1.5 (wir1p): V Außenpolitik

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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V Außenpolitik

1. Deutsch-russische Beziehungen

Reparations- und Außenpolitik gaben dem Auswärtigen Amt sehr häufig Gelegenheit, das Kabinett zu informieren und seine Entscheidungen herbeizuführen. Über die Verhandlungen des Friedensvertrages mit den Vereinigten Staaten etwa trug Rosen dem Kabinett minuziös vor, und das Kabinett diskutierte[LXII] nicht nur die zu treffenden Entscheidungen, sondern leistete darüber hinaus mehrfach Redaktionsarbeit für den Notenwechsel.

Demgegenüber fällt auf, daß die Entwicklung der für die Regierung Wirth zweifellos bedeutenden deutsch-russischen Beziehungen im Kabinett nur sehr sparsam zur Sprache kam. Rein routinemäßig verabschiedete es gleich zu Beginn den Gesetzentwurf betreffend das deutsch-russische Ergänzungsabkommen über die Heimschaffung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten308. Die Tatsache, daß dieses und ein weiteres Abkommen, das die bisherigen Fürsorgestellen zu Handelsvertretungen erweiterte, am 6. Mai 1921 ohne die wegen sachlicher Bedenken ausdrücklich vorbehaltene Genehmigung des Reichspräsidenten von der deutschen Regierung gezeichnet worden war und der Umstand, daß der Reichspräsident um Aufklärung dieses Vorfalls gebeten hatte, kamen dabei nicht zur Sprache309.

Für die Unterbringung der neugegründeten sowjetischen Handelsvertretung war wieder eine Beschlußfassung im Kabinett notwendig310. In innerpolitischer Auseinandersetzung um die neuerrichtete russische Handelsvertretung verteidigte der Reichskanzler dem Vertreter Bayerns gegenüber den eingeschlagenen Weg mit dem Hinweis auf wirtschaftliche Notwendigkeiten311.

Jedoch erst mit der Vorbereitung der Konferenz von Genua wurden auch die deutsch-russischen Beziehungen in gewissem Umfang auf höchster Ebene erörtert: in dem Ministerrat vom 5. April 1922 hatte Rathenau gleich zu Beginn darauf verwiesen, daß hier voraussichtlich die Frage des Wiederaufbaus Rußlands in den Vordergrund treten werde312. Im Verlauf der Sitzung unterrichtete er das Kabinett auch über eine Stellungnahme Radeks zu dem im Londoner Memorandum vorgesehenen Syndikat, ohne daß allerdings weitere Einzelheiten über die Kontakte des Auswärtigen Amts mit der nach Genua reisenden russischen Delegation bekannt wurden313. Nachdem er die grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft der Sowjets betont hatte, präzisierte Rathenau die deutsche Haltung: „Wieweit wir Rußland unterstützen würden, hänge vom Maß seines Entgegenkommens ab. Ihm sei der Beitritt zum Versailler Vertrag vorbehalten. Hierüber würden wir uns mit Rußland einigen, müßten aber vermeiden, durch diese Einigung mit den Westmächten in einen Konflikt zu kommen314.“ Wenige Tage vor diesen Mitteilungen war ein Kabinettsbeschluß ergangen, der Sowjetvertretung das ehemalige Botschaftsgebäude Unter den Linden wieder zuzuteilen315.

Erst nach Abschluß des Rapallovertrages, dessen Zustandekommen in den Akten der Reichskanzlei ebensowenig dokumentiert ist wie sein Inhalt316, werden die deutsch-russischen Beziehungen wieder auf Ministerebene – nämlich[LXIII] in der Delegation in Genua und in der Reichsregierung in Berlin – diskutiert: doch sowohl in Genua als auch in Berlin war man stärker an der politischen Wirkung des Vertrages als an seinem materiellen Inhalt interessiert317.

Sowohl innerhalb der deutschen Delegation als auch zwischen Delegation und den Berliner Regierungsmitgliedern ergaben sich Spannungen, einmal wegen des raschen, ohne weitere Fühlungnahme vollzogenen Vertragsabschlusses durch die Verantwortlichen Wirth und Rathenau, zum anderen wegen seines Zeitpunktes, der Rückwirkungen auf das Konferenzergebnis von Genua befürchten ließ.

In Genua war es Hermes, der den Abschluß des Vertrages als nicht im Kabinett beschlossen kritisierte und eine Beseitigung seiner Auswirkungen, insbesondere auf finanz- und reparationspolitischen Gebieten der Konferenz forderte. Es genüge nicht, den Russenvertrag in der Tasche zu haben, die Delegation müsse auch einen Fonds von Vertrauen bei den Alliierten für die Reparationsfrage mit nach Hause bringen können. Doch auch Hermes befürwortete letzten Endes das einheitliche Auftreten der Delegation318.

In Berlin entzündete sich die Kritik in erster Linie an der verspäteten und zu geringen Information des Kabinetts. Sie wurde weiter geschürt durch die auch vom Reichskanzler eingestandene Beeinträchtigung der Konferenzatmosphäre319.

Was die außenpolitische Wirkung betraf, so hatte Rathenau die Prognose gestellt, England werde den Vertragsabschluß ohne größere Schwierigkeiten hinnehmen, Italien werde sich auf seine Seite stellen, von Frankreich hingegen seien scharfe Angriffe zu erwarten320. Die Ereignisse zeigten dann jedoch Lloyd George als entschiedenen Gegner der deutsch-russischen Annäherung, der seine Kritik bis zu der Forderung nach Auflösung des Vertrages steigerte321. Erst als nach zahlreichen Verhandlungen und verschiedenen Notenwechseln322 Lloyd George den Zwischenfall für erledigt erklärt hatte323, war die Konferenzatmosphäre bereinigt, und die deutsche Delegation konnte noch eine Vermittlertätigkeit zwischen den Alliierten und Rußland als gewissen Erfolg verbuchen324.

Mit der Tatsache, daß Rathenau und Wirth in Gesprächen mit Lloyd George eine gewisse Aufgeschlossenheit für die deutschen Reparationsprobleme gefunden hatten325, suchte auch der Reichskanzler später vor dem Kabinett die Beilegung des Zwischenfalls zu belegen.

[LXIV] Nach der Rückkehr der Genua-Delegation standen im Kabinett die Verhandlungen des Ministers Hermes in Paris im Vordergrund; hierbei kam es auch zu einem Zusammenstoß, insbesondere zwischen Wirth und Bauer, über die Rapallopolitik326. Eine ausführliche Berichterstattung und Diskussion der mit dem Vertrag eingeleiteten Politik ist nicht in die Akten der Reichskanzlei gelangt.

Rein routinemäßig stimmte das Kabinett dem Entwurf eines Gesetzes über den deutsch-russischen Vertrag von Rapallo zu und ließ sich über die Ausdehnung des Rapallovertrages informieren327.

Im Jahre 1933 bereicherte Wirth noch einmal die Akten der Reichskanzlei mit postumen Zeugnissen über die deutsch-russischen Beziehungen: auf einen Angriff in der Zeitung „Der Alemanne“ reagierte er mit der Übersendung einer auf den 2.9.1933 datierten Aufzeichnung über den Rapallovertrag, nach der er „bald nach Übernahme des Kanzleramtes im Jahre 1921“ politische Besprechungen mit von Maltzan über die Lage Deutschlands begonnen hatte328. Angesichts der bedrohlichen Siuation des Reiches an der Ostgrenze und im Westen sei man zu der Einsicht gelangt, „nach irgendeiner Seite den Ring des Versailler Vertrages zu durchbrechen“. Die einzige Möglichkeit hierfür sei die allerdings nicht unbedenkliche Anknüpfung mit Rußland gewesen, – eine Politik, die Wirth zusammen mit Ago von Maltzan und General von Seeckt inauguriert haben will. Sie sei gegen den Willen Eberts durchgesetzt worden, der allerdings eine Regierungskrise aus diesem Anlaß vermieden habe, und bei der Sozialdemokratie stark kritisiert worden. Rathenau habe bei der Übernahme des Auswärtigen Amtes im Frühjahr 1922 die Konzeption der Ostpolitik bereits vorgefunden329.

