1.6 (vsc1p): Das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Regierung v. Schleicher

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Das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Regierung v. Schleicher

Der neue Reichskommissar sah es als seine Aufgabe an, alle Maßnahmen auf dem Gebiet der Arbeitsbeschaffung zu vereinheitlichen und zu beschleunigen, wobei er für Projekte der öffentlichen Hand, die landwirtschaftliche Siedlung und Osthilfe, den Wohnungsbau, die Stadtrandsiedlung und den Freiwilligen Arbeitsdienst zuständig sein wollte77. Damit drohte er in die Kompetenzen verschiedener Ressorts massiv einzugreifen. Nach Rücksprachen im Kabinett[XXXVIII] gestand man ihm die Errichtung einer personell und materiell bescheiden ausgestatteten Koordinierungsstelle zu. Seine Aufgaben sollte er „im Benehmen mit den zuständigen Reichsministerien“ wahrnehmen. Ihm wurde ein aus Mitgliedern der Reichsregierung bestehender Ausschuß an die Seite gestellt, der unter Vorsitz des Reichskanzlers die „Richtlinien zur Durchführung der Arbeitsbeschaffung“ zu beschließen hatte. Die Behandlung grundsätzlicher Fragen der ländlichen Siedlung wurde zwar aus dem Reichsernährungsministerium herausgelöst, aber gleichfalls nicht der alleinigen Entscheidungsbefugnis des Reichskommissars, sondern einem weiteren Regierungsausschuß unter Vorsitz des Reichsernährungsministers unterstellt. Das Gebiet des Arbeitsdienstes verblieb beim Reichsarbeitsminister; die Entscheidung über die Arbeitsprojekte der Organisation sollte allerdings dem Reichskommissar zustehen. Damit waren, kaum daß das Amt des Reichskommissars am 15. Dezember de jure aus der Taufe gehoben worden war78, der großzügigen Ausgestaltung eines neuen Arbeitsbeschaffungsprogramms durch eine arge Kompetenzbegrenzung seines Initiators enge Grenzen gezogen.

Hatte Gereke bereits in der Organisationsfrage die Ressortegoismen herausgefordert, rührte er in den Besprechungen über Art, Umfang und Finanzierung der staatlichen Eingriffe in den Arbeitsmarkt an die kabinettsintern bislang nicht hinreichend entschiedene wirtschaftstheoretische Frage nach dem Stellenwert der Arbeitsbeschaffungspolitik. Gereke trug vor, daß er das „Papen-Programm“ mit einem Volumen von 2,7 Mrd RM, dem die Massenarbeitslosigkeit nur sehr zögernd nachgab, in seinem Sinne aus- und umbauen wolle79. Um den Beginn öffentlicher Auftragsvergaben nicht durch überlange Planungsfristen zu verzögern, schlug er vor, ein noch im Winter greifendes „Sofortprogramm“ öffentlicher Arbeiten in Höhe von 600 Mio RM unverzüglich in Gang zu setzen. Das umstrittene Mehrbeschäftigungsprämiensystem solle baldmöglichst abgebaut werden, um auf diese Weise den Kreditspielraum für die geplanten und noch weitere direkte Arbeitsbeschaffungsvorhaben zu vergrößern.

