1.40 (vpa2p): Nr. 169 Reichsernährungsminister a. D. Graf v. Kanitz an den Reichskanzler. Podangen, 14. Oktober 1932

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Nr. 169
Reichsernährungsminister a. D. Graf v. Kanitz an den Reichskanzler. Podangen, 14. Oktober 1932

R 43 I /1176 , Bl. 351–353

[Agrarpolitik der Reichsregierung]

Sehr verehrter Herr von Papen!

Wenn ich auch weiß, daß Sie so überlastet sind, daß Sie kaum Privatbriefe lesen können, so möchte ich Ihnen aus meiner Sorge um die politische Zukunft[780] des von Ihnen geführten Kabinetts in möglichster Kürze einige Gedanken vortragen. Da ich persönlich ein sehr treuer Anhänger von Ihnen und Ihrer Politik bin, müssen Sie mir folgende Ausführungen schon verzeihen, auch wenn sie sich vielleicht nicht ganz mit Ihren Gedankengängen decken.

Sie wissen, daß ich hundertprozentiger Landwirt bin1. Trotzdem hege ich die feste Überzeugung, daß die Kontingentierungspolitik der Reichsregierung eine unglückliche ist und keineswegs nur für die Exportindustrie, sondern auch für die Landwirtschaft schwerwiegende Folgen zeitigen muß. Ich bin zu lange Reichslandwirtschaftsminister gewesen2, um nicht genau zu wissen, daß der Reichslandbund schließlich auch nichts weiter ist und sein kann, als eine Interessenvertretung, und daß der Reichslandwirtschaftsminister, der sich vom Reichslandbund stark beeinflussen läßt, allmählich in eine unmögliche Situation gelangt. Da ich dieses selbst während meiner Amtstätigkeit am eigenen Leibe erlebte und mich – zu spät – im Jahre 1925 gegen die Diktatur des Reichslandbundes wehrte, verlor ich natürlich den Boden in der Landwirtschaft, was unvermeidlich war. Es wird Herrn von Braun ebenso gehen, wenn er nicht rechtzeitig sich zur Wehr setzt.

1

Kanitz war ostpr. Rittergutsbesitzer.

2

Von Anfang Oktober 1923 bis Mitte Januar 1926 in den Kabinetten Stresemann II, Marx I/II und Luther I.

Handelspolitische Maßnahmen, seien es nun Zollerhöhungen oder Kontingentierungen, können in der gegenwärtigen Lage die Preisbildung für landwirtschaftliche Produkte m. E. nicht mehr günstig beeinflussen. Das könnte nur sein, wenn unser Arbeitsmarkt in Ordnung, also die Kaufkraft der Verbraucher intakt wäre. Die deutsche Landwirtschaft ist nicht Selbstzweck, sondern ihre Produkte dienen lediglich und allein der Ernährung der Menschheit, sind also auf die Kaufkraft der deutschen Menschen angewiesen. Ich bin kein Verfechter einer einseitigen Kaufkraft-Theorie, ich weiß und habe es selbst 1925 durch die erste Zollvorlage bewiesen, daß wir hohe Agrarzölle brauchen3. Es ist aber in einem Lande, in dem mindestens 10 Millionen Menschen nur von der Industrie leben, notwendig, die Kaufkraft der Massen gerade im Interesse der landwirtschaftlichen Produktion zu pflegen. Zölle und Kontingente können immer nur zusätzliche Mittel sein, niemals aber die Patentlösung. Ohne mich aufdrängen zu wollen, hätte ich Ihnen, sehr verehrter Herr von Papen, gerne einmal im Kreise der daran interessierten Mitglieder des Kabinetts über diese Dinge Vortrag gehalten. Da dieses Ihnen aber wohl unmöglich sein wird4, muß ich Ihnen wenigstens schriftlich ganz kurz das sagen, was ich für eine praktische Agrarpolitik des von mir wirklich hoch geschätzten Kabinetts Papen erachten würde.

3

Zu den Auseinandersetzungen um die Zollnovelle von 1925 vgl. diese Edition: Die Kabinette Luther I/II, S. XL ff.

4

Vgl. unten Anm 8.

