1.36 (mu22p): Nr. 292 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an das Auswärtige Amt, den Reichsminister der Finanzen, den Reichswirtschaftsminister und den Staatssekretär in der Reichskanzlei. 14. September 1929

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Nr. 292
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an das Auswärtige Amt, den Reichsminister der Finanzen, den Reichswirtschaftsminister und den Staatssekretär in der Reichskanzlei. 14. September 1929

R 43 I /298 , Bl. 14-18, hier: Bl. 14-18 Durchschrift

Betrifft: Young-Plan und Reparationssanktionen: hier Beratung des 6. Komitees der Haager Konferenz in Paris.

Unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Herrn Reichsministers Dr. Wirth in der Reparationsministerbesprechung vom 13. d. M. bestätige ich im Auftrag des z. Z. verreisten Herrn Ministers, daß mein Ressort der Behandlung der Frage der Reparationssanktionen zustimmt, die in der genannten Besprechung für zweckmäßig befunden wurde1. Hiernach soll in dem abzuschließenden Vertragswerk festgelegt werden, daß der Young-Plan eine vollständig neue Regelung der Reparationsverpflichtungen enthält, die auf dem Wege eines Vertrages unter Gleichberechtigten zwischen Gläubigern und Schuldner vereinbart wurde und danach auch hinsichtlich ihrer weiteren Handhabung, insbesondere bei auftretenden Streitfällen, ausschließlich nach den allgemeinen Regeln internationaler Finanzabkommen behandelt werden soll, wobei für Streitfälle in ihrem vollen Umfang eine schiedsrichterliche Lösung festgesetzt werden soll. Bei der Bestimmung der Instanzen soll neben dem Auslegungsschiedsgerichte für Fragen von besonderer Tragweite der Ständige Internationale Gerichtshof im Haag eingeschaltet werden. Diese Regelung würde nach der Auffassung der Ressorts in Verbindung mit der allgemeinen internationalen Rechtsordnung, die im Völkerbundspakte niedergelegt ist2, dem[935] Sanktionssystem des Versailler Vertrages in bezug auf die Reparationsverpflichtungen jede Unterlage entziehen, zumal wenn – was gleichfalls gefordert werden soll – die bisherige, für die Einleitung der Sanktionen erforderliche Beschlußzuständigkeit der Reparationskommission bezüglich einer deutschen Nichterfüllung oder Erfüllungsverweigerung an anderer Stelle des Vertrages in klarer Weise beseitigt wird3.

