1.205.5 (ma32p): 10. Außerhalb der Tagesordnung: Bericht über die Genfer Ratstagung.

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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10. Außerhalb der Tagesordnung: Bericht über die Genfer Ratstagung.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte aus, daß die Ratstagung21 sich in der Hauptsache mit

1. dem ungarisch-rumänischen Optantenstreit,

2. der Waffenangelegenheit von Szent Gotthard

befaßt habe.

1.) Das Ergebnis der Beratung über den Optantenstreit22 werde von Rumänien als Niederlage angesehen und sei vom Vertreter Rumäniens, dem Außenminister Titulescu, auch noch nicht akzeptiert worden. Daß auch Frankreich sich schließlich gegen Rumänien gestellt habe, rühre daher, daß Briand eine schwere Einbuße des Ansehens des Völkerbundes gefürchtet habe, falls das Schiedsverfahren in dieser Angelegenheit ergebnislos geblieben wäre. Das Streitobjekt sei im übrigen verhältnismäßig gering. Titulescu habe zur Bereinigung des Streits auf finanziellem Wege bereits unter der Hand eine Summe im Werte von 16 Millionen Reichsmark angeboten. Da die Forderungen der ungarischen Geschädigten sich auf etwa 250 Millionen Reichsmark belaufen, d. i. nach den Sätzen der deutschen Liquidationsgeschädigten etwa 40 Millionen, wäre nur noch eine Differenz von 24 Millionen RM auszugleichen.

2.) In der Szent Gotthard-Angelegenheit23 habe Ungarn zunächst nicht besonders geschickt taktiert, sich dann aber unschwer mit der vom Rat vorgeschlagenen Untersuchung durch „experts techniques“ abgefunden, um so mehr als diese Untersuchung nicht auf Grund des Investigationsprotokolls stattfinden werde und ihr Präzedens in der polnisch-litauischen Streitfrage habe, bei der Polen sich ohne Widerspruch die Untersuchung von Militärattachés auf seinem Gebiet habe gefallen lassen.

[1369] Von Danziger Angelegenheiten sei lediglich die Frage des Klagerechts der Danziger Eisenbahnen zur Beratung gekommen und im deutschen Sinne entschieden worden.

Der Ersatz des Belgiers Lambert durch den Finnländer Ehrnrooth sei als deutscher Erfolg anzusprechen24. Briand habe sich aus Prestigegründen nur gegen die Person des zunächst von Deutschland gewünschten Dänen Koch gewandt und sei mit jeder anderen Lösung einverstanden gewesen.

Spanien und Brasilien seien aufgefordert, zum Völkerbund zurückzukehren. Der Reichsminister des Auswärtigen machte darauf aufmerksam, daß der Wiedereintritt Spaniens, falls sein Bevollmächtigter beim Völkerbund wieder Herr Quinones de Leon sein würde, keineswegs als ein Gewinn für Deutschland zu buchen sein werde.

Von Chamberlain gehe allerdings ein gewisser Druck dahin aus, daß die Mächte nicht mehr in so großer Zahl ihre diplomatischen Vertreter in Paris zu Völkerbundsdelegierten ernennen möchten. Den letzten Anlaß zu einer Verstimmung Chamberlains hierüber habe das Verhalten des Ratspräsidenten Tcheng Loh gegeben, der sich in der Szent Gotthard-Angelegenheit zu sehr vