1.51 (vpa2p): Nr. 180 Rede des Reichsministers des Innern auf dem Jahresbankett des Vereins Berliner Presse am 28. Oktober 1932

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[820] Nr. 180
Rede des Reichsministers des Innern auf dem Jahresbankett des Vereins Berliner Presse am 28. Oktober 19321

R 43 I /2480 , Bl. 272–274 Druck2

[Reichs- und Verfassungsreform]

Es ist mir der Wunsch nahegebracht worden, heute etwas über die im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehenden Fragen der Reichs- und Verfassungsreform zu hören. Dieser Aufforderung komme ich gern nach, obwohl ich mir bewußt bin, Ihnen noch nicht allzuviel Neues sagen zu können. Bisher ist außer den Ausführungen des Herrn Reichskanzlers in seinen verschiedenen Reden3 und meinen Darlegungen am Verfassungstage4 nichts von Regierungsseite bekanntgegeben worden. Alles, was sonst davon zu hören und zu lesen war, sind Mutmaßungen, die je nach der Richtung, aus der sie kamen, eine besondere Färbung trugen. Das bisherige Schweigen der Reichsregierung ist nicht Geheimniskrämerei, sondern hatte gute Gründe.

Die Fragen der Gesamtreform sind so schicksalsschwer und so schwierig, daß sie reiflicher und eingehender Überlegung bis in alle Einzelheiten hinein bedürfen. Sie berühren bedeutsam das Verhältnis zwischen Reich und Ländern auf zahlreichen Gebieten des öffentlichen Lebens, so daß hier eine frühzeitige sorgsame Fühlungnahme zwischen Reich und Ländern erfolgen muß. Ferner ist eine eingehende Abwägung der Folgen jeder Reform für die einzelnen Reichsressorts und durch diese unerläßlich.

Schließlich kommt für den verantwortlich die Feder führenden Reichsminister des Innern noch eine mehr persönliche Erwägung hinzu. Man kann einen Motor noch so genau kennen und ihn oft zerlegt und wieder zusammengesetzt haben, man mag jahrelang im Kraftwagen mitgefahren sein und sich ein allgemeines Urteil über das Fahren gebildet haben, man kann erst dann verantwortlich über alles urteilen, wenn man selbst eine Weile am Steuer gesessen und an ihm seine eigenen Erfahrungen gemacht hat. In dieser Vorbereitungszeit ändert sich für den Bearbeiter der Reform das Bild dieser oder jener Frage im Laufe des Durcharbeitens und Durchdenkens oft von Tag zu Tag. Das ist kein Schwanken und keine Entschlußlosigkeit, sondern eine selbstverständliche Begleiterscheinung pflichtbewußten Arbeitens. Hier handelt es sich nicht um ein[821] rasches Fassen und Durchsetzen politischer Entschlüsse, sondern um sorgsamste Erwägung des Für und Wider in jedem einzelnen Punkte, um nach bestem Wissen und Gewissen das zu finden, was tatsächlich unserem Volke frommt. Hier gilt das Wort Bismarcks, daß man einen Apfel nicht dadurch zum Reifen bringt, daß man eine Lampe darunter hält.

Wollte ein verantwortlicher Staatsmann alle Phasen seiner eigenen Erwägungen, seines eigenen inneren Ringens der Öffentlichkeit bekanntgeben, so würde er, statt selbst im stillen Kämmerlein zur Klarheit zu kommen, Verwirrung stiften, die das Werk gefährdet. Deswegen ist es Pflicht der Reichsregierung, über Einzelheiten ihrer Pläne so lange Zurückhaltung zu bewahren, bis der Entwurf ein fertiges Ganzes aus einem Guß der öffentlichen Kritik und den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt werden kann. Die großen Ziele stehen fest, sie sind ausgesprochen und unterliegen bereits der Erörterung in weiten Kreisen unseres Volkes.

Die Kehrseite dieser nun einmal gebotenen Zurückhaltung ist selbstverständlich eine gewisse Legendenbildung in der Öffentlichkeit. Ich bin aber heute bereits in der Lage, eine Reihe von Mutmaßungen und Bedenken zu widerlegen und zu zerstreuen. Zu diesem Zweck seien einige allgemeine Darlegungen gestattet, bevor ich auf die Hauptfragen der Reform näher eingehe.

Daß die Zustände in Deutschland reformbedürftig sind, wird so allgemein zugegeben, daß ich darüber keine Worte zu verschwenden brauche. Wir sehen, um nur einige Hauptpunkte zu nennen, Mängel im Verhältnis des Reichs zu den Ländern, in der Verwaltung des Reichs, auf dem Gebiet des Finanzausgleichs und in der Verfassung des Reichs. Seit Jahren beschäftigen sich berufene und unberufene Federn mit diesen Dingen. Wir besitzen eine Fülle von Vorarbeiten. Die bekannten Arbeiten sind: Die Ergebnisse der Länderkonferenz5, die sorgsamen Ausarbeitungen des Bundes zur Erneuerung Deutschlands6 und die vor einigen Jahren erschienenen Darlegungen des Geheimrats Hugenberg7. Daneben ist zahlreiches wertvolles Schrifttum aus Kreisen der Wissenschaft und der Praxis vorhanden8. Wir haben uns entschlossen, keine der vorliegenden Lösungen fertig aus der Schublade zu nehmen, so sehr wir den Wert der Vorarbeiten zu schätzen wissen. Wir werden Einzelheiten ihrer Ergebnisse bei unserem Werk dankbar verwenden. Wir sind ferner der Auffassung, daß es nicht Aufgabe des Staatsmannes ist, einer bestimmten staatsrechtlichen Theorie folgerichtig sich anzuschließen und das Werk der Reform von der am besten scheinenden Theorie aus durchzuführen, sondern wir sind der Ansicht, daß der[822] Staatsmann, der die Notwendigkeit der Reform aus der Verantwortung für sein Volk heraus so zwingend empfindet, daß er handeln muß, das praktisch Notwendige und nach Lage der Verhältnisse Erreichbare anzustreben hat und daß er sich der Theorie nur als Hilfsmittel für seine eigenen, dem realen Leben angepaßten Konstruktionen zu bedienen hat. Wir wollen daher unter Benutzung uns zweckmäßig erscheinender Vorschläge anderer einen eigenen Weg gehen. Völlig abwegig wäre es, ausländische Vorbilder auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Das deutsche Volk lebt nach eigenen, geschichtlich gewordenen Gesetzen und bedarf eigener, seiner Eigentümlichkeit angepaßter Lösungen. Die Aufpropfung fremder Reiser auf den deutschen Stamm ist eine der Ursachen des Versagens deutscher Einrichtungen. Mit diesen allgemeinen Erwägungen über die Anwendung von Theorien ist auch die Frage grundsätzlich entschieden, ob etwas völlig Neues an die Stelle der gegenwärtigen Zustände, insbesondere der Weimarer Verfassung, gesetzt werden soll, wie es heute von weiten Kreisen oft stürmisch verlangt wird, die sich der Gefährlichkeit von Experimenten und der Schwierigkeiten, die in ihrer Forderung liegen, nicht immer voll bewußt sind und in der Regel fertig durchdachte Pläne noch nicht besitzen.

Schon Plato verlangt in seinem Idealen Staat von den Führern des Staates neben Weisheit und Mannesmut vor allen Dingen Anwendung gesunder Vernunft, die niemals gegenüber dem Streben nach Neuerungen in den Hintergrund treten darf, wenn für Volk und Staat etwas Vernunftgemäßes geschaffen werden soll. Weisheit wollen wir uns nicht selbst zuerkennen. Darüber läßt sich streiten. Eine Entscheidung wird erst die Geschichte fällen. Aber den guten Willen zu Mannesmut und zu gesunder Vernunft nehmen wir für uns in Anspruch. Wenn wir die Vernunft nur walten lassen, so sagen wir uns, daß unsere Zeit Reformen fordert, daß aber der Zeitpunkt an der Wende zweier geistiger Welten, an dem wir leben, noch nicht der gegebene ist, um umstürzende Neuerungen im Aufbau und im Wirken unseres Staates herbeizuführen. Dazu sind Meinungen und Menschen noch nicht reif, um neue Theorien mit einem Schlag in Wirklichkeit umsetzen zu können. Wir verzichten daher bewußt darauf, etwas völlig Neues an Stelle der gegenwärtigen Einrichtungen zu setzen, und beschränken uns vernunftgemäß auf den Ersatz mangelhafter Einrichtungen durch bessere, wie sie die Erfahrungen der letzten 13 Jahre fordern. Also nicht Neubau, sondern Ausbau des Staates mit dem Ziel, ihn in den Stand zu versetzen, der Not der Zeit besser Herr zu werden, als es ihm bisher vergönnt war. Wenn die Ideen der heranziehenden neuen Zeit eine fühlbare Reife gewonnen haben werden, dann erst wird der Zeitpunkt für Neuerungen kommen, zu deren Verwirklichung unsere Gegenwart noch nicht berufen ist.

Aus dieser Erkenntnis und Selbstbeschränkung folgt, daß wir das Vorhandene ausbauen wollen und daß grundstürzende Neuerungen unterbleiben werden. Das gilt unter anderen Punkten besonders für die Staatsreform.

Ich erinnere an die Worte des Herrn Reichskanzlers am letzten Montag9,[823] die allen noch im Gedächtnis sein werden, und an meine eigene Antrittsrede im Reichsrat, in der ich mich grundsätzlich als Anhänger der monarchischen Idee bekannte, in der ich aber mit Ernst und Nachdruck ablehnte, eine Änderung der Staatsform auch nur zu erwägen!10.

Das gilt auch von dem Gedanken des Einheitsstaates. Wer den Versuch gemacht hat, sich ernsthaft in die Geschichte unseres Volkes zu vertiefen, der lehnt trotz Würdigung aller offenbaren Vorteile eines Einheitsstaates und trotz der Erfahrungen aus neuester Zeit diesen Gedanken ab und bekennt sich zu dem Bundesstaat, der heute ist und der so lange bleiben wird, bis eine überwältigende Volksströmung sein Ende fordert. Von diesem einheitlichen Volkswillen sind wir heute noch weit entfernt. Gegen den tatsächlichen Willen weiter Volkskreise einen Einheitsstaat zu schaffen, heißt im Reiche Kräfte entfesseln, die seinen Bestand sprengen könnten. Es steht daher heute schon fest, daß kein deutsches Land gegen seinen Willen seiner Eigenstaatlichkeit beraubt und einem größeren Reichsgliede zugeteilt werden soll. Es steht ferner fest, daß eine Neueinteilung des Reichs in neue Länder oder Reichsprovinzen nicht in Frage kommt. Auch die Vereinigung der zahlreichen Enklaven auf der Landkarte Deutschlands ist keine vordringliche Angelegenheit. Gewiß ist die Verwaltung der kleinen Länder kostspielig und ist das Bestehen der Enklaven in der Regel störend. Aber das sind gegenüber den großen Aufgaben mehr Schönheitsfehler als schwerwiegende Mängel. Was wir hier brauchen, ist eine friedliche Lösung solcher Unebenheiten durch gegenseitige Vereinbarung, bei der die Reichsregierung erfolgreich den ehrlichen Makler zwischen den Beteiligten spielen kann und will. Nichts ist für Deutschland bei der Eigenart seiner Verhältnisse störender als die Einzwängung widerstrebender Teile in ein einheitliches Schema. Jede Vergewaltigung eines Landes oder Landesteils durch Mehrheitsbeschlüsse[824] würde die Gefahren der Reichsverdrossenheit und des Weiterfressens störender Stoffe im Reichskörper mit sich bringen. Ich bin überzeugt, daß nach Schaffung neuer Reichsglieder unter Beseitigung alter Bindungen neue partikularistische und zentrifugale Kräfte in den neuen Gliedern aufkommen würden. Deswegen halten wir fest an dem bundesstaatlichen Charakter des Reichs und an der Achtung vor seiner Gliederung und suchen aus der Eigenstaatlichkeit der Länder und den ihnen innewohnenden Kräften, die im Heimatboden wurzeln, das Beste für das Gesamtreich zu entwickeln. Wenn das Reich die Rechte und die Mittel besitzt, die es zu einheitlichem schlagkräftigen Auftreten und zur Wahrung der Belange des Gesamtvolks braucht, dann können wir den Ländern das Maß an Eigenleben beruhigt lassen, dessen sie zur Erfüllung ihres eigenen Lebens bedürfen.

