2.77 (cun1p): Nr. 77 MdR v. Graefe an den Reichsminister des Innern. 17. Februar 1923

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Nr. 77
MdR v. Graefe an den Reichsminister des Innern. 17. Februar 1923

R 43 I /2678 , Bl. 105 f. Abschrift1

[Betrifft: Vorgehen einzelner Landesregierungen gegen die DVF]

Sehr geehrter Herr Minister!

Die gestrigen Verhandlungen im Reichstage2 haben einen Verlauf genommen, der dem von Ihnen selbst vertretenen reichsdeutschen Staatsgedanken nach meiner Überzeugung wenig dienlich sein mußte. Mein Freund Wulle hatte in seiner Rede der unantastbaren Rechtsauffassung Ausdruck gegeben, daß die widerrechtlichen Versammlungsverbote in Ostpreußen, Lübeck usw. einen Bruch der Reichsverfassung bedeuteten und daß deshalb unsere Freunde von den zuständigen Reichsbehörden einen Schutz ihrer reichsgesetzlich gewährleisteten Rechte gegen die Willkür der einzelstaatlichen Polizeiminister verlangen müßten, zumal Reichsrecht vor Landesrecht gehe3.

Auf dieses Verlangen haben Sie, Herr Minister, vollkommen geschwiegen oder so ausweichend geantwortet, wie während meiner langjährigen parlamentarischen Praxis noch kein Minister auf klare Anfragen eines Abgeordneten erwidert hat4. Sie, sowohl als auch der Herr Reichskanzler sind darüber vollkommen[259] informiert, welch eine Erbitterung das Vorgehen der Herren Severing und seiner Kollegen gerade in denjenigen Kreisen hervorgerufen hat, ohne deren Unterstützung es keine brauchbare Einheitsfront und auch keine Fortdauer [der] bürgerlichen Regierungen geben kann. Wollen Sie diese Kreise auch weiterhin derartig schutzlos in ihren verfassungsmäßigen Rechten vergewaltigen lassen, dann sehe ich darin die vollständige Kapitulation der Reichsregierung vor der Willkür einzelner Minister in den Einzelstaaten, – dann aber fällt auf diese sich selbst der Ohnmacht beschuldigende Reichsregierung ganz allein die volle Verantwortung für die Folgen der Erbitterung, die sie durch ihre Hilflosigkeit in völkischen Kreisen hervorgerufen hat.

Wer sich des Ernstes unserer politischen Lage bewußt ist – und ich nehme an, daß Reichskanzler und Reichskabinett sich dessen bewußt sind! –, der kann sich nicht hinter bürokratische Formeln verkriechen, wie z. B. Hinweis auf den Beschwerdeweg beim Oberverwaltungsgericht usw., sondern der wird wissen, daß er in zwölfter Stunde sofort handeln muß. Der Weg ist klar. Bei Scheitern von Verhandlungen mit den Einzelstaaten muß die Reichsregierung, das erwarten wir von ihr, sofort durch ihre Initiative einen Schiedsspruch des Staatsgerichtshofes erwirken5, der das Recht der deutschen Staatsbürger gegenüber den Willkürakten gewisser Einzelstaaten wieder herstellt und dessen rein formale Begründung sie, wenn nur ein Wille da ist, in der außenpolitischen Lage finden kann. Versäumt die Reichsregierung dieses Eingreifen zum Schutze ihrer eigenen Gesetze, dann kann sie sich nicht wundern, wenn auch in denjenigen Kreisen, die für Recht und Ordnung einzutreten gewillt sind, eine Regierung, die sich in ihren Rechten nicht einmal durchzusetzen versucht, nicht mehr als Regierung gilt. Die volle Verantwortung für alle Folgen fällt dann auf diejenigen, die wir rechtzeitig informiert und in loyalster Form um unser Recht vergeblich angegangen haben.