In einer letzten klärenden Besprechung vor Abschluß des Vertrages zwischen Wirth, Rathenau, von Maltzan und dem Staatssekretär von Simson habe Rathenau selbstverständlich auch Bedenken geäußert330. Abschließend motivierte Wirth den Vertragsabschluß: „Ich übersehe nicht, daß man gewisse Bedenken gegen die Rapallopolitik vorbringen könnte. Das hat Walther Rathenau nicht übersehen. Uns kam es darauf an zu zeigen, daß ein Volk in äußerster Bedrängnis nicht davor zurückschrecken darf, das große Risiko eines politischen Schrittes auf sich zu nehmen, wenn es damit gelingt, in der europäischen Politik durch Einschalten Rußlands seine politische Kraft erneut zur Geltung zu bringen, die in Bismarcks Zeiten eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat. Die Stimme Rußlands mußte wieder zur Geltung gebracht werden, wenn[LXV] Deutschland überhaupt Aussicht haben sollte, als ein selbständiges Element europäischer Politik in Erscheinung zu treten331.“

2. Friedensvertrag mit den Vereinigten Staaten von Amerika

Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten den Versailler Vertrag nicht ratifiziert, de jure war daher der Kriegszustand trotz der regulären Handelsbeziehungen noch nicht beendet. Das amerikanische Repräsentantenhaus hatte am 30.6.1921, der Senat am 1.7.1921 eine Friedensresolution verabschiedet, die zugleich Instruktionen für einen mit Deutschland abzuschließenden Sondervertrag enthielt, die sogenannte Porter-Knox-Resolution332. Danach wollten die Vereinigten Staaten die Rechte, die ihnen nach dem Versailler Vertrag zugestanden hätten, in Anspruch nehmen können.

Auf das erste inoffizielle Sondieren des amerikanischen Beauftragten Dresel reagierte das Kabinett einmütig grundsätzlich positiv, doch sollte der Versuch unternommen werden, von der von den Vereinigten Staaten angestrebten einseitigen Unterzeichnung eines Protokolls weg und zu einem Vertrag zu gelangen333. Die für dieses Ziel notwendigen Verhandlungen mit der Regierung der Vereinigten Staaten, die über den Unterhändler Dresel liefen, leitete das Auswärtige Amt durch ein auch im Kabinett redigiertes Schreiben Rosens an Dresel ein, in dem eine Präzisierung der Rechte und Pflichten, die die Vereinigten Staaten aus dem Versailler Vertrag wahrnehmen wollten, angeregt und darauf hingewiesen wurde, daß mit den Rechten auch Verpflichtungen des Versailler Vertrages zu übernehmen seien334. Das Kabinett beteiligte sich in intensiven Beratungen, bei denen Rathenau eine gewisse Gegnerschaft erkennen ließ335, an den im folgenden außerordentlich hartnäckig geführten Verhandlungen, über die Rosen laufend berichtete336. Nachdem eine Interpretation des Memorandums ausgehandelt worden war, konnte der Vertrag schließlich am 25.8.1921 unterzeichnet werden337. Die Prognose Rathenaus, der Vertrag werde innerpolitische Entrüstungsstürme hervorrufen338, erwies sich als unbegründet: nach der routinemäßigen Zustimmung des Kabinetts zu dem Gesetzentwurf wurde er ohne Aufsehen im Reichstag verabschiedet339.

3. Belgisches Markabkommen

Für die Gestaltung der deutsch-belgischen Beziehung spielte die sogenannte belgische Markfrage eine gewisse Rolle. Belgien hatte aus der Zeit[LXVI] der Besatzung deutsche Papiermarkbestände thesauriert, die während des Krieges zu einem für Belgien ungünstigen Zwangskurs eingeströmt waren. Belgien und Deutschland gaben die Höhe dieser Bestände unterschiedlich an, einmal weil beide Verhandlungspartner auf Schätzungen darüber angewiesen waren und zum anderen, weil nach Kriegsende bei der Einlösung dieser Bestände durch die belgische Regierung weitere Spekulationsgelder in Mark aus dem Ausland hereingeströmt waren. Der zunächst zwischen der belgischen Regierung und den deutschen Ressorts ausgehandelte und am 1.9.1921 paraphierte Vertragsentwurf, der die Ablösung von insgesamt 4000 Millionen Mark zu näher bestimmten Modalitäten vorsah, stieß auf heftige Gegnerschaft der Reichsbank, die im Verlauf der Verhandlungen sogar ablehnte, für die aus diesem Abkommen möglicherweise entstehenden Verbindlichkeiten dem Reich Schatzwechsel zu diskontieren340. Zwar hatte die Reichsregierung wegen der ungünstigen Entscheidung über Oberschlesien die Beschlußfassung über das am 1. 9. paraphierte Abkommen zurückgestellt341, doch bald darauf bei grundsätzlicher Zustimmung weitere Verhandlungen über Einzelheiten angeregt, auf die Belgien nur bedingt einging342. Angesichts des deutschen Stundungsgesuches und der Verhandlungen in Cannes gewann das Abkommen als politisches Instrument, quasi als Mittel zum Kauf der belgischen Stimme in der Reparationskommission, zunehmend an Bedeutung343. Im Juli 1922 gab Staatssekretär von Simson dem Kabinett Einzelheiten eines neu ausgehandelten Abkommens mit Belgien bekannt und bewirkte die Zustimmung des Kabinetts zu seiner Paraphierung, die erteilt wurde, weil man dadurch ein größeres belgisches Entgegenkommen in Reparationsfragen zu erlangen hoffte. Ein endgültiges Abkommen kam jedoch wegen des Abbruchs der langwierigen Verhandlungen durch Belgien nicht zustande344.

