2.72 (cun1p): Nr. 72 Bericht des Reichsministers a. D. Koch über die Lage im altbesetzten Gebiet. 12. Februar 1923

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Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

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[240] Nr. 72
Bericht des Reichsministers a. D. Koch über die Lage im altbesetzten Gebiet. 12. Februar 19231

R 43 I /186 , Bl. 251-254

Die Bevölkerung im altbesetzten Gebiet hat 4 Jahre lang die Leiden einer feindlichen Besatzung ertragen; die Erbitterung gegen Franzosen und Belgier ist gestiegen, die deutsche Gesinnung außer jedem Zweifel. Die Zahl der Abtrünnigen ist gering. Wenn trotzdem die Abwehr im altbesetzten Gebiet nicht mit derselben Wucht eingesetzt hat und durchgeführt wird wie im neubesetzten Gebiet, so liegt hierfür eine Reihe von Gründen vor.

Zunächst ist die Bevölkerung weniger massiert als im Ruhrgebiet. Zum andern ist der Bauer und Bürger des Rheins weniger auf politischen und wirtschaftlichen Kampf gerichtet und eingeübt als der Arbeiter des Ruhrbezirks. Auch fehlt der Veredelungsindustrie des Rheinlandes die Sicherheit der auf ihren Bodenschätzen begründeten westfälischen Großindustrie.

Die Hauptsache ist aber, daß die Rechtslage des Rheinlandes eine andere ist. Im Rheinland hat man sich seit 4 Jahren daran gewöhnt, die Rheinlandkommission als eine mit Befehlsgewalt ausgerüstete Behörde anzuerkennen. Sie bleibt auch jetzt eine Obrigkeit, wo sie ihre Befugnisse rechtswidrig in den Dienst des französischen Imperialismus stellt. Indem die Reichsregierung sich an das Rheinlandabkommen gebunden erachtet – und ich halte die Gründe, die, solange die Engländer noch in Köln sind, dafür sprechen, für beachtlich –, erschwert sie den Beamten und der Bevölkerung die Möglichkeit, den rechtswidrigen Befehlen der Rheinlandkommission Widerstand entgegenzusetzen. (Vgl. das in Ziff. 1 des dritten vorläufigen Berichtes über die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes durch die Franzosen und seine Folgen Gesagte2.) Es fragt sich, ob dieser Zustand der Halbheit aufrechterhalten bleiben kann.

Das Ungemach, das die Bevölkerung in nächster Zeit zu erdulden haben wird, ist groß. Die Verwirrung in der Behördenorganisation infolge der Ausweisungen, die Bedrohung jedes mannhaften Bürgers mit Ausweisung, die Verkehrsnot, die Lebensmittelnot, die Arbeitslosigkeit, das Abgeschnittensein von[241] amtlichen Verfügungen und Zeitungsnachrichten werden eine harte Probe für die Bevölkerung sein.

Von allen diesen Übeln sehe ich als das größte die Dezimierung der berufenen Führer des Volkes, seien es Beamte, Politiker oder Redakteure, an. Dieser Umstand macht auf die Dauer die Bevölkerung führerlos und zu tatkräftigem und überlegtem Widerstand unfähig. Es würde rechtzeitig zu überlegen sein, inwieweit die Regierung versuchen will, der Schwierigkeit dadurch Herr zu werden, daß sie Vertrauensleute mit weitgehenden Befugnissen ausrüstet, die den Franzosen unerkannt bleiben.

Trotz allem wird die Bevölkerung fest bleiben, wenn es gelingt, ihr die Überzeugung zu erhalten, daß die Deutsche Regierung im Recht ist und für die Bevölkerung tut, was sie kann. Um das zu erreichen, ist auch in Zukunft eine Politik erforderlich, die in Einzelfragen elastisch und besonnen ist, in großen Fragen aber fest und stark. Es ist aber weiter erforderlich, daß die Bevölkerung über die Gründe und Ziele dieser Politik dauernd aufgeklärt wird.

An einzelnen Maßnahmen hebe ich neben den in den vorläufigen Berichten empfohlenen kleineren Maßnahmen folgende nochmals ausdrücklich hervor:

1.

Klarstellung der sich für den Reichskommissar und die Beamten ergebenden Verpflichtungen aus dem Rheinlandabkommen, evtl. Aufhebung des Rheinlandabkommens3.

2.

Aufbietung aller Kräfte, um die Engländer in dem von ihnen besetzten Gebiet zu erhalten, weil alle Abwehrmaßnahmen in dem besetzten Gebiet ihren Stützpunkt in Köln haben und weil die Offensive der Franzosen und Belgier durch das dazwischen liegende englische Gebiet mehr gehemmt wird als unsere Abwehr4.

3.