Das Auswärtige Amt, das Reichsfinanzministerium und das Reichswirtschaftsministerium erachteten es in der Besprechung nicht als zweckmäßig, bei der anzustrebenden Neuregelung einzelne Arten von Reparationssanktionen als unzulässig namhaft zu machen, insbesondere auch nicht die territoriale Sanktion der Wiederbesetzung deutschen Gebietes. Ich verschließe mich nicht dem geltend gemachten Grunde, daß durch die ausdrückliche Ausschließung der Besetzungssanktionen die Schlußfolgerung nahegelegt würde, daß die übrigen Sanktionen, d. h. die wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen, von uns weniger scharf abgelehnt würden. Ich möchte diesen Bedenken Rechnung tragen hinsichtlich der eigentlichen, nach der aufrechterhaltenen französischen Ruhrthese auch die Besetzung ermöglichenden Reparationssanktionen der Anlage II zum VIII. Teil des Versailler Vertrages. Dagegen muß ich mit allem Nachdruck darauf bestehen, daß das Widerbesetzungsrecht des Artikel 430 des Versailler Vertrages unter allen Umständen auch ausdrücklich ausgeschlossen wird. Dieser Artikel hat in der politischen Erörterung eine wachsende Bedeutung gewonnen. Die Wirtschaftspartei, aber auch die Deutsch-nationale Volkspartei und die Träger des Hugenberg-Volksbegehrens haben diesen Artikel in den Mittelpunkt der Erörterung gerückt4. Es ist auch klar, daß ein sechzigjähriges Wiederbesetzungsrecht in Verbindung mit dem Young-Plan um so gehässiger wirken würde, als dieses Recht ursprünglich nur 30 Jahre vom 1. Mai 1921 ab (Artikel 233 VV.) gelten sollte. Gegenüber den eigentlichen Reparationssanktionen der Anlage II zum VIII. Teil des Versailler Vertrages nimmt Artikel 430 dadurch eine Sonderstellung ein, daß er im XIV. Teile des Versailler Vertrages, der die Überschrift „Garantien für die Ausführung“ trägt, enthalten ist, also im eigentlichen Sinne des Wortes als eine Garantie der Reparation nach Art derer angesehen werden muß, die gemäß Absatz 102 des Berichtes des Sachverständigen Ausschusses vom 7. Juni 1929, dessen französischer und italienischer Text gerade auch von „Garantien“ spricht, aufgehoben werden sollen5. Die Position der Gegner ist in diesem Punkte besonders schlecht, da gerade die in Artikel 430 gemachte Voraussetzung, daß Deutschland Reparationsobstruktion treiben und sich weigern würde, die Gesamtheit oder einzelne der ihm nach dem Versailler Vertrag obliegenden Reparationsverpflichtungen zu erfüllen, im schärfsten Widerspruch zu der genannten Stelle des Sachverständigenberichtes steht, wonach gerade durch die Annahme[936] der von der Deutschen Regierung feierlich übernommenen Verpflichtung sämtliche zur Zeit vorhandenen . . . Garantien . . . ersetzt werden sollen. Diese Besonderheit des Artikels 430 in Verbindung mit seiner steigenden innenpolitischen Bedeutung machen es zur unabweisbaren Notwendigkeit, bei der Pariser Komiteeberatung diesen Artikel in der Form auszuschalten, daß er von den Signatarmächten ausdrücklich als unanwendbar erklärt wird. Damit wären die Schwierigkeiten der formellen Änderung des Versailler Vertrages vermieden. Zu erwägen ist auch, ob nicht, falls die Gegenseite die Unanwendbarkeitserklärung des Artikels 234 des Versailler Vertrages über die periodische Nachprüfung der deutschen Leistungsfähigkeit betreibt, mit dem Eingehen auf den gegnerischen Standpunkt in Sachen des Artikels 234 auch die Unanwendbarkeitserklärung des Artikels 430 erreicht werden kann. Welcher Weg sich im einzelnen empfiehlt, werden die Verhandlungen zeigen. Keinesfalls könnte ich mein Einverständnis damit erklären, daß die Angelegenheit des Artikels 430 durch Annahme einer umschreibenden allgemeinen Formel als erledigt angesehen würde, die nach deutscher Auffassung die Unanwendbarkeit dieses Artikels mit sich bringen würde, ohne daß diese Auffassung gegenüber der Gegenseite ausdrücklich bekundet und von dieser in einer protokollierten Erklärung nachweislich gebilligt worden wäre.

Sollte der Standpunkt der ausdrücklichen Ausschaltung des Artikels 430 bei der Pariser Komiteeberatung sich als zunächst nicht erreichbar erweisen, so würde ich dafür eintreten, daß die deutschen Vertreter in dem 6. Komitee ausdrücklich Verwahrung einlegen und erklären, daß die Regelung dieser Frage alsdann der Schlußkonferenz im Haag vorbehalten bleiben müsse.

Für die durch eine etwaige gegnerische Weigerung im 6. Komitee, in Sachen des Artikels 430 dem unbestreitbaren deutschen Rechtsstandpunkt Rechnung zu tragen, geschaffene Lage behalte ich mir im übrigen meine Stellungnahme in jeder Hinsicht vor.

Das Auswärtige Amt bitte ich noch besonders, die deutschen Bemühungen im 6. Komitee, dessen Beratungen schon am 16. d. M. beginnen, auf diplomatischem Wege unterstützen zu wollen6.

In Vertretung

gez. Schmid

Fußnoten

1

Nach einem Randvermerk befand sich keine Aufzeichnung über diese Sitzung in der Rkei.

2

Siehe Artikel 13 VV.

3

Vgl. Anlage II zu Artikel 243 VV, besonders §§ 17, 18 sowie den Artikel 430.

4

Zur Haltung der Wirtschaftspartei siehe den Bericht über die Tagung ihres Reichsausschusses in Schultheß 1929, S. 166. Von den Initiatoren des Volksbegehrens war der Entwurf eines Gesetzes gegen Versklavung des dt. Volkes am 12.9.29 veröffentlicht worden, vgl. dazu Ursachen und Folgen VII, S. 612 ff.

5

Siehe RGBl. 1930 II, S. 441 .

6

Eine weitere Besprechung zur Sanktionsfrage hat nach Vermerk auf diesem Schreiben am 18. 9. stattgefunden. Eine Niederschrift wurde in R 43 I nicht ermittelt.

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