Es ist aber eine durch die Erfahrungen langer Jahre erhärtete Tatsache, daß die bisherige Regelung des Verhältnisses zwischen Reich und Preußen dringend der Neuordnung bedarf. Preußen umfaßt drei Fünftel des Reichs. Es erstreckt sich quer durch ganz Deutschland vom Osten bis zum Westen. In seiner Hauptstadt regieren Reich und Staat nebeneinander und zeitweilig auch in Lebensfragen der Gesamtnation gegeneinander. Dieser Zustand ist unhaltbar. Im alten Bismarckschen Reich war Preußen die verfassungsmäßige Präsidialmacht, die Weimarer Verfassung hat diesen Zustand beseitigt und durch die Preisgabe der früheren organischen Verbindungen den gegenwärtigen Zustand geschaffen. Es kam, wie es bei diesem Konstruktionsfehler kommen mußte. Der Zustand, den wir in der Gegenwart erleben, spricht deutlicher als lange staatsrechtliche und politische Ausführungen von der Notwendigkeit der Neuordnung des Verhältnisses Reich–Preußen im Sinne einer organischen Verbindung zwischen beiden. Entsprechend dem bundesstaatlichen Charakter des Gesamtreichs soll die Eigenstaatlichkeit Preußens nicht weiter angetastet werden, als das Reichsinteresse erfordert, das ein möglichst reibungsloses Zusammenarbeiten verlangt. Ich darf in diesem Zusammenhang ein Wort einflechten über die heutige Lage. Das Reich hat, wie der Staatsgerichtshof soeben in seinem Urteil vom 25. Oktober11 anerkannt hat, auf einwandfreier Rechtsgrundlage nach pflichtgemäßem Ermessen die Regierung Preußens vorübergehend in die Hand eines Reichskommissars gelegt. Aus der Konstruktion der Weimarer Verfassung hat nun der Staatsgerichtshof juristisch die Folgerung gezogen, daß die eigene Willensbildung des preußischen Staats gegenüber dem Reich und den eigenen parlamentarischen Körperschaften in der Hand der von den übrigen Staatsgeschäften enthobenen bisherigen Regierung bleiben muß. Wer versucht, die Dinge vom praktischen Standpunkt, des Reichskommissars einerseits und der bisherigen preußischen Regierung andererseits, zu durchdenken, der kommt zu der zwingenden Erkenntnis, daß die versuchte Lösung sehr schwer durchführbar ist und daß sie den Keim zu neuen unfruchtbaren Auseinandersetzungen in sich trägt. Das Urteil weist aber selbst darauf hin, daß der Herr Reichspräsident unter bestimmten Voraussetzungen die Maßregeln treffen kann, die zur Erzielung einer einheitlichen Politik im Reich und in Preußen notwendig erscheinen. Unter diesen[825] Verhältnissen hat die Reichsregierung die doppelte Pflicht, sowohl den in Preußen beschrittenen Weg folgerichtig und ohne Schwanken weiterzugehen, als auch alle Kraft daran zu setzen, die Reichs- und Verfassungsreform rasch zu einer gedeihlichen Lösung zu führen12.

Die Lage am heutigen Tage beleuchtet die Notwendigkeit einer sachgemäßen, organischen und verfassungsmäßigen Regelung des Verhältnisses Reich-Preußen mit besonderer Schärfe. Preußen soll dabei – wie bereits gesagt – seine Eigenstaatlichkeit nicht aufgeben, aber es soll als einziges deutsches Land in ein engeres Verhältnis zum Reich treten. Seine eigenstaatliche Willensbildung gegenüber dem Reich soll nicht ausgeschaltet, sondern so organisiert werden, daß Meinungsverschiedenheiten einen brauchbaren Ausgleich von Kabinett zu Kabinett finden können. Über die Art dieser nicht schematisch von Ressort zu Ressort zu ziehenden Querverbindungen sind die Erwägungen noch nicht völlig abgeschlossen. Das neue Verhältnis Reich–Preußen ist in den beiden Verfassungen gleichmäßig zu verankern. Die übrigen Länder sind dabei vor einer Majorität und sonstiger Benachteiligung zu schützen.