[242]Gute Fürsorge für die ausgewiesenen und gefangenen Beamten, insbesondere Aufhebung der Verfügung wegen Verweigerung der Aufnahme in fremder Untersuchungshaft befindlicher Deutscher in deutsche Gefängnisse5; ferner Aufhebung der Verfügung wegen Auszahlung eines geringeren Gehaltes an ausgewiesene Kommunalbeamte, als sie bisher tatsächlich bezogen. Rasche Unterbringung der ausgewiesenen Beamten in neue Stellen. Nutzbarmachung der Erfahrungen der ausgewiesenen Beamten bei den Zentralstellen des Reichs und Preußens.

4.

Behebung der Geld- und Kreditnot.

5.

Behebung der Geldzeichennot. Die Geldzeichennot führt unweigerlich über die Ausgabe von Notgeld hinweg zur Einführung einer Rheinlandwährung6.

6.

Auswertung der in dem besetzten Gebiet begangenen Gewalttätigkeiten in der ausländischen und deutschen Presse. (Vgl. zweiten vorläufigen Bericht, Ziff. 6,8; 3. vorläuf. Bericht, Ziff. 87.)

7.

Verweigerung der Postzustellung von Schriftstücken gegnerischer Behörden und an gegnerische Behörden.

8.

Abgabe weitgehender Befugnisse an die lokalen Instanzen.

9.

Eine umfassende Propaganda durch Flugblätter und Vertrauensleute.

10.

Die Bereisung des Gebietes durch Beauftragte der Reichsregierung und der Preußischen Regierung8.

Bei besonnener und unbeirrter Weiterarbeit der Reichsregierung kann der Widerstand der Wehrlosen gegen die Gewalt noch lange Zeit aufrechterhalten[243] bleiben. Lösen ihn keine anderen Ereignisse ab, so ist er bei dem brutalen und rücksichtslosen Vorgehen der Franzosen nicht für alle Zeiten ein wirksames Mittel der Abwehr. Gibt es in absehbarer Zeit keine Hilfe auf diplomatischem Wege, so sind stärkere Abwehrmaßnahmen unvermeidlich. Der passive Widerstand ist noch keine Politik, sondern nur die Grundlage für eine Politik.

Koch

Fußnoten

1

Dieser sog. „endgültige Bericht“ Koch-Wesers ist an den RK und StS Hamm gerichtet und wird von diesem am 13. 2. in Abdrucken an die RM, den PrMinPräs. und StS Brugger weitergeleitet. Vorangegangen waren drei „vorläufige Berichte“ Kochs aus dem altbesetzten Gebiet; der letzte war aus Aachen am 10. 2. erstattet worden und wird im folgenden zitiert (R 43 I /208 , Bl. 50-57).

2

Hier heißt es: „Aber auch sachlich berechtigt das Rheinlandabkommen die Irko zu weitgehenden Maßnahmen, z. B. zur Verhängung des Belagerungszustandes, wenn das für die Sicherheit der Truppen nottut. Der Belagerungszustand aber bringt das Recht mit sich, jede Versammlung zu jeder Zeit zu verbieten und damit die Bevölkerung abzuschneiden. Er führt aber weiter zur Unterstellung der deutschen Polizei unter die fremden Befehle. In Aachen z. B. untersteht, seitdem anläßlich der großen und erhebenden Demonstrationen, die aber natürlich auch gewisse Belästigungen der an jenen Tagen nur 66 Mann starken Besatzung mit sich gebracht haben, der Belagerungszustand verhängt ist, die Polizei den Befehlen belgischer Offiziere und führt sie auch aus. Die Behandlung der Schutzleute in Aachen durch die belgischen Vorgesetzten ist unerhört. Mißhandlungen sind häufig.“ (R 43 I /208 , Bl. 50-57).

3

Im 3. vorläufigen Bericht hatte Koch zur Stellung des Reichskommissars ausgeführt: „Der Reichskommissar hat, wie er erklärt, die Weisung aus Berlin, sich solange als möglich zu halten. Das darf unmöglich dazu führen, daß er tut, was anderen Behörden verboten ist. Namentlich gehört dahin die Weitergabe von Ordonnanzen der Rheinlandkommission.“ (R 43 I /208 , Bl. 50-57). Am 13. 2. weist der RAM den Reichskommissar an, Ordonnanzen der Irko, die offensichtlich gegen das Rheinlandabkommen verstoßen, „nur dann an die Provinzialbehörden weiterzugeben, wenn gleichzeitig Abschrift eines deutschen Protestes oder eines sonstigen Schriftstücks beigefügt werden kann, aus dem die Stellungnahme der RReg. unzweifelhaft hervorgeht. Die inneren Ressorts legen Wert darauf, daß in der Beamtenschaft nicht durch kommentarlose Weitergabe derartiger Ordonnanzen Zweifel über deren Unverbindlichkeit entstehen.“ (R 43 I /186 , Bl. 352 f.).

