2.35 (feh1p): Nr. 35 Der Landeshauptmann der Einwohnerwehren Bayerns, Escherich, an den Reichskanzler. München, 27. Juli 1920

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[86] Nr. 35
Der Landeshauptmann der Einwohnerwehren Bayerns, Escherich, an den Reichskanzler. München, 27. Juli 1920

R 43 I /1358 , Bl. 93–95

[Betrifft: Hilfsangebot an die Reichsregierung zur Aufstellung eines Grenzschutzes]

Hochzuverehrender Herr Reichskanzler! Euer Exzellenz!

Die schwere Gefahr, die unser Vaterland im Osten bedroht1, nötigt mich, mich dieses Mal unmittelbar an Euere Exzellenz zu wenden.

Wenn ich auch weniger die Befürchtung hege, daß unsere Grenzen von einem Einmarsch russischer Truppen in nächster Zeit bedroht sind, so ist doch der unaufhaltsame, absolut sicher erfolgende vollkommene Niederbruch Polens Grund genug, um mit äußerster Besorgnis der Gefahren zu gedenken, die für Deutschland aus den polnischen Zuständen entstehen müssen.

Der Zusammenbruch muß in Polen schließlich eine bolschewistische Regierung ans Ruder bringen. Unsere Grenzen nach Polen sind infolge des Versailler Vertrages vorläufig noch verschwommen. Ostpreußen ist durch den „Korridor“ vollkommen von uns getrennt. Es wird dann nicht nur der Fall eintreten, daß die ehemals deutschen, noch heute überwiegend von Deutschen bewohnten Gebiete dem polnischen roten Regiment zum Opfer fallen, daß Ostpreußen von allen Seiten vom Bolschewismus erdrückt wird; über die, wie schon erwähnt, verschwommenen Grenzen wird die Bewegung aus Polen heraus zu uns und zu der gegen den Bolschewismus noch viel weniger widerstandsfähigen Tschechoslowakei hinübergreifen. Schlesien wäre dann von drei Seiten von einer roten Welle umbrandet, das an sich schon sehr weit links orientierte Sachsen böte dem Bolschewismus von Süden her ein geeignetes Einfallstor, und Bayern würde unmittelbar an eine rote Tschechoslowakei grenzen.

Mir sind bisher keine Maßnahmen der Reichsregierung bekannt, die gegen diese uns unmittelbar bevorstehenden Gefahren einen auch nur annähernd ausreichenden Schutz unserer Grenzen und die Aufrechterhaltung der von uns bekanntgegebenen Neutralität tatsächlich gewährleisten2.

Die Verhängung des Ausnahmezustandes über Ostpreußen3 kann nicht als eine ausreichende Maßnahme angesehen werden. Wir müssen zum mindesten in allen jetzt an Polen und an die Tschechoslowakei angrenzenden Gebieten, also Pommern, Brandenburg, Schlesien, Sachsen und Bayern, ähnliche Maßnahmen wie in Ostpreußen, namentlich aber einen verstärkten Grenzschutz, so schnell[87] wie möglich organisieren. Ich darf hierbei ausdrücklich darauf hinweisen, daß es mit der verstärkten Heranziehung und Bereitschaft einiger Reichswehrformationen nicht geschafft werden kann. Es ist mir wohl bekannt, und ich möchte die Regierung ernstlich bitten, sich in dieser Frage keiner allzu optimistischen Auffassung hinzugeben, daß in vielen Teilen der Reichswehr eine Art Hang zu nationalbolschewistischen Ideen sehr verbreitet ist und daß von bolschewistischer Seite in dieser Richtung eine sehr starke Propaganda betrieben wird. Es sind das Ideen, die in den meisten Fällen wohl edlen Motiven entspringen, die in einem Söldnerheer leicht auf fruchtbaren Boden fallen, die aber sehr verhängnisvoll werden können. Ob fremde Heerscharen, die innerhalb unseres schwer geprüften Vaterlandes erscheinen, als „rote“ oder als „weiße“ Truppen, für oder gegen die Entente operieren, ist von untergeordneter Bedeutung. Wir müssen sie alle ganz von unseren Grenzen fernhalten, soll unser Land nicht für Jahre hinaus der Kriegsschauplatz von ganz Europa werden. Darum müssen unsere Grenzen trotz der Entwaffnungsbedingungen der Entente einen verstärkten Schutz erhalten, nicht nur durch die auch zahlenmäßig nicht ausreichende Reichswehr, sondern durch wehrhafte, national- und verfassungstreu gesinnte Männer und Organisationen, die den festen Willen haben, unsere Grenzen von jedem fremden Eindringling frei zu halten. Nimmt die Reichsregierung diese Angelegenheit nicht bald energisch in die Hand, so besteht die große Gefahr, daß die besorgte Bevölkerung der Grenzgebiete sich selbst hilft und dann ein völliges Durcheinander entsteht.

Die mir zur Verfügung stehende Organisation ist jederzeit in der Lage und bereit, der Regierung und dem Vaterlande zuverlässige und kampferprobte, verfassungstreue Männer aus allen deutschen Gauen zum Schutze unserer Grenzen gegen jeden Eindringling zur Verfügung zu stellen.

Gegenüber der aus dem polnischen Zusammenbruch uns aus nächster Nähe bedrohenden Gefahr ist energisches und schnelles Handeln geboten.

Euer Exzellenz bitte ich eindringlichst, diese schwerste Gefahr nicht etwa aus Sorge vor den Drohungen der Entente gering einzuschätzen, sie ist die größte, die unser Volk bedroht, schlimmer als jede andere, die unsere westlichen Feinde uns bringen können4.

Dem Herrn Reichswehrminister, dem Herrn Minister des Auswärtigen, dem Herrn Reichsminister des Innern lasse ich gleichzeitig eine Abschrift dieses Briefes zugehen5.

Mit dem Ausdrucke vorzüglichster Hochachtung verbleibe ich

Euer Exzellenz sehr ergebener

Dr. Escherich

Fußnoten

1

Im Verlauf des russ.-poln. Krieges waren sowjetruss. Truppen Ende Juli 1920 tief nach Polen eingedrungen und waren auf dem Vormarsch in Richtung Ostpreußen begriffen. Siehe dazu Schultheß 1920, II, S. 201–202.

2

Dtld. hatte am 20.7.1920 im russ.-poln. Krieg seine Neutralität erklärt. Siehe dazu Dok. Nr. 29, P. 1.

3

Zur Verhängung des Ausnahmezustandes über Ostpreußen siehe Dok. Nr. 29, P. 4.

4

Zur Organisation der ostpr. Orts- und Grenzwehren s. Dok. Nr. 51.

Zur Organisation Escherich in Ostpreußen s. Dok. Nr. 52.

5

Eine Antwort der RReg. erhielt Escherich auf dieses Schreiben nicht. Siehe dazu weiter Dok. Nr. 44.

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