1.186 (mu22p): Nr. 442 Denkschrift des Reichsministers Stegerwald zur Sanierung der Reichsfinanzen. 11. Februar 1930

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[1449] Nr. 442
Denkschrift des Reichsministers Stegerwald zur Sanierung der Reichsfinanzen. 11. Februar 1930

R 43 I /2363 , Bl. 7-13, hier: Bl. 7-13 Durchschrift1

1

Die Denkschrift war „als Diskussionsgrundlage für die Entscheidungen der RReg. in den nächsten Tagen über die Kassen- und Etats-Sanierung des Reichs sowie über die dt. Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre“ dem StSRkei zugesandt worden (11. 2.; R 43 I /2363 , Bl. 6, hier: Bl. 6). Auf dem Anschreiben wurde vermerkt, der RK habe Kenntnis, und die Denkschrift solle als Kabinettssache am 13. 2. behandelt werden (R 43 I /2363 , Bl. 6, hier: Bl. 6).

Die Reichsregierung steht in den nächsten Tagen in Verbindung mit dem Young-Plan und der Sanierung der Reichsfinanzen vor einer folgenschweren Lage und Entscheidung. Bei Gelegenheit der Neuregelung der Beamtenbesoldungsordnung im Herbst 1927 habe ich gegen das Vorgehen der Reichsregierung in der Öffentlichkeit ernste Bedenken erhoben2. Meine damals ausgesprochenen Befürchtungen sind unterdessen nicht nur eingetreten, sondern übertroffen worden. Es war vorauszusehen, daß die Art, wie die Beamtenbesoldung angekündigt wurde, und ihr Ausmaß eine große Preis- und Lohnbewegungswelle zur Folge haben werde, die in der Zwischenzeit denn auch eingetreten ist. Die gegenwärtigen Gehälter und Löhne dürften um 4–5 Milliarden Mark (also um die Hälfte der Bedürfnisse des Reichsetats) höher liegen als im Herbst 1927. Wir machen schon seit Jahren eine Lohn- und Gehaltspolitik, als ob wir ein Land mit normaler Wirtschaftsstruktur wären. Das sind wir nicht. Mit dieser Politik gelingt es uns in absehbarer Zeit bestimmt nicht, das große Heer der Arbeitslosen wieder in den Produktionsprozeß einzugliedern. Die Festigung der Kaufkraft der breiten Schichten ist in Deutschland seit der Markstabilisierung sehr einseitig von der Lohn- und Gehaltsseite her gesehen worden, während die gleichzeitige Verfolgung von der Preisseite her stark vernachlässigt worden ist. In einer der letzten Sitzungen der Reichsregierung hat der Herr Reichswirtschaftsminister mit Recht darauf hingewiesen, daß Deutschland bestrebt sein müsse, wieder länger befristete Handelsverträge zu bekommen3. Wenn diese erzielt [werden], keine Halbheit darstellen und zur Auswirkung gelangen sollen, sind in einem Lande, das über starke Gewerkschaften verfügt, langfristige Tarifverträge zwischen Unternehmern und Arbeitern die notwendige Folge. Langfristige Tarifverträge aber sind nur möglich bei stabilen Preisen. Heute steht die Sache so, daß m. E. in der Gütererzeugung – unter deutschen Verhältnissen gesehen – vielfach eine Überrationalisierung festzustellen ist, während in der Güterverteilung das Entgegengesetzte von Rationalisierung beobachtet werden muß. Die Kräfte, die in der Gütererzeugung frei werden, suchen in steigendem Maße in der Güterverteilung eine neue Existenz zu erlangen. Diese Beobachtung und[1450] das Kartell- sowie das Konventionswesen haben in Verbindung mit der deutschen Steuerpolitik die durch Rationalisierung erzielte verbilligte Produktion den Konsumenten nicht in ausreichendem Maße zugute kommen lassen. Nun stehen wir vor der Gefahr, wieder in denselben Fehler wie 1927 zu verfallen. Es gibt breite Kreise, die glauben, heute noch ebenso allgemeine und Steuerpolitik machen zu können wie vor 1914, und übersehen dabei – von der Staatsumwälzung ganz abgesehen –, daß es damals eine ausreichend starke und einflußreiche Gewerkschaftsbewegung in Deutschland noch nicht gab. Diese Kreise sagen: Die öffentliche Wirtschaft ist abzubauen, die Besitzsteuern sind zu senken und der dann verbleibende Steuerbedarf ist überwiegend durch Massenverbrauchssteuern aufzubringen. Diese These, an der dies und jenes richtig sein mag, führt – für sich allein gesehen – zu nichts und hat bereits jetzt schon in maßgebenden Gewerkschaftskreisen die Stimmung ausgelöst: Was man den Massen an neuen Steuern auferlegt, muß von den Gewerkschaften wieder mehrfach an Lohnerhöhungen herausgeholt werden. Nach dieser Methode sind wir in einigen Jahren bestimmt wieder so weit wie heute, nämlich an den gleichen Schwierigkeiten angelangt, von denen nicht abzusehen ist, ob sie dann im Hinblick auf den Young-Plan überhaupt noch lösbar sind.