In der Auseinandersetzung um dieses „Sofortprogramm“ standen sich Reichskanzler, Reichskommissar, Reichsminister und Reichsbankführung in wechselnder Frontstellung gegenüber. Reichsbankpräsident Luther und sein Vizepräsident Dreyse sahen von der unmittelbaren Arbeitsbeschaffung Preissteigerungs- und Inflationsgefahren ausgehen. Sie drängten deshalb auf eine raschere Abrufung der bislang im Rahmen der Steuergutscheinaktion für mittelbare Arbeitsbeschaffung bereitgestellten Mittel des „Papen-Programms“. Soweit sich diese Finanzierungsinstrumente als ineffektiv erwiesen hätten, wäre die Reichsbank zur Umschichtung des Mehrbeschäftigungsprämienfonds zu Gunsten des „Sofortprogramms“ bereit. Hierin trafen sich Reichsbank und Gereke80. Der Arbeitsbeschaffungsausschuß des Kabinetts – einschließlich des Kanzlers –[XXXIX] beharrte jedoch „sehr entschieden (…) aus politischen und psychologischen Gründen“ auf der Beibehaltung der ursprünglichen Subventionsmaßnahme81. Die von Gereke vorgesehene Finanzierung seiner Vorhaben über Wechselkredite hatte Luther dagegen bereits früher als „gefährlich“ angesehen; er bezeichnete sie auch jetzt noch als eine „Finanzierung ins Blaue hinein“82. Indem er solchermaßen die Inflationsfurcht der Gegner des Reichskommissars innerhalb und außerhalb des Reichskabinetts beschwor, konnte er mit Erfolg das Volumen des Gerekeschen „Sofortprogramms“ auf 500 Mio RM begrenzen und eine großzügige Propagierung weiterer unmittelbarer Arbeitsbeschaffungsvorhaben, wie Gereke sie plante, unterbinden83. Wie zu erwarten, waren es vor allem Reichswirtschaftsminister Warmbold und Reichsfinanzminister v. Krosigk, die Verständnis für Luthers restriktiven Kurs äußerten84. Einen partiellen Erfolg konnte Gereke, darin unterstützt von Reichsminister Popitz, mit seiner Forderung erzielen, die Gemeinden und Gemeindeverbände als Träger öffentlicher Arbeiten in die Arbeitsbeschaffung einzubeziehen. Die Sanierung der durch Überbeanspruchung vor dem Zusammenbruch stehenden Kommunalhaushalte war seiner Ansicht nach nur durch die Verringerung der gemeindlichen Fürsorgeleistungen für Wohlfahrts- und Krisenunterstützungsempfänger im Rahmen seines Programms möglich85. Popitz regte sogar an, die Gunst der Stunde als „Absprung für den Umbau“ des gesamten Arbeitslosenversicherungs- und Fürsorgesystems zu nutzen und das einen Versicherungsanspruch begründende Beitragswesen durch Steuern zu ersetzen86. Obwohl er sich damit in Widerspruch zu Schleichers Garantieerklärung für das Sozialversicherungsprinzip setzte, gab er doch den Anstoß für ein konzeptionelles Überdenken der Organisation und Finanzierung der Arbeitslosenunterstützung. Eine Entscheidung dieser Frage, in der der Reichskanzler bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern sondieren wollte, wurde von der Reichsregierung im Laufe ihrer kurzen Amtszeit nicht getroffen87. Gerekes Wunsch, den Gemeinden entsprechend einer wiederholten Forderung des Deutschen Städtetages88 für ihre Projekte direkter Arbeitsbeschaffung zinslose Kredite einzuräumen, fand gegen den Protest des Reichsfinanzministers mit gewissen Einschränkungen die Zustimmung des Ministerausschusses89.

Damit war der Rahmen für die arbeitsmarktpolitische Initiative der Regierung v. Schleicher abgesteckt. Die Weiterführung derjenigen Teilbereiche des „Papen-Programms“, die der Belebung der wirtschaftlichen Privatinitiative dienen sollten, war zwar nicht aufgegeben, stand aber nicht mehr im Zentrum des konjunkturfördernden Maßnahmenpakets. Entsprechend erläuterte Reichskommissar[XL] Gereke im Auftrag des Reichskanzlers in der traditionellen Weihnachtsansprache der Reichsregierung das in zwei Teile zerfallende Arbeitsbeschaffungsvorhaben zum einen als Ausbau des „Papen-Programms“, zum andern als dessen Ergänzung durch das sog. „Sofortprogramm“90. Ausgehend von der Beobachtung, daß die Sachausgaben in den öffentlichen Haushalten im Haushaltsjahr 1929/30 insgesamt 7,6 Mrd. RM ausmachten, 1932/33 aber nur noch 4,1 Mrd RM und gleichzeitig die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland von 1,5 auf mehr als 5,5 Millionen gestiegen sei, gelte es, die öffentlichen Investitionsleistungen wieder zu steigern. Gerade die Privatwirtschaft müsse ein Interesse daran haben, wieder wie früher von dem größten Auftraggeber, der öffentlichen Hand, Aufträge zu erhalten. Dafür stünden, nachdem in nachfolgenden Ressort- und Ausschußberatungen die Modalitäten festgelegt worden waren, Reich, Ländern und Gemeinden als Trägern öffentlicher Arbeiten langfristige Darlehen zu günstigen Tilgungsbedingungen für volkswirtschaftlich notwendige, zusätzliche und möglichst noch im Jahr 1933 zu beendende Bauarbeiten und Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung. Als Ausführende sollten mittlere und kleinere Unternehmen bevorzugt berücksichtigt und ihr Gewinn „auf ein möglichst geringes Maß“ beschränkt werden. Die Arbeitnehmer, vor allem langfristig Erwerbslose und Kinderreiche, sollten wieder tariflich entlohnt und nicht mehr als 40 Stunden wöchentlich beschäftigt werden. Die Finanzierung des erst mit dem letzten Kabinettsbeschluß der Regierung v. Schleicher am 28. Januar 1933 auf 500 Mio RM fixierten Programms erfolgte außerhalb des eigentlichen staatlichen Etat-Bereichs durch verkappte Geldschöpfung mit Hilfe bei der Reichsbank diskontfähiger öffentlicher Wechsel91.