Stellt man sich bewußt und aus Überzeugung auf den Boden einer bundesstaatlichen Verfassung Deutschlands, so kann die Reform sich nicht auf einige Artikel der Reichsverfassung und die Regelung des Verhältnisses Reich–Preußen mit ihren sonstigen Folgen beschränken, sondern sie muß sich zu einer über den Rahmen der Verfassung hinausgehenden Neuordnung auswachsen. Die Entwicklung seit Weimar hat praktisch zu einer übertriebenen Zentralisation vieler Verwaltungszweige in Berlin geführt und damit Entscheidungen an die falsche Stelle gelegt. Entscheidungen gehören dorthin, wo Kenntnis der örtlichen Verhältnisse, insbesondere der Menschen, um derentwillen nur verwaltet werden sollte, nicht um der Existenz der Zentralinstanzen willen, auch tatsächlich vorhanden ist. Die bisherige Entwicklung ist zum Teil begründet in dem Streben der Reichsinstanzen, alle Materien allmählich an sich zu ziehen und über die Grundsatzgesetzgebung hinaus bis in Einzelheiten zu regeln, zum anderen Teile in der seit langen Jahren schwer empfundenen Regelung des Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Notwendig ist eine starke Verlagerung der Aufgaben auf Länder und Gemeinden sowie eine Änderung des Finanzausgleichs mit dem Ziel, daß Länder und Gemeinden wieder die Aufgaben selbständig übernehmen und durchführen können, zu deren Erfüllung bisher Mittel vom Reich erbeten werden mußten und deren Gewährung durch das Reich dann eine Mitwirkung des finanziell nunmehr mitverantwortlich gewordenen Reiches erforderte. Verlagerung der Finanzbeschaffung, der Entscheidung und der Verantwortung von oben nach unten tun hier not. Diese Dinge lassen sich außerhalb der Verfassung ändern, sobald man nur den Willen hat, sie einmal systematisch anzupacken und von der Reichsverwaltung alles abzuschneiden, was nicht unbedingt zur obersten Leitung und zur Erfüllung der Reichsaufgaben gehört. Dieser Wille ist vorhanden, die Verhandlungen mit den Ländern sind angebahnt. Die Einheitlichkeit des Reiches in lebensnotwendigen Dingen braucht darunter nicht zu leiden.

[826] In diesen programmatischen Sätzen ist bereits die Vereinfachung der gesamten Reichsverwaltung grundsätzlich mitenthalten. Die Vorarbeiten für die Aufhebung entbehrlich werdender Reichsbehörden sind abgeschlossen. In Kürze werden die Änderungen bekanntgegeben werden können. Sie beziehen sich zunächst auf einen Abbau entbehrlicher Behörden der Finanz- und Postverwaltung. Die Vereinfachung der Sozialbehörden ist in Arbeit. Die Verringerung des Umfangs der Reichsministerien und der Abbau ihres Aufgabenkreises sind eingeleitet. Wenn diesem oder jenem das Tempo der Reformen zu schleppend erscheint, so muß darauf hingewiesen werden, daß auch hier ohne Übereilungen der ruhigen Vernunft ihr Recht zu geben ist und daß diese Reformen neben anderen dringenden Tagesaufgaben ein großes Maß von Arbeit immer nur einigen wenigen Menschen aufbürden, deren physischer Kraft auch allgemein menschliche Schranken gesetzt sind.

