1.63.1 (mu22p): 1. Versammlungstätigkeit.

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1. Versammlungstätigkeit.

Träger der Versammlungstätigkeit sind zu einem großen Teile die Parteiorganisationen der Rechtsparteien, insbesondere die der Nationalsozialisten und Deutschnationalen Volkspartei. Nebenher geht in fast allen Landesabteilungen[1036] die Organisation besonderer örtlicher Ausschüsse zur Werbung für das Volksbegehren gegen den Young-Plan. Während in einzelnen Gebieten diese Organisation sich noch im Aufbau befindet, entfaltet sie in anderen Teilen schon eine sehr rege Versammlungstätigkeit.

Am bedrohlichsten ist die Lage wohl in Hinter-Pommern und in der Provinz Schleswig-Holstein anzusehen, besonders stark arbeitet sodann die Agitation in Westfalen und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. In Süddeutschland ist vor allem Bayern, aber auch Baden von der Propaganda erheblich beunruhigt.

Alle Berichte heben sowohl bei dem getrennten Vorgehen der einzelnen Rechtsparteien, wie bei den gemeinsamen Veranstaltungen der Ausschüsse zur Werbung für das Volksbegehren übereinstimmend die besonders starke Aktivität der Nationalsozialisten hervor. So betont die Landesabteilung Ostpreußen, daß dieselben die gemeinsamen Versammlungen benutzen, um für ihre besonderen Parteizwecke zu agitieren. Demgegenüber betont die Landesabteilung Hannover-Braunschweig, daß in ihrem Gebiet gemeinsame Versammlungen selten sind, daß vielmehr getrennt gearbeitet wird, wobei aber die Versammlungen der Nationalsozialisten bei weitem überwiegen.

Von der Agitation sind wohl ausnahmslos alle Gebietsteile des Reiches durchsetzt. Eine erfreuliche Ausnahme scheint lediglich die Provinz Grenzmark zu sein, denn dort konnte der Oberpräsident nach dem Berichte der Landesabteilung Schneidemühl in seiner Ansprache bei dem Provinziallandtag die erfreuliche Feststellung machen: „daß die gefährliche Agitation unter dem Landvolke in der Grenzmark erfreulicher Weise noch nicht in die Erscheinung getreten ist und daß hart an der Grenze Ruhe und Besonnenheit vorherrschen.“

Aus allen übrigen Gebieten des Reiches wird von der einsetzenden Agitation berichtet, wenn sich auch sehr deutliche Unterschiede in ihrer Stärke geltend machen.

Aus dem Westen meldet die Landesabteilung Essen zahlreiche gut besuchte Versammlungen in den größeren Städten der Rheinprovinz und insbesondere des rheinisch-westfälischen Industriegebietes. Allein in Essen wurden in den letzten 10 Tagen zwei Versammlungen abgehalten. Die Landesabteilung betont, daß dort in politischen Kreisen und von Seiten der Polizeipräsidenten die Lage als sehr ernst bezeichnet wird. Nicht ganz so pessimistisch klingt der Bericht der Landesabteilung Siegen, in deren Gebiet zwar auch rege Versammlungstätigkeit beobachtet wird, jedoch werden die Veranstaltungen nur mittelmäßig besucht. Eine Versammlung in der Stadt Siegen selbst konnte allerdings eine größere Teilnehmerzahl aufweisen. Auch die Landesabteilung Frankfurt/Main vermochte in ihrem Gebiete eine besonders starke Agitation noch nicht festzustellen. Immerhin haben auch dort in den Städten des Rhein-Mainischen Wirtschaftsgebietes in den letzten Tagen die Reichstagsabgeordneten Quaatz, Lindeiner-Wildau und Strasser sowie ein nationalsozialistischer Redner namens Bostunitsch Versammlungen abgehalten. Die Landesabteilung glaubt aber immerhin Anzeichen dafür zu sehen, daß sehr bald ein scharfer Kampf gegen den Young-Plan und gegen die Reichsregierung in ihrem Gebiete zu erwarten ist.[1037] Für Frankfurt/Main selbst ist auf den 11. Oktober eine Versammlung angesetzt, in der Graf Westarp sprechen wird.