2

Stegerwald hatte – nach Ansicht des damaligen RFM Köhler – die Einwendungen aus Sorge vor einer Verärgerung der Arbeiterschaft erhoben (Köhler, Lebenserinnerungen, S. 257). Siehe das Gesetz vom 16.12.27 in RGBl. I, S. 349  ff.

3

Wahrscheinlich bezieht sich Stegerwald auf Ausführungen in der Ministerbesprechung vom 7. 2. (Dok. Nr. 439, P. 1).

Aus dieser, wie ich glaube, richtig gesehenen Gesamtlage sind m. E. für das Sanierungsjahr 1930 die nachstehenden Folgerungen zu ziehen:

1. Die Sanierungsvorschläge der Reichsregierung dürfen nicht den Eindruck und die Stimmung auslösen, daß sie lediglich und ausschließlich ein Massenbelastungsprogramm seien.

Nachdem bereits im verflossenen Dezember durch Agrarzölle und Tabaksteuern die deutsche Wirtschaft mit mindestens 350 Millionen M neu belastet worden ist4, erscheint es auch mir unmöglich, den ganzen Fehlbetrag des Etats mit 700 Millionen M restlos mittels neuer Steuern ins Gleichgewicht zu bringen. Es dürfte demnach um den Vorschlag des Herrn Reichsfinanzministers, für die Arbeitslosenversicherung 250 Millionen M Anleihe bei der Angestellten- und Invalidenversicherung aufzunehmen, nicht herumzukommen sein5. Die dagegen sprechenden wohnungspolitischen Bedenken sind zwar stark, dürften aber im ganzen nicht so schwer zu bewerten sein, als wenn auch diese 250 Millionen M durch Steuern aufgebracht werden müßten. Es tritt dann eben an Stelle der ehedem beabsichtigten äußeren Anleihe von 500 Millionen M, die nicht zu erreichen war, eine innere Anleihe von 250 Millionen M, die zudem kurzfristig zu amortisieren ist an Stelle der langfristig geplanten Amortisation der äußeren Anleihe. Wenn aber zwei durch die Inflation stark geschwächte an einen noch schwächeren Versicherungsträger Anleihen gewähren sollen und dazu in einem Zeitpunkte, wo, wie in keinem anderen Lande der Welt, Arbeitgeber und Arbeitnehmer allein (ohne Zuschuß des Staates) für 2¼ Millionen Arbeitslose aufkommen sollen, dann erscheint es steuerpolitisch und fiskalisch zwar einfach, politisch aber nicht vertretbar, daneben und gleichzeitig auch noch[1451] die Umsatzsteuern um ¼% zu erhöhen. Jede andere Steuerkombination ist gegenwärtig vertretbarer als die Umsatzsteuer; sie kann zudem nicht befristet eingeführt werden. Es ist möglich, daß die Erhöhung der Umsatzsteuer gegenwärtig nicht voll abgewälzt werden kann. Dies würde aber bei steigender Konjunktur bestimmt nachgeholt werden. Ist die Umsatzsteuer aber einmal erhöht, dann bedeutet sie, wie der Vorgang von 1926 gezeigt hat, eine dauernde Belastung der Konsumenten. Für viele Zweige des Erwerbslebens ist zudem die Umsatzsteuer von 1% als wirtschaftshemmend anzusehen. Neben hohen Agrarzöllen wirkt eine hohe Umsatzsteuer auch in starkem Maße gesamtwirtschaftsschädigend.

4

Siehe das Gesetz über Zolländerungen vom 22.12.29 (RGBl. I, S. 227  ff.) und das Tabaksteuergesetz vom gleichen Tag (a.a.O., S. 234 ff.).

5

Siehe dazu Dok. Nr. 432.

Ich bin daher nach wie vor der Auffassung, daß im Hinblick auf unsere deutsche Gesamtlage im Sanierungsjahr 1930 entweder die mittleren und höheren Einkommen generell für die Reichsbedürfnisse zu einem Notopfer oder aber die Festbesoldeten mit 1½ bis 2% des Gehaltes zu den anormalen Kosten der Arbeitslosenversicherung einmalig heranzuziehen sind.

2. Wenn das Sanierungsprogramm für 1930 nicht als eine einseitige Massenbelastung gedeutet und ausgebeutet werden kann und wenn Young-Plan und Sanierungsplan als eine Einheit behandelt werden, könnte der Herr Reichskanzler bei Beginn der dritten Lesung der Young-Gesetze eine Rede von welthistorischer Bedeutung halten und damit das Vertrauen zur gegenwärtigen Regierung im In- und Auslande mit einem Male in einem großen Ausmaße festigen und kräftigen. Damit würde auch eine starke wirtschaftliche und kreditpolitische Wirkung erzielt. Über Einzelheiten dieser Rede könnte später gesprochen werden.

