2.63.1 (vsc1p): [Zur Lage der Arbeiterschaft; sozial- und wirtschaftspolitische Forderungen.]

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[Zur Lage der Arbeiterschaft; sozial- und wirtschaftspolitische Forderungen.]

Der Herr Reichspräsident begrüßte die Herren und bat sie, ihm ihre Sorgen frei vorzutragen. Er betonte, daß er die Notlage der Arbeiterschaft mit derselben Aufmerksamkeit und Anteilnahme verfolge wie die anderer Berufsstände.

Herr Leipart führte hierauf das Folgende aus:

<In einer Zeit höchster wirtschaftlicher und seelischer Nöte der werktätigen Bevölkerung, insbesondere der rund 7 Millionen erwerbslosen Volksgenossen, wenden wir uns an Sie, Herr Reichspräsident, um Ihre Aufmerksamkeit auf die nunmehr unerträglich gewordenen Verhältnisse zu lenken.

Als wir am 26. Februar 1931 zusammen mit Vertretern der anderen gewerkschaftlichen Spitzenverbände die Ehre hatten, Ihnen die damalige Lage zu schildern2, erwarteten Sie mit uns eine allmähliche wirtschaftliche und soziale Besserung. Damals zählten die Arbeitsämter 5 Millionen Erwerbslose. Unter den 7 Millionen Erwerbslosen von heute3 befinden sich zahlreiche Jugendliche, denen nach der Schulentlassung Arbeit im Erwerbsleben überhaupt noch nicht vergönnt war.

2

Siehe diese Edition: Die Kabinette Brüning I und II, Dok. Nr. 251.

3

Von der Reichsanstalt wurde die Zahl der bei den Arbeitsämtern gemeldeten Arbeitslosen für den 31.12.1932 mit 5 773 000 angegeben. Einzelheiten zur Lage an der Jahreswende 1932/33 s. in der Zusammenfassung „Arbeitslosigkeit und Beschäftigung in deutschen Wirtschaftsgebieten“ in: Vierteljahrshefte zur Statistik des Dt. Reichs, 43. Jg. 1934, 2. Heft, S. 49–56.

Wir sind uns bewußt, daß unter der Wucht der Wirtschaftskrise fast alle Schichten der Bevölkerung leiden. Wir kennen die Sorgen und Klagen aller Berufsstände und Wirtschaftszweige. Wir wissen besonders, daß infolge des Zusammenbruchs der Massenkaufkraft, der Verarmung großer Teile der industriellen Bevölkerung, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse trotz gesunkener Preise keinen Absatz finden können. Aber es muß doch mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, daß in der lang andauernden Krise die Verelendung den schlimmsten Grad erreicht hat bei den großen Teilen der Arbeiterschaft, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Arbeitskraft zu verwerten und zu langfristiger Erwerbslosigkeit verdammt sind. Während es sich bei der Notlage anderer[279] Bevölkerungsschichten vielfach um die Gefährdung ihres Besitzes handelt, geht es bei den Erwerbslosen zum großen Teil um die Gefährdung des nackten Lebens. Die Unmöglichkeit, den notwendigsten Bedarf an Ernährung und Kleidung für sich und ihre Familienangehörigen zu decken und in menschenwürdigen Wohnungen zu wohnen, hat diese Menschen tief verbittert und in Verzweifelungsstimmung getrieben.

Zugleich ist für die noch Beschäftigten in erheblichem Umfang die Kurzarbeit weiter durchgeführt worden. An der Jahreswende waren von je 100 Mitgliedern der dem A.D.G.B. angeschlossenen Verbände nur noch 32,2 voll beschäftigt, 22,2 waren Kurzarbeiter und 45,6 voll arbeitslos. Die normale Beschäftigung hat sich also in eine Ausnahme verwandelt! Weniger als ⅓ der Arbeiter bringt noch den vollen, aber durch den Lohnabbau um 25 bis 30% verringerten Wochenlohn nach Hause.

Neben den gewaltigen Opfern an Lohn hat der fortgesetzte Abbau aller sozialen Leistungen die Arbeiterschaft aufs Schwerste betroffen4. Die Arbeitslosenversicherung kommt heute nur noch einem kleinen Bruchteil der Arbeitslosen und auch diesen nur während der Dauer von 6 Wochen zugute, obwohl durchschnittlich 8% des Lohnes für die Versorgung der Arbeitslosen in Anspruch genommen werden. Etwa 2½ Millionen Arbeitslose sind ihrem Schicksal bei den Wohlfahrtsämtern der finanziell geschwächten Gemeinden überlassen.

4

Einzelheiten s. Dok. Nr. 2, Anm. 8, Dok. Nr. 3, Anm. 1 und Dok. Nr. 17, insbesondere Anm. 3. – Den Abbau der Sozialleistungen für die Angestellten hatte der AfA mit der Überreichung seiner „Sozialpolitischen Forderungen der Angestellten“ an den RK mit Schreiben vom 29.12.1932 angeprangert (R 43 I /2081 , Bl. 182–184).