Ich darf um gütigen umgehenden Bescheid auf dieses Schreiben, von dem ich Abschrift dem Herrn Reichskanzler zugehen lasse, in dem Sinne bitten, ob Sie, Herr Minister, bereit sind, die erforderlichen Schritte zum Schutze unserer verfassungsmäßigen Rechte nunmehr beschleunigt in dem vorgeschlagenen Sinne einzuleiten oder ob wir unseren Freunden im Lande auf ihre zahllosen Vorstellungen mitteilen sollen, daß die Reichsregierung nicht fähig sei, ihre Staatsbürger in ihren verfassungsmäßigen Rechten sofort gegen Vergewaltigungen selbst zu schützen, sondern alles dem berühmten Instanzen-Beschwerdewege anheim gäbe, während dessen monatelanger Dauer die Einzelstaaten getrost weiter mit der Reichsverfassung umspringen können, wie es ihnen beliebt6.

In vorzüglicher Hochachtung

ergebenst

gez. v. Graefe-Goldebee

Fußnoten

1

Die Abschrift ist mit einem handschriftlichen Begleitschreiben v. Graefes am 17. 2. dem RK zugeleitet und von diesem am 18. 2. abgezeichnet worden. Dem RK schreibt v. Graefe: „Ich habe das persönliche Vertrauen zu Ihnen, daß Sie für die ernsten Bedenken, die durch die Passivität der Reichsregierung gegenüber den unglaublichen Willkürakten der einzelstaatlichen Polizeiminister heraufbeschworen werden, Verständnis haben und deshalb meine sorgenvollen Warnungen an den Herrn Innenminister nicht mißdeuten werden; um so mehr darf ich darauf hoffen, daß gerade von Ihnen aus nun Unterstützung unserer nur allzu berechtigten Wünsche erfolgen dürfte.“ (R 43 I /2678 , Bl. 104).

2

RT-Bd. 358, S. 9729  – 9762.

3

RT-Rede Wulles ebd. S. 9729 ff. Die Vorfälle in Gera, Lübeck und Ostpreußen wurden von Oeser und von v. Graefe bereits in der RT-Sitzung vom 2. 2. angesprochen (RT-Bd. 358, S. 9595  f. und 9602 f.).

4

RT-Rede Oesers ebd. S. 9748 ff.

5

Dazu Randbemerkung Wevers: „Das hatte Herr Min. Oeser ja vor einigen Tagen im Reichstag in Aussicht gestellt.“

6

Im Anschluß an dieses Schreiben findet sich in den Akten eine Aufzeichnung Wevers über eine Besprechung mit MdR Henning. Danach protestierte dieser gegen die kurzfristige Inhaftierung Rossbachs und des Lokalvorstandes der DVF in Altona. „Er bäte den Herrn RK“, so vermerkt Wever, „nunmehr einzugreifen und mit allem Nachdruck dafür zu sorgen, daß die Verfassungsbestimmungen hinsichtlich der Abhaltung von Versammlungen auch von den Ländern innegehalten würden. Würde seitens der RReg. nichts geschehen, so würden seine Freunde annehmen müssen, daß diese Vergewaltigungen im Einvernehmen mit der RReg. erfolgten, und sie als Abgeordnete würden dann nicht mehr in der Lage sein, ihre Leute zu halten. […] Er bat dringend, daß der Herr RK auf die MinPräs. der Länder, insbesondere auf den PrIM Severing einwirke, daß in Zukunft diese gesetzwidrigen Behandlungen unterblieben.“ Daraufhin fertigt Wever am 19. 2. den Entwurf eines Schreibens an Braun, Severing und Oeser, in dem sie unter Beifügung von Abschriften der Eingaben v. Graefes und Hennings zu einer Besprechung am 20. 2. gebeten werden. Die Einladungsschreiben sind ausgefertigt, aber nicht abgeschickt worden; stattdessen vermerkt Wever auf dem Schreiben v. Graefes am 20. 2.: „Der Herr RK will wegen dieser Sache und der Angelegenheit Henning mit Herrn Min. Severing sprechen. Der H. RK will Severing anrufen.“ Über dieses Gespräch fand sich keine weitere Aufzeichnung. Am 23. 2. vermerkt Wever: „Mündlich mit H. v. Graefe und H. Henning erledigt.“ (R 43 I /2678 , Bl. 107, 112-126, 104). Zu den weiteren Eingaben der DVF s. Dok. Nr. 100.

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