Schließlich ein Wort zu der eigentlichen Verwaltungsreform, von der bisher nur das Verhältnis zwischen Reich und Ländern erwähnt werden konnte. Der Wille der Reichsregierung zu einer Reform hat verschiedene Vermutungen und Befürchtungen ausgelöst, die durchaus gegenstandslos sind. Der schwerste Verdacht gegen die Absichten der Reichsregierung war die Behauptung, daß die Regierung sich eine Verfassung auf den Leib schreiben wolle, die ihr ein ewiges Fortbestehen gewährleisten und einer hauchdünnen Herrenschicht die Macht in die Hand spielen wolle unter Herabdrückung der Rechte des Volkes, insbesondere der deutschen Arbeiter. Solche Behauptungen sind nur erklärbar aus der allgemeinen Nervosität, mit der in dieser Notzeit auf wahre und unwahre Gerüchte von allen Volkskreisen reagiert wird, und aus der tief beklagenswerten politischen Verhetzung in unserem Volk. Wir haben die Regierung übernommen, berufen aus dem Vertrauen des Herrn Reichspräsidenten und lediglich getrieben von dem einen Willen, unsere Verantwortung vor unserem Volke zu erfüllen, indem wir dem Gesamtvolk dienen, und zwar allen seinen Teilen. Wir würden unsere Pflicht gröblich verletzen, wenn wir die Verfassungsreform unter dem Gesichtswinkel einseitiger Vertretung von Staatsinteressen oder Berufs- und Wirtschatszweigen führen wollten. In der Verfassung ist nur Raum für den deutschen Menschen schlechthin, nicht für irgendwelche privilegierten Klassen.

Mit sehr vielen anderen deutschen Staatsbürgern sehen wir aber die tatsächlich vorhandenen Mängel der Verfassung so deutlich, daß uns die Pflicht gebietet, an ihrer Beseitigung zu arbeiten. Wir sehen den ersten Mangel in einem überspitzten Parlamentarismus. Entscheidungen von ungeheurer Tragweite können heute abhängen von einer Zufallsmehrheit, ohne daß es ein wirksames Gegenmittel gegen diese Entscheidung gibt. Hier muß eine Sicherung eingebaut werden, welche zuverlässig arbeitet. Sie kann im Ausbau der Rechte des Reichsrats oder im Einbau einer berufsständischen Kammer in die Konstruktion der Volksvertretung oder in einer Mischung von beiden bestehen13. Welchen[827] Weg wir dem Volke empfehlen können und werden, muß heute noch offen bleiben, da die Vorarbeiten noch nicht abgeschlossen sind.

Jeder Versuch, auf längere Sicht und folgerichtig in Deutschland etwas zu schaffen, ist bisher an dem ständigen Wechsel der Regierungen gescheitert, die mitten in der Arbeit infolge von Mißtrauensvoten oder parlamentarischen Krisen abtreten mußten. Dieser Zustand ist in gewöhnlichen Zeiten bereits für die ruhige Entwicklung Deutschlands hemmend; er ist in Notzeiten untragbar. Deswegen müssen durch Abänderung des Artikels 54 der Reichsverfassung14 Hemmungen eingebaut und der Gedanke einer gesicherten, vom Parteigetriebe unabhängigen Regierungsgewalt durchgesetzt werden. Wer hierbei von einer Minderung der Volksrechte spricht, sollte nicht vergessen, daß Leben und Zukunft der Nation höher stehen müssen als Rechte, deren Kehrseite aus der Geschichte der letzten Jahre deutlich erkennbar geworden ist. Die Vorlage der Reichsregierung wird nach sorgfältigen Erwägungen entsprechende Vorschriften enthalten, die nach Möglichkeit das Recht des Reichstags nicht unnötig einengen sollen. Eine Reform in dieser Richtung wird das beste Mittel sein, um künftig allzu häufige Reichstagsauflösungen zu vermeiden.

Schließlich sollen Änderungen der Wahlrechtsbestimmungen in der Verfassung und des Wahlgesetzes vorgeschlagen werden. Völlig abwegig ist der Gedanke, die Regierung plane eine Aufhebung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zum Reichstag oder gar die Aufhebung des Stimmrechts der Frauen und Ersetzung dieser Wahlbestimmungen durch Einführung eines Zensus. Wir halten es aber für richtig, das aktive und passive Wahlalter um etwa fünf Jahre heraufzusetzen und den selbständigen Familienernährern, gleichviel ob Mann oder Frau, und den Kriegsteilnehmern eine Zusatzstimme zu gewähren, welche die Bedeutung der Familienernährer für unser Volk unterstreicht und den Kriegsteilnehmern den Dank des Vaterlandes zum Ausdruck bringt. Weitere Mängel, wie das Auftreten kleinster Splitterparteien und die Auswüchse des Listenwahlrechts, sollen bei dieser Gelegenheit beseitigt werden.