Fußnoten

308

Siehe Dok. Nr. 24, P. 3.

309

Siehe Dok. Nr. 25, Anm. 2.

310

Siehe Dok. Nr. 35, P. 6.

311

Siehe Dok. Nr. 162.

312

Siehe hierzu das in Dok. Nr. 241a, Anm. 13 zitierte Londoner Memorandum.

313

Siehe Dok. Nr. 241a, Anm. 12 u. 14.

314

Siehe Dok. Nr. 241a u. b.

315

Siehe Dok. Nr. 238, P. 1.

316

Zum Abschluß u. Inhalt des Vertrages s. Dok. Nr. 246, Anm. 2.

317

Minister Hermes versuchte zwar eine Kritik des Vertragsinhalts, doch blieb seine Argumentation in diesem Punkt unklar (Dok. Nr. 251).

318

Siehe Dok. Nr. 248 u. Dok. Nr. 251.

319

Siehe Dok. Nr. 248; Dok. Nr. 250 und Dok. Nr. 253.

320

Siehe Dok. Nr. 246.

321

Siehe Dok. Nr. 249.

322

Siehe Dok. Nr. 249; Note der Alliierten vom 18.4.22 s. Dok. Nr. 249, Anm. 4; zur dt. Antwort s. Anm. 5; zur Note der Repko vom 4.5.22 s. Dok. Nr. 262, Anm. 8; zur dt. Antwort s. Dok. Nr. 265, P. 1.

323

Siehe Dok. Nr. 251, Anm. 1.

324

Siehe Dok. Nr. 270, P. 3.

325

Siehe Dok. Nr. 282, Anm. 6 u. 7.

326

Siehe Dok. Nr. 277.

327

Siehe Dok. Nr. 292, P. 2 u. Dok. Nr. 394, P. 1.

328

Zu Beginn seiner Kanzlerschaft führte Wirth sowohl das RFMin. als auch bis zur Ernennung Rosens das AA.

329

Die Memoiren seines Amtsvorgängers Rosen sagen zur Rußlandpolitik des Kabinetts nichts aus. Sie enthalten lediglich eine Denkschrift Rosens aus dem Winter 1920/21; s. Rosen, Wanderleben, Bd III/IV, S. 409.

330

Vgl. dazu die Mitteilungen D’Abernons vom 2.10.1926 in D’Abernon, Botschafter, Bd 1, S. 351 ff.

331

Aufzeichnung Wirths vom 2.9.1933 in R 43 I /3633 , Bl. 48-61.

332

Siehe Dok. Nr. 48, Anm. 1.

333

Siehe dazu die geheime Denkschrift „Amerikanisches Angebot eines Friedensvertrages“, S. 1, in R 43 I /95 , Bl. 58-65.

334

Siehe Dok. Nr. 52, Anm. 8; mit dem in Dok. Nr. 56, Anm. 2 zitierten Schreiben ging Dresel auf Verhandlungen ein.

335

Siehe Dok. Nr. 66 u. Dok. Nr. 71.

336

Siehe insbes. Dok. Nr. 64.

337

Siehe Dok. Nr. 72; zum Wortlaut des Vertrages s. Dok. Nr. 64, Anm. 6.

338

Siehe Dok. Nr. 66.

339

Siehe Dok. Nr. 85, P. 1.

340

Siehe Dok. Nr. 87, Anm. 13 u. Anm. 14; Dok. Nr. 88 u. Dok. Nr. 314, Anm. 10.

341

Siehe Dok. Nr. 113, P. 1 u. Dok. Nr. 189, Anm. 1.

342

Siehe Dok. Nr. 180, Anm. 1, 2 u. 4.

343

Siehe etwa Dok. Nr. 256 bei Anm. 6 u. Dok. Nr. 269 bei Anm. 5.

344

Siehe Dok. Nr. 314, P. 7 mit Anm. 11.

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