit verbundenen Ansinnen, zum sozialpolitischen Papen-Kurs zurückzukehren und sich der landbundspezifischen Agrarprogrammatik zu beugen, versagten sich Kanzler und Kabinett148. Die DNVP übernahm daraufhin in einer öffentlichen Erklärung argumentativ die Angriffsstrategie der Landbundführung und klinkte sich in die laufenden Geheimverhandlungen zur Ablösung der Reichsregierung ein149. Neben der DNVP nutzte die NSDAP den aufgebrochenen Konflikt zu einer Abrechnung mit der Regierung v. Schleicher. Der Partei war, nachdem sie ab 1930 gerade im bäuerlichen Milieu große Wahlerfolge zu verzeichnen hatte, ein entscheidender personeller Einbruch in die Landbundführung gelungen. Obwohl innerparteilich die agrarischen Forderungen keineswegs unumstritten waren, konnte der Leiter des Amtes für Agrarpolitik der NSDAP, Darré, in einem auch vom „Völkischen Beobachter“ an hervorragender Stelle abgedruckten „Offenen Brief“ dem Reichskanzler mangelnde wirtschaftspolitische Einsicht vorwerfen und ein Plädoyer für den Aufbau einer autarken (Land-)Wirtschaft abgeben150.

148

Dok. Nr. 56, insbesondere Anm. 15 und 17; 71, P. 1.

149

Dok. Nr. 56, Anm. 9; 64.

150

Dok. Nr. 53.

Die Kräfte, die sich in dieser Auseinandersetzung auf die Seite der Reichsregierung schlugen, waren nicht schwach; den Autoritätsverfall des Kanzlers haben sie dennoch nicht aufhalten können. Interessenkonflikte innerhalb der „Grünen Front“, wie sie in einer Entschließung der Deutschen Bauernschaft als Organisation der west- und süddeutschen mittelbäuerlichen Veredlungswirtschaft zum Ausdruck gebracht wurden, hat die Reichsregierung zur Stärkung ihrer eigenen Position taktisch nicht ausgenutzt, obwohl in ihr die Landbundforderungen als bloßes „Ablenkungsmanöver“ der Großagrarier zur Sabotierung der Siedlungspolitik bloßgestellt wurden151. Angesichts des schon geschilderten Abrückens der industriellen Spitzenverbände von der Reichsregierung bedeutete deren lebhafter Protest gegen die auch sie treffenden „Beschimpfungen“ der Landbundführung152 keine wesentliche Stütze für die Agrarpolitik des Kabinetts v. Schleicher. Die Anprangerung von Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe und Verwendung von Osthilfegeldern schließlich, die im[LIII] Haushaltsausschuß des Reichstages zur Entlastung der Regierung mit deutlicher Stoßrichtung gegen die ostdeutschen Großgrundbesitzerkreise zur Sprache gebracht wurden, sollte – wie nachfolgend noch zu zeigen sein wird – sogar zur weiteren Erschütterung der Stellung des Kanzlers im Verhältnis zum Reichspräsidenten beitragen153.

151

Mit Anschreiben vom 14.1.1933 an den RK gesandt (R 43 II /192 , Bl. 65–67).

152

Dok. Nr. 51, Anm. 16; 62; 69, insbesondere Anm. 6. – Zur Stellungnahme der Gewerkschaften s. Dok. Nr. 63.

153

Dok. Nr. 56, insbesondere Anm. 21 und 22; 71, P. 1; 72; 77, insbesondere Anm. 15.

So wurde der Mittelkurs, den v. Schleicher mit seinem von heterogenen Kräften und Interessen durchsetzten Kabinett in der Agrar- und Handelspolitik ebenso wie in der Arbeitsbeschaffungspolitik steuern wollte, von keiner Seite wirklich honoriert. Sachliche Erfolge waren Ende Januar 1933 weder bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit noch bei der Überwindung der Agrarkrise vorweisbar.

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