Alle diese Gedanken über Reichs- und Verwaltungsreform werden mit Ernst und Eifer, aber mit der notwendigen Vorsicht und Ruhe von uns bearbeitet. Wir hoffen, dem Reichsrat und dem neuen Reichstag nach seinem Zusammentritt und damit der Öffentlichkeit ein fertiges Programm unterbreiten zu können. Wir rechnen zuversichtlich damit, daß Länder und Volksvertretung die[828] Notwendigkeit dieser Reformen nicht nur theoretisch anerkennen, sondern daß sie ehrlich bereit werden, an dieser großen Aufgabe mitzuarbeiten. Die Art des Vorgehens der Reichsregierung auf diesem Gebiet hängt von der innerpolitischen Entwicklung der nächsten Wochen und Monate ab. Darüber aber kann kein Zweifel herrschen, daß die Reichsregierung die von ihr klar erkannte und tief empfundene Pflicht zur Reform niemals aufgeben wird. Es geht hier nicht darum, eigene Anschauungen über den Staat und seine Verfassung durchzusetzen, es geht um Lebensfragen der Nation, um die Zukunft unseres Volkes! Man mag uns und unsere Maßnahmen kritisieren, man mag uns Beweggründe unterschieben, wie man will, uns leitet einzig und allein das Gefühl der Verantwortung vor unserem Volk, und diese Verantwortung zwingt uns zur Reichsreform. An die deutsche Presse und besonders an Sie, meine verehrten Herren, richte ich die Bitte: Erkennen Sie die Notwendigkeiten und die Schwere unserer Verantwortung und arbeiten Sie mit! Es geht um Deutschland!

Fußnoten

1

Nach WTB (vgl. Anm 2) waren auf dem „Jahresbankett zu Ehren der Reichsregierung“ in den „Räumen des Zoo“ erschienen: RK v. Papen und die RM v. Neurath, Gürtner, v. Braun, Schäffer; RKomPrIMin. Bracht; RbkPräs. Luther; zahlreiche Staatssekretäre und höhere Ministerialbeamte; Vertreter der Länder; namhafte Rechtsgelehrte und führende Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft.

2

WTB Nr. 2302 vom 28.10.32. – Das Manuskript der Rede befindet sich in NL Gayl  37, Bl. 64–88. Es stimmt mit der durch WTB verbreiteten Fassung überein.

3

Hierzu vgl. Dok. Nr. 135; 166 und 171.

4

Zur Verfassungsrede des RIM (11. 8.) s. Anm 38 zu Dok. Nr. 46 sowie Anm 4, 5 und 13 zu Dok. Nr. 108.

5

Über Verlauf und Ergebnis der Länderkonferenz zur Beratung der Verfassungs- und Verwaltungsreform (Jan. 1928 in der Rkei) s. Länderkonferenz am 16., 17. und 18. Januar 1928 im Kongreßsaal des Reichskanzlerhauses. Reichsdruckerei, Berlin 1928; Biewer, Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik, S. 117 ff. Vgl. auch diese Edition: Die Kabinette Marx III/IV, Dok. Nr. 394398.

6

Näheres über den am 8.1.28 gegr. Bund (auch häufig als „Lutherbund“ bezeichnet; Vorsitzende: RK a. D. Luther bis März 1930, Graf Roedern bis Herbst 1931, dann RWeM a. D. Geßler) und seine Schriften (u. a. Reich und Länder, Berlin 1928) s. bei Biewer, a.a.O., S. 109 ff. und 203.

7

Ausführungen Hugenbergs zur Reichs- und Verfassungsreform finden sich an verschiedenen Stellen seiner im Jahre 1927 veröffentlichten Reden- und Aufsatzsammlung: Streiflichter aus Vergangenheit und Gegenwart, s. dort insbes. S. 20 ff.

8

Hierzu vgl. auch die Denkschrift Goerdelers vom 8.8.32 (Dok. Nr. 97).