Eingebettet war das „Sofortprogramm“ in ein Netzwerk ergänzender Maßnahmen. Mit der Modifizierung der Hauszinssteuer, der Erhöhung der Reichszuschüsse für die Instandsetzung und Teilung von Altbauten, der Förderung der Stadtrandsiedlung, Reichsbürgschaften für den Eigenheimbau und der Fortsetzung der ländlichen Siedlung wurden zusätzliche beschäftigungswirksame Impulse gesetzt; mit dem Ausbau des Freiwilligen Arbeitsdienstes, der Ende 1932 etwa 242 000 Arbeitsdienstwillige beschäftigte, und der Bereitstellung von 9 Mio RM aus laufenden Haushaltsmitteln für die berufliche, sportliche und geistige Betreuung der 1,3 Millionen jugendlichen Arbeitslosen im Rahmen eines „Jugendnotwerks“ wurden weitere sozialpolitische Ziele verfolgt92.

Dies alles konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß v. Schleicher und Gereke der große Durchbruch in der Arbeitsbeschaffungsfrage nicht gelungen war. Der Reichskanzler hatte das Reichskabinett nur auf einen Minimalkonsens über die sozial- und konjunkturpolitisch einzuschlagende Linie verpflichten können. Die Reichsbank behauptete weitgehend ihre währungspolitische Autonomie. Die in den Arbeitsbeschaffungskomplex hineinreichenden kabinettsinternen Differenzen zwischen dem Reichsernährungs- und dem Reichswirtschaftsminister[XLI] über den Stellenwert einzelner Vorhaben, zwischen dem Reichsarbeits-, Reichsverkehrs- und Reichsfinanzminister über Finanzierungsprobleme, die Auseinandersetzungen mit den Ländern über Kompetenzabgrenzungen bei der Auftragsvergabe wurden vom Reichskanzler kaum durch einen seiner Zielvorgabe entsprechenden Einsatz seiner Richtlinienkomeptenz zugunsten Gerekes unterbunden93. Lediglich im Fall des seine Kritik offen aussprechenden Reichskommissars für Preisüberwachung Goerdeler, der von dem mit der direkten Arbeitsbeschaffung verbundenen Nachfrageschub inflationäre Tendenzen ausgehen sah, wurde zügig mit einem positiven Bescheid auf dessen Entlassungsgesuch reagiert94. Auch dies zeigt an, daß der dem Kanzler innerhalb und außerhalb des Kabinetts zur Verfügung stehende Handlungsspielraum ihm nur eine Politik der Diagonale erlaubt zu haben scheint. – Mit Entschiedenheit angewendet wurden die in ihrer Zweckbestimmung allerdings wesentlich geänderten und in ihrem Instrumentarium erweiterten Arbeitsbeschaffungsprogramme der letzten Weimarer Präsidialregierungen erst in der Regierungszeit Adolf Hitlers.

Fußnoten

77

Hierzu sowie zum Folgenden Dok. Nr. 15. – Zum Gesamtzusammenhang vgl. Günther Gereke: Ich war königlich-preußischer Landrat.

78

Dok. Nr. 24, P. 5.

79

Hierzu sowie zum Folgenden Dok. Nr. 3; 13; 30; 34.

80

Dok. Nr. 3; 32; vgl. auch Dok. Nr. 8; 12; 13; 17.

81

Dok. Nr. 30.

82

Dok. Nr. 13; 32; vgl. Hans Luther: Vor dem Abgrund. S. 299.

83

Dok. Nr. 30; 32; 34.

84

Dok. Nr. 13; 32; 34.

85

Vgl. Dok. Nr. 2; 3; 13; 36.

86

Dok. Nr. 3; vgl. auch Dok. Nr. 2, insbesondere Anm. 8; 17.

87

Dok. Nr. 61.

88

Dok. Nr. 2.

89

Dok. Nr. 30.

90

Dok. Nr. 36.

91

Dok. Nr. 71, P. 2; vgl. Dok. Nr. 30; 32; 34; 44 und 67, Anm. 1.

92

Dok. Nr. 8; 12; 36; 67, P. 2 und 3.

93

Dok. Nr. 15; 26, P. 2; 30; 34; 44; 67, P. 1, , 2 und 369.

94

Dok. Nr. 29.

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