4

Dazu hatte Koch im 3. vorläufigen Bericht u. a. erklärt: „Wie richtig für den Abwehrkampf das Verbleiben der Briten in Köln ist, habe ich immer mehr eingesehen. Der Kreissyndikus in Moers erklärte, nur solange sie in Köln sicheren Rückhalt hätten, könnten sie im belgisch und französisch besetzten Gebiet die Abwehr aufrechterhalten. Der Präsident der Handelskammer Aachen betonte die Notwendigkeit, daß Köln als Sitz der wirtschaftlichen Abwehr mindestens für das altbesetzte Gebiet erhalten bleibe. Alle wichtigen Verhandlungen des besetzten Gebiets finden in Köln statt. Wirtschaftsausschuß, Ministerialkonferenzen etc. Was übrigens die Haltung der Eisenbahner im Kölner Bezirk angeht, so erklärte der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Sollmann aus Köln in Barmen, der Minister Groener habe die mildere Verfügung des Eisenbahndirektionspräsidenten leider aufgehoben und dadurch das Verbleiben der Briten in Köln gefährdet. Das Gleiche habe ich von Sozialdemokraten in Trier und Koblenz gehört. Die Leute verschweigen systematisch, daß der Minister durch die Forderung der (soz.dem.!) Eisenbahnerorganisation zu seinem Vorgehen veranlaßt war. Sie stellen das Vorgehen als nationalistisch hin. Ich bin dem mit Nachdruck entgegengetreten. Diese Spezialfrage selbst scheint vorläufig durch Vereinbarung zwischen Engländern und Franzosen erledigt.“ (R 43 I /208 , Bl. 50-57). Vgl. dazu Dok. Nr. 74, P. 1.

5

Das Kabinett hatte sich am 6. 2. mit dieser Frage befaßt (Dok. Nr. 65, P. 4). In seinem 3. vorläufigen Bericht hatte Koch dazu u. a. ausgeführt: „Die rheinischen Beamten sind in heller Entrüstung über diese ‚Berliner‘ Verfügung. Der Erzbischof von Köln, die RegPräs. in Köln und Koblenz, die OB in Aachen, Koblenz, der Vertreter des OB in Trier, alle Vertreter der Beamtenorganisationen sind sich einig in der Verurteilung dieser Verordnung. Unnötige Leiden wollen sie nicht auch noch auf sich nehmen. Der OB Jarres fragte, ob denn die Regierung es auch verweigern würde, einem gefangenen Transportierten einen Trunk Wasser zu reichen, weil damit seine Verhaftung legitimiert werde. Ich warne auf das Dringendste, an dieser Verfügung, die niemand im Rheinland versteht, festzuhalten. Sie lenkt den Groll der Bevölkerung auf die eigene Regierung ab und bricht den Beamten, die tagtäglich mit der Tatsache der Aufnahme in belgische Gefängnisse rechnen müssen, auf die Dauer das Rückgrat.“ (R 43 I /208 , Bl. 50-57). Am 14. 2. teilt RJM Heinze Koch mit, daß auch der PrJM am Standpunkt der RReg. festhalte. „Bei dieser Sachlage glaube ich, bei voller Würdigung der Schwere des Opfers, das dadurch den Beteiligten im Interesse der deutschen Sache zugemutet werden muß, zu meinem Bedauern eine Änderung der getroffenen Anordnung zur Zeit nicht in Aussicht stellen zu können.“ (R 43 I /208 , Bl. 240).

6

Koch hatte in seinem 3. vorläufigen Bericht ausgeführt, daß die Geldzeichennot allgemein und die Abhilfsmaßnahmen gänzlich unzureichend seien. „Die Rbk vergißt, wie stark der Bedarf steigt, wenn erst einmal – wie hier zugegeben – eine Woche lang Mangel gewesen ist und sich hinterher niemand von den Scheinen, die er einmal ergattert hat, gern trennt. Sie berücksichtigt auch zu wenig die Verkehrsschwierigkeiten bei der Hereinbringung des Geldes. Die Geldzeichennot benimmt der Regierung in ganz besonderem Maße das Vertrauen. Sie ebnet den Bestrebungen auf eigene Rheinlandwährung den Weg.“ (R 43 I /208 , Bl. 50-57).

7

Hier hatte Koch bemängelt, daß die dt. Propaganda zu schwach sei. „Die Franzosen arbeiten geschickter als wir. In Holland ist, wie mir der Kardinal in Köln bestätigte, die Stimmung im Umschlagen.“ (R 43 I /208 , Bl. 50-57).

8

Neben regelmäßigen Kurierdiensten hatte Koch in seinem 3. vorläufigen Bericht „die häufige Entsendung von Beauftragten des RK und MinPräs., die die Stimmung heben, Zweifel entscheiden und Wünsche entgegennehmen“, angeregt (R 43 I /208 , Bl. 50-57).

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