9

Gemeint ist vermutlich die Rede des RK vor den Obermeistern des Berliner und Märkischen Handwerks vom 24. 10., in der er die „Versteinerung unseres Parteiwesens“ beklagt und zur geplanten Verfassungsreform ausgeführt hatte: Man werde „den politischen Verhältnissen keine feste und dauernde Gestalt geben können, wenn man nicht die Fehler beseitigt, die unsere Verfassung in den letzten 13 Jahren gezeigt hat. Eine Verfassung soll dem Volkswillen die Wege weisen zur verantwortlichen Mitarbeit an der Leitung der Geschicke von Staat und Volk. Der Wille des Volkes kann aber in einem Reichstag keinen Ausdruck finden, der nur einig ist in der Verneinung. Deshalb muß das Volk befähigt werden, seinen Willen nicht nur durch den Reichstag, sondern auch durch seine anderen Vertretungen geltend zu machen: zu ihnen gehören die Berufsvertretungen, die von ihm selbst geschaffenen Organisationen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. In ihnen lebt doch auch der Wille des Volkes, der Wille zur sachlichen Arbeit, nicht zur politischen Phrase. Sie gehören deshalb zu den Trägern des neuen Volksstaates.“ Außerdem hatte er unter Hinweis auf das „Geschrei von der bevorstehenden Restauration der Monarchie in Deutschland“ betont: „Wir haben eine solche Fülle von Problemen zu lösen, daß wir froh sind, uns nicht auch noch um Fragen der Staatsform sorgen zu müssen. Die Frage steht nicht zur Debatte.“ (WTB-Bericht Nr. 2269 in R 43 I /2016 , Bl. 182–186.)

10

Gayl in seiner Antrittsrede im RR am 9.6.32 u. a.: Das „Gerede von einer geplanten Änderung der Verfassung in der Richtung der Wiederaufrichtung der Monarchie ist ein törichtes und darum für Deutschland schädliches Geschwätz“. Zwar halte er die Monarchie für die „angemessenste Staatsreform für ein Volk inmitten des Herzens von Europa“, doch denke er „als Verfassungsminister nicht daran, unser Volk durch Aufrollung der Frage der Staatsreform in neue Verwirrung zu bringen und ich verbitte mir deutlich jeden Zweifel an meine in die Hand des Reichspräsidenten gelobte Verfassungstreue“ (Schultheß 1932, S. 103). – Ganz ähnlich äußerte sich auch v. Papen in einem Interview mit Walther Schotte: Seine Freunde und er hätten „nie einen Hehl daraus gemacht, daß wir unserer inneren Überzeugung nach Monarchisten sind. Aber wir würden es für ein Verbrechen halten, wenn man die Frage der Staatsform jetzt aufgreifen wollte. Monarchie oder Republik, so wichtig diese Entscheidung vom weltanschaulichen Standpunkt aus sein mag, sie ist jetzt nicht die Hauptsorge des deutschen Volkes.“ (Schotte, Der neue Staat, S. 37).

11

Vgl. Anm 2 zu Dok. Nr. 177.

12

Hierzu und zum Folgenden die in der Ministerbesprechung vom gleichen Tage beschlossenen Maßnahmen (Dok. Nr. 179, P. 4).

13

In diesem Zusammenhang RK v. Papen in einem Interview mit Schotte u. a.: „Ohne eine zweite Kammer werden wir nicht zur Ruhe kommen. Die Antinomie zwischen Regierung und Volksvertretung muß einmal beseitigt werden. Wir können das beste Wahlrecht von der Welt haben, wir können auch durch eine Verfassungsänderung die Regierung von den Mißtrauensvoten einer Zufallsmehrheit des Reichstags unabhängig machen – alles das wird nicht genügen, zweierlei zu erreichen, nämlich: die innere Unabhängigkeit der Regierung auf der einen und die moralische Stabilität des Parlamentarismus auf der anderen Seite, welche in meinen Augen ebenso wichtig ist als die Freimachung der Regierung zu verantwortlichem Handeln.“ Und weiter: „Wir müssen ein korrektives, ein der Stabilität der Verhältnisse dienendes Element einschalten. Das ist die zweite Kammer, die aus berufenen, also unabhängigen Menschen zusammengesetzt, doch mit parlamentarischen Rechten ausgestattet ist und für den Ausgleich sorgt, für den Ausgleich zwischen Volksvertretung und Regierung sorgt, und gleichzeitig dafür sorgt, daß die Rechte der Volksvertretung nicht verkürzt werden.“ (Schotte, Der neue Staat, S. 68 ff.).

14

Art. 54 RV: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“

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