In der Provinz Westfalen ist nach dem Berichte der Landesabteilung Münster eine sehr starke Propaganda im Gange. Die Landesabteilung schreibt über die Versammlungstätigkeit: „In Minden findet in letzter Zeit etwa alle 8 Tage eine Versammlung statt. Redner ist u. a. der ehemalige evangelische Pfarrer Münchmeyer aus Borkum; im nördlichen Teile des Kreises Lübbecke; 3–4 Veranstaltungen in Bielefeld, Redner u. a. Wulle; am 1. 9. große Kundgebung am Hermannsdenkmal mit Hugenberg als Redner. Unter den Bauern des Lippischen Landes Agitation von Haus zu Haus. Ziemlich rege Tätigkeit der Nationalsozialisten im Kreise Höxter, gestern eine deutschnationale Veranstaltung in Paderborn; vor einigen Wochen eine solche in Osnabrück, vom Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren einberufen; ferner je eine rechtsradikale Versammlung in Recklinghausen und Bottrop, Redner in letztgenannter Treviranus, Besuch 50–60 Personen; vorgestern große Kundgebung der Nationalsozialisten in Münster. Redner Reichstagsabgeordneter Wagner-Bochum.“

In Mittel- und Norddeutschland ist das Bild weniger einheitlich. Die Landesabteilung Hannover-Braunschweig berichtet von einer gut besuchten Versammlung am 3. Oktober in der Stadt Hannover. In der Provinz entfaltet sich in dem nördlichen Teile eine sehr lebhafte Agitation, während es im Süden ruhiger sei. Die Bevölkerung verhält sich dieser Agitation gegenüber noch vorwiegend passiv, jedoch wird hervorgehoben, daß weite Kreise des Mittelstandes und der Landwirtschaft von dem Young-Plan sehr ungünstige Auswirkungen für die Wirtschaftslage befürchten. Es stehe somit immerhin zu befürchten, daß diese Kreise evtl. einer starken Agitation gegen den Young-Plan vielleicht doch bis zu einem gewissen Grade zum Opfer fallen können.

Die Landesabteilung Thüringen hat zwar auch in ihrem Gebiete rege Versammlungstätigkeit zu verzeichnen, hebt aber das geringe Echo, welches die Bewegung in der breiten Masse des Volkes findet, hervor. Während die Landesabteilung Brandenburg nur vorwiegend in den landwirtschaftlichen Kreisen der Provinz starke Agitation beobachtet, scheint die Ausdehnung und Organisation der Anti-Young-Plan-Propaganda im Gebiete der Landesabteilung Schleswig-Holstein ganz besonders bedrohlich zu sein. Gerade auch diese Landesabteilung hebt hervor, wie stark die nationalsozialistische Partei die Triebfeder dieser Bewegung ist.

Ähnlich wie die Lage in Schleswig-Holstein ist auch die Situation in Hinter-Pommern. Die Landesabteilung Schneidemühl bezeichnet dieses Gebiet als die Domäne der radikalen Agitation gegen den Young-Plan und gegen die Maßnahmen der Regierung. Sie betont, daß dort besonders gut die Orts- und Kreisausschüsse für das Volksbegehren durchorganisiert wären, zahlreiche Versammlungen veranstalteten und bei ihrer Vorbereitung sogar durch Haussammlungen werben. Hervorgehoben wird, daß als Träger und Mitglieder der Orts- und Kreisausschüsse zur Werbung für das Volksbegehren auch eine Reihe von Vereinen zeichnen, die sich sonst unpolitisch nennen, wie Kriegervereine, Sanitätskolonnen, freiwillige Feuerwehr etc.