I. Auf handelspolitischem Gebiet läßt sich, nachdem Schiele hier bereits unendlich viel für die Landwirtschaft geleistet hat, zurzeit kaum viel machen. Wir dürfen einfach nicht eine Ausfuhr von z. B. zirka 500 Millionen Mark nach Holland aufs Spiel setzen, wenn wir auf der andern Seite eine holländische Einfuhr von nur zirka 200 Millionen Mark durch Kontingente nur einengen und[781] doch nicht aus der Welt schaffen können! Der gegenwärtige Kontingentierungsplan5 muß m. E. Ihre eigenen Pläne der wirtschaftlichen Wiederankurbelung aufs schwerste gefährden, da es ja auf der Hand liegt, daß er die deutsche Industrie schädigen, also der von Ihnen so glücklich in die Wege geleiteten Entlastung des Arbeitsmarktes Abbruch tun muß.

5

Vgl. Dok. Nr. 153, P. 1 und Dok. Nr. 156.

Die Industrialisierung Deutschlands, beginnend in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, war ein schwerer Fehler, der aber heute nicht mehr rückgängig zu machen ist. Agrarpolitik muß also, so unbequem das auch immer ist, bei uns in Deutschland in erster Linie in der Pflege des Arbeitsmarktes bestehen. Die vom Kabinett geplante Kontingentierung wird, wie schon gesagt, die auch von Ihnen erhoffte schnelle Entlastung des Arbeitsmarktes hemmen. Die jetzt schon vorliegenden amtlichen Zahlen über die Wiedereinstellung von Arbeitskräften würden viel sprunghafter anwachsen, wenn nicht die Sorge vor dem Kontingentierungs-Effekt einen Teil der Industrie paralysierte. Handelspolitisch läßt sich höchstens auf dem Wege des Butter- und Käse-Zolls in mühevoller langwieriger Arbeit schrittweise etwas erreichen, vielleicht auch auf dem Wege weiterer Einschränkung der Devisenzuteilung für die Importeure landwirtschaftlicher Produkte. Ich will hier gar nicht resignieren, aber ich muß vor unberechtigten Hoffnungen warnen. Die Regierung muß der Landwirtschaft ganz offen sagen, daß unsere handelspolitische Lage weitere Experimente verbietet. Sie muß gerade der Landwirtschaft gegenüber stark auftreten, denn nur dann wird sie ihr imponieren! Ihre Politik der Wirtschaftsankurbelung, sehr verehrter Herr von Papen, wird zu vollem Erfolge führen, wenn Sie das handelspolitische Gebiet vorerst einmal möglichst vorsichtig behandeln, und wenn dann tatsächlich die Industrie anstelle des bisherigen Pessimismus wieder Glauben an ihre Zukunft gewinnt und Arbeiter neu einstellt. Nur dann wird der Arbeitsmarkt entlastet, nur dann werden die eingestellten Arbeiter wieder Butter kaufen, nachdem sie jetzt als Arbeitslose weder deutsche noch ausländische Butter bezahlen können.

II. Wie soll nun dann der Landwirtschaft geholfen werden, wenn nicht auf handelspolitischem Gebiet? Durch eine wirkliche Zinsentlastung! – Die vom Kabinett in Angriff genommene Zinsentlastung6 ist m. E. nicht ausreichend. Neben der Zinsentlastung bei ersten Hypotheken, die im übrigen auch nicht lückenlos ist, ist ja mindestens ebenso wichtig die Zinsentlastung bei losen Schulden. Die geplante Sanierung der Genossenschaften7 muß doch so gemacht werden, daß mindestens 50% der notleidend gewordenen Verpflichtungen, die heute noch 10–11% Zinsen kosten, auf irgend einem Wege verschwinden. Es kommt hier lediglich auf die Reichsbank an. Wenn diese die faulen landwirtschaftlichen Wechsel, auf denen sie sitzt, nicht wirklich als faul ausscheidet und in den Schuldbüchern der Genossenschaften und Kommissionäre (die vorläufig ganz vergessen sind) streicht und somit auch aus den Schuldbüchern der Landwirtschaft[782] streicht, wird alles andere, was die Reichsregierung für die Landwirtschaft unternimmt, Stückwerk bleiben, vor allem die handelspolitischen Versuche. Hierüber könnte ich Vorschläge machen, die ich aber, um nicht zu langatmig zu werden, hier unterlassen muß.