Ebenso sind die Rentenempfänger durch die Kürzungen der Invaliden- und Unfall-Renten der Verelendung anheimgefallen.

Der Zusammenbruch der Massenkaufkraft hat der deutschen Ausfuhr-Industrie keine neuen Märkte erobern können, er hat im Gegenteil noch den Binnenmarkt zerstört. Die Handelspolitik der Regierung ist von der Vorstellung beherrscht, der Landwirtschaft auch bei zusammengebrochener Massenkaufkraft helfen zu können5. Diese Vorstellung ist irrig. Mengenmäßig ist die landwirtschaftliche Produktion von der Krise unberührt geblieben. Da aber mangels genügender Kaufkraft der städtischen Bevölkerung die Agrarerzeugnisse keinen ausreichenden Absatz finden können, sinken ihre Preise. Hier helfen entscheidend weder Subventionen noch Zölle. Aus diesem Kreis gibt es solange keinen Ausweg, solange nicht die Kaufkraft der Verbrauchermassen der industriellen Bevölkerung gesteigert und unhaltbarer Großgrundbesitz in zweckmäßige Siedlungen umgewandelt wird. Die Verstimmung über die Agrarpolitik der Regierung ist besonders gerade in den Ländern stark, die einen großen Teil des deutschen Industrie-Exports aufnehmen. Je mehr diese Länder ihren Industriebedarf in anderen Ländern decken, je mehr erhöht sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland. Diese einseitig auf Agrarschutz eingestellte Handelspolitik führt darüber hinaus zur Durchlöcherung des deutschen Handelsvertrags-Systems, das auf dem Grundsatz der Meistbegünstigung aufgebaut war und das mit diesem Grundsatz der deutschen Export-Industrie gedient hat, ohne der Landwirtschaft[280] wirklich zu schaden. Eine Handelspolitik, die auf Deutschlands Industrie-Export nicht genügende Rücksicht nimmt, stiftet Unheil, indem sie neue Erwerbslosigkeit erzeugt und damit auch der Landwirtschaft neuen Schaden zufügt6.

5

Vgl. dagegen Dok. Nr. 12, Anm. 7.

6

Zum Gesamtzusammenhang vgl. Dok. Nr. 45 mit weiteren Verweisen.

Zusammenfassend gestatten wir uns, zu sagen:

1.)

Die erste Voraussetzung für eine Entspannung der unerträglichen Lage ist eine großzügige Arbeitsbeschaffung durch die öffentliche Hand. Die bisherigen Maßnahmen der Regierung auf diesem Gebiet müssen mit größter Beschleunigung erheblich erweitert werden.

2.)

Der dadurch eingeleitete Besserungsprozeß ist in seinem Umfang und Tempo wesentlich abhängig von der Arbeitszeit der Voll-Arbeitenden. Demzufolge muß eine der Produktionstechnik angepaßte Arbeitszeitverkürzung gesetzlich durchgeführt werden, die jedoch nicht zu weiteren Einkommensminderungen der Arbeitenden führen darf.

3.)

Die Pflege weltwirtschaftlicher Beziehungen zur Erhaltung und Steigerung der deutschen Ausfuhr muß die vornehmste Aufgabe der deutschen Handelspolitik sein.

4.)

Der Wiederaufbau der Massenkaufkraft und der sozialen Leistungen mit dem Ziel der Schaffung eines umsatzfähigen Binnenmarktes muß den Besserungsprozeß unterstützen.

Wir bitten Sie, Herr Reichspräsident, diese vordringlichen Aufgaben zur Linderung der erschütternden Not großer Teile der Arbeiterschaft mit ihrem starken Einfluß unterstützen zu wollen.>7

7

Der in <…> gesetzte Teil ist identisch mit einem Schreiben, das Leipart und Stähr mit Datum vom 21.1.1933 an den RPräs. richteten (R 43 I /2044 , Bl. 192–195). – Vor der am gleichen Tag stattfindenden 12. Bundesausschußsitzung des ADGB hatte Leipart diesen Vorstoß und den bevorstehenden Empfang beim RPräs, bekanntgegeben und weitere Ausführungen dazu gemacht (Gewerkschaftszeitung 1933, S. 62).