[1038] In Ostpreußen hält sich die Agitation noch in ziemlichen Grenzen. Versammlungen der Ausschüsse für das Volksbegehren haben erst in Königsberg und Insterburg stattgefunden. Daneben aber ist eine gesteigerte Parteiversammlungstätigkeit der Nationalsozialisten zu bemerken. Von dem gelegentlichen Einfluß der Nationalsozialisten auf die genannten gemeinsamen Versammlungen war schon die Rede. Die Landesabteilung Schlesien betont in ihrem Bericht die gute Durchführung der Bildung von Ortsausschüssen in allen größeren Gemeinden wie auch speziell auf dem Lande.

Im Freistaate Sachsen haben zwar auch in Dresden, Zittau und einigen anderen Städten Versammlungen stattgefunden, ohne ein starkes Echo zu finden. Im übrigen glaubt die Landesabteilung in ihrem Gebiete von einer besonderen Versammlungspropaganda gegen den Young-Plan einstweilen nicht sprechen zu können.

Im Süden des Reiches ist in den Freistaaten Bayern und Baden eine sehr rege Agitation mit entsprechender Versammlungstätigkeit zu beobachten. Aus dem Berichte der Landesabteilung Bayern sei besonders hervorgehoben, daß nach Berichten der Münchner-Augsburger Abendzeitung sich in Nördlingen auch die Angehörigen der Deutschen Volkspartei den Deutschnationalen angeschlossen haben, um damit zu erreichen, daß in der Stadt Nördlingen die Bevölkerung einheitlich gegen den Young-Plan eingestellt wird. Ferner wird besonders betont, daß der deutschnationale Landtagsabgeordnete Bärwolf an der Ostgrenze Bayerns eine besonders umfangreiche Versammlungsagitation gegen den Young-Plan betreibt. Im Gebiet der Landesabteilung Württemberg dagegen scheint die Agitation weniger lebhaft zu sein, wenigstens ist dieselbe dem Landesabteilungsleiter noch nicht besonders aufgefallen.

Beachtenswert sind auch einzelne Angaben über den Inhalt der Vorträge. Zwei Landesabteilungen (Essen und Baden) heben hervor, daß Redner in ihren Gebieten gelegentlich der genannten Versammlungen die Behauptungen verbreiten, daß wichtige Teile des Young-Planes von der Regierung geheim gehalten werden und daß im Falle deutscher Zahlungsunmöglichkeit eine Bestimmung vorgesehen wäre, dergemäß Deutsche gewissermaßen als Sklaven in ausländische Kolonien exportiert werden könnten. Dasselbe bezeugt auch die Zuschrift eines Vertrauensamannes der Landesabteilung Hamburg-Bremen aus Bremervörde. In dieser Zuschrift heißt es: „In der hiesigen Gegend läuft das Gerücht um, daß der Young-Plan vorsehe, daß deutsche Staatsangehörige als Lohnsklaven ins Ausland gewissermaßen verkauft werden könnten, oder müßten, um dort in den Kolonien der Gläubigerstaaten Arbeit zu leisten. Das Gerücht ist sehr verbreitet, hauptsächlich in der ländlichen Bevölkerung. Wer das Gerücht glaubt, ist gegen den Young-Plan, und das sind nicht wenige. Darum halte ich das Gerücht für außerordentlich gefährlich.“ Die Landesabteilung Siegen sagt von ihren Agitatoren, daß sie im allgemeinen schlecht über den Inhalt des Dawes- und Young-Planes unterrichtet seien und bei ihren Reden sehr bald in wüste Behauptungen (z. B. Reichsminister Dr. Wirth sei mit einer Jüdin verheiratet)3 und Schimpfereien ausarteten. Die Landesabteilung Bayern sagt[1039] von dem Auftreten des nationalsozialistischen Pfarrers Münchmeyer in Versammlungen, daß seine plumpe Art den geplanten Zwecken mehr schadet als nützt.

Fußnoten

3

Wirth war unverheiratet.

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