6

Durch die VO des RPräs. „über Zinserleichterung für den landwirtschaftlichen Realkredit“ vom 27.9.32 (RGBl. I, S. 480 ); vgl. dazu Dok. Nr. 153, P. 2 und Dok. Nr. 154, P. 1.

7

Vgl. Dok. Nr. 164 und Dok. Nr. 168, P. 2.

III. Entlastung auf steuerlichem Gebiet für die Landwirtschaft ist ebenso notwendig, kann aber natürlich nur parallel mit der Entlastung des Arbeitsmarktes, also des Reichs inbetreff der Arbeitslosenunterstützung erfolgen. Auch dieses offen auszusprechen, wäre m. E. Aufgabe der Reichsregierung, damit die Landwirtschaft sich keinen falschen Illusionen hingibt.

Zusammengefaßt: Weitere einschneidende Zinsentlastung, allmähliche Steuerentlastung sind m. E. die einzigen direkten Möglichkeiten, die sofort von der Reichsregierung in Angriff genommen werden können. Die beste indirekte Agrarhilfe bleibt nach Lage der Dinge die Entlastung des Arbeitsmarktes! – Handelspolitisch dürfen wir natürlich auch nicht die Hände in den Schoß legen, sondern müssen dauernd versuchen, die Einfuhr von Veredlungsprodukten einzuschränken, nicht aber gewaltsam in einem Moment, in welchem wir fast ohne handelspolitische Waffen dastehen, also doch wieder zu Kreuze kriechen müssen, wenn man uns nunmehr im Auslande den deuschen Export sperrt! – Dieses in aller Kürze gesagt ist die Agrarpolitik, die ich für die einzig aussichtsreiche halte. Ich glaube annehmen zu müssen, sehr verehrter Herr von Papen, daß Sie anderer Ansicht sind; wenigstens spricht die Kabinettspolitik für diese meine Annahme. Trotzdem hielt ich es für meine Pflicht, gerade weil ich Sie und Ihr Kabinett verehre und schätze, Ihnen das zu sagen, was ich, der ich niemals parteigebunden oder mich durch einen Interessenverband gebunden fühlte, in jahrelanger amtlicher, parlamentarischer und wirtschaftlicher Erfahrung als wirksamste Agrarhilfe erkennen gelernt habe. Sollten Sie mir Gelegenheit geben können, einmal Ihnen diese Dinge vortragen zu dürfen, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Um alle eventuellen Soupcons mir gegenüber betr. persönlichen Ehrgeizes oder Ambitionieren auf irgendwelche amtlichen Stellungen von vornherein auszuräumen, erkläre ich hiermit, daß ich aus mancherlei Gründen nicht die Absicht habe, in absehbarer Zeit überhaupt wieder ein öffentliches Amt zu bekleiden. Nur weil ich mich in dieser Beziehung ganz frei von persönlichen Wünschen weiß, hat es überhaupt Sinn, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Ich bin vom 18. bis 20. d. Mst. in Berlin (Hotel Adlon). Sollten Sie mich zufällig sprechen wollen oder vielleicht in Anwesenheit eines oder der anderen Ihrer Mitarbeiter hören wollen, so stehe ich gern zur Verfügung8 Sollte Ihnen dieses nicht möglich sein, so bin ich nicht etwa gekränkt, sondern habe für mich das Gefühl, meine Pflicht getan zu haben, indem ich Ihnen, hochverehrter Herr von Papen, meine Sorgen betr. die wirtschaftlichen Projekte Ihrer Regierung einmal ans Herz legen konnte. Ich habe Abschrift dieses Briefes an die mir bekannten Mitglieder des Kabinetts, Freiherrn von Braun, Herrn von Schleicher und Herrn Warmbold, geschickt und darf annehmen, daß Sie ebenso wie die genannten[783] Herren meine Zeilen vertraulich behandeln. In der Hoffnung, daß Sie mir, als einem Ihrer treuesten Anhänger, diese offenen Worte nicht übelnehmen werden, verbleibe ich

8

Am Kopf des oben abgedr. Schreibens vermerkte Pukaß am 25. 10. handschrl.: „Hr. Rkzl. hat Hn. Grafen Kanitz empfangen u. mit ihm die Sache durchgesprochen.“ Eine Aufzeichnung über diese Besprechung liegt nicht vor.

in gewohnter Hochschätzung und mit bestem Gruß

stets Ihr aufrichtig ergebener

G. Kanitz

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