Herr Eggert: Die Textilindustrie ist im günstigen Ansteigen. Es wäre möglich gewesen, Arbeitslose zu beschäftigen; statt dessen wurde die Arbeitszeit verlängert und die Arbeitslosen haben von der Besserung nichts gespürt. Trotz besserer Beschäftigung ist die Arbeitslosigkeit größer geworden. Die Besserung hat nicht zur Einstellung von Arbeitslosen geführt; es ist daher eine gesetzliche Arbeitszeitfestsetzung notwendig8. Wir haben früher (1929) 6 Millionen Arbeiter in der deutschen Ausfuhrindustrie beschäftigt; jetzt sind es nur noch 3 Millionen mit einem Ausfuhrwert von 6–7 Milliarden. Wenn dieser Export durch handelspolitische Maßnahmen eingeschnürt wird, werden auch diese arbeitslos. Dadurch würde aber die deutsche Landwirtschaft einen neuen ungeheuren Schaden erleiden, denn nach zuverlässiger Statistik gehen 60% des Arbeitslohns für Nahrungsmittelbedarf auf. Die Landwirtschaft ist also am deutschen Export auch interessiert.

8

Zum Gesamtzusammenhang vgl. Dok. Nr. 58.

Herr Grassmann: Die Arbeiterschaft ist nicht bauernfeindlich, auch wir, die Gewerkschaften, sind es nicht. Wir müssen nur in der Lage sein, die landwirtschaftlichen Produkte kaufen zu können. Jetzt ist es so, daß selbst die billigste[281] Margarine (28 Pfg. das Pfund) nicht mehr pfundweise gekauft werden kann. Die Arbeiterfamilien würden lieber Butter essen statt dieses schlechten Gemisches von Walfischtran und Leinöl, wenn sie Butter bezahlen könnten. – Die Arbeiterschaft zahlt für die Arbeitslosenversicherung 3½%, daneben für die sozialen Versicherungen erhebliche weitere Prozente und ferner 7–10% ihres Lohnes für Lohnsteuer –. Es muß große Verbitterung erregen, wenn nun die Leistungen, die durch Versicherungsbeiträge erkauft sind, durch Verordnungen gekürzt werden9. Das Gefühl verletzten Rechtsempfindens macht die Arbeiter verbittert und darin liegt eine politische Gefahr. Wir fühlen durchaus als Deutsche und staatsbewußte Bürger, das haben wir im Krieg, in der Nachkriegszeit, besonders im Ruhrkampf, bewiesen. Aber die Widerstandskraft geht einmal zu Ende und es ist oft schwer, die Arbeitslosen von gewaltmäßigen Plünderungen usw. abzuhalten. Wenn die Arbeiter von Hilfe für andere Berufsstände lesen und hören, so kommt bei ihnen das Gefühl auf: Denkt denn niemand an uns?

9

Mit der Einführung der Hilfsbedürftigkeitsprüfung für Arbeitslose nach nur sechswöchiger Unterstützungsdauer war durch die NotVO vom 14.6.1932 (RGBl. I, S. 273 ) das Arbeitslosenversicherungsprinzip ausgehöhlt worden.

Herr Stähr: Die schlechte Rentabilität in der Landwirtschaft trägt mit zur Arbeitslosigkeit bei; viele auf dem Lande entlassene Kräfte strömen in die Städte und Industriegebiete. Deshalb muß die Landwirtschaft mit dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.

Herr Eggert: In der Frage der Arbeitsbeschaffung ist viel geschehen; es könnte und muß aber noch mehr geschehen. Es würde sehr zur Beruhigung beitragen, wenn der Herr Reichspräsident oder die Reichsregierung in irgendeiner Form ihren guten Willen betonen würde, auch der Arbeiterschaft mit nachdrücklichen Maßnahmen zu helfen.

Herr Leipart: Von den 700 Millionen, die für Einstellungsprämien zur Verfügung gestellt sind, könnte man den größten Teil, jedenfalls erheblich mehr als bisher, für öffentliche Arbeiten auswerfen. Das ist, soviel ich weiß, auch die Auffassung des Reichskommissars Gereke10.

10

Vgl. Dok. 36.

Der Herr Reichspräsident schließt die Besprechung mit dem Ausdruck des Dankes für die Ausführungen, die ihn sehr beeindruckt hätten. Er werde im Benehmen mit der Reichsregierung alles tun, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Es sei allerdings schwierig, den richtigen Ausgleich zwischen den Interessen der Landwirtschaft, der Industrie und der Arbeiterschaft zu finden, doch solle nichts unversucht bleiben, diese Frage zu lösen. Der Herr Reichspräsident sagte zu, daß er sich unverzüglich mit der Reichsregierung ins Benehmen setzen werde11.

11

StS Meissner übersendet die Niederschrift dem StSRkei mit Anschreiben vom 21. 1.; er teilt mit: „Der Herr Reichspräsident hat die Absicht, die hier behandelten Fragen demnächst zum Gegenstand einer Besprechung mit den beteiligten Herren zu machen.“ Abschriften erhalten danach der RWeM, der REM, der RArbM und RKom. Gereke (R 43 I /2044 , Bl. 184). – Zum Fortgang s. Dok. Nr. 69.

Schluß 12.50 Uhr.

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