3. Hätte nach dem Zusammenbruch die Arbeitsgemeinschaft zwischen den gewerblichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht bestanden, so wäre nicht abzusehen gewesen, was sich vom November 1918 bis zum Frühjahr 1919 in Deutschland alles abgespielt haben würde. Auch nach Annahme des Young-Planes ist die Wiederaufrichtung einer Arbeitsgemeinschaft eine deutsche Lebensnotwendigkeit. In der alten Form freilich dürfte sie in der gegenwärtigen Stunde kaum wieder möglich sein. Wenn die Sanierung der Reichs-, Länder- und Gemeinde-Etats gelingen soll, so gehört dazu eine Besserung der wirtschaftlichen Lage. Manche Zeichen deuten darauf hin, daß das Einsetzen der Saisonbelebung zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Konjunktur werden wird. Diese junge Konjunktur wäre pfleglich zu behandeln. Wir haben in den letzten fünf Jahren dreimal gute Konjunkturansätze gehabt und dreimal sind diese abgewelkt, weil die Unternehmer sich nicht versagen konnten, die Preise zu erhöhen und die Arbeitnehmer sogleich höhere Löhne durchzusetzen suchten. So gingen die Preise für die verschiedenen Produkte untereinander sowie das Gegenseitigkeitsverhältnis der Preise und Löhne allzu rasch auseinander. Daraus resultiert auch im wesentlichen die große Arbeitslosigkeit bei an sich noch wachsendem Wirtschaftsvolumen. Wenn wir zu einer neuen Konjunkturbelebung kommen wollen, so wird für einige Jahre auf eine innere Wirtschaftsbefriedung dergestalt hinzuwirken sein, daß nicht wieder Preis- und Lohnerhöhungen wild nebeneinander herlaufen und hintereinander herjagen. Auch die deutsche gewerkschaftliche Lohnpolitik kommt mir etwas veraltet vor. Es können nicht 1000[1452] Arbeitnehmerverbände nebeneinander und unabhängig voneinander Lohnbewegungen machen. Das führt dahin, daß in einem Gewerbe Stundenlöhne von 2,50 M und in einem anderen (Tabakindustrie) solche von 0,35 und 0,40 M verdient werden. Ähnlich arbeiten gegenwärtig die Unternehmergruppen in ihren Kartellen etc. Diesen Fragen wird, wie das in den letzten Jahren in Amerika durch die Herren Coolidge und Hoover geschehen ist, in den nächsten Jahren auch in Deutschland die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. In den letzten Jahren wurden mehrere Millionen Mark verausgabt für die deutsche Wirtschaftsenquête. Diese Ausgaben sind schließlich vergeblich, wenn nicht nach Erledigung des Young-Planes und der allgemeinen öffentlichen Kassen- und Etats-Sanierung tatkräftig gehandelt wird. Auch der Reichswirtschaftsrat scheint in seiner gegenwärtigen vorläufigen Gestaltung gegenüber der anormalen deutschen Wirtschaftslage keine ausreichende Aktivität entfalten zu können. Eventuell könnte der Herr Reichswirtschaftsminister eine kleine Kommission aus Wissenschaftlern und Praktikern berufen, die im engsten Einvernehmen mit ihm ehrenamtlich und schnell großzügig zu arbeiten hätte und sich nicht durch professorale und syndizistische Einflüsse stören lassen dürfte.

Young-Plan und Sanierung der Kassen und der öffentlichen Etats müssen in Deutschland in starkem Maße als Hilfsmittel für die Gesundung von Wirtschaft und zur Vorbereitung eines Konjunkturumschlages gesehen und behandelt werden; ein neuer Konjunkturansatz ist alsdann außerordentlich pfleglich zu behandeln. Das ist für die Wirtschaft, für den Staat und auch für die Arbeitnehmer das Gebot der Stunde. In England sind sehr maßgebende Kreise der Meinung, daß man sich jenseits des Kanals noch für viele Jahre mit mehr als 1 Million Arbeitsloser abfinden müsse. Wenn in den nächsten Monaten den Grund- und Kardinalfragen der deutschen Wirtschaft nicht in ihrer Totalität und Universalität von zentraler und zusammenfassender Stelle nachgegangen wird, ist zu befürchten, daß eine große Arbeitslosigkeit auch zur deutschen Dauererscheinung wird. Diese aber müßte sich für Deutschland im Hinblick auf seine reparationspolitische Lage weit verhängnisvoller auswirken als für jedes andere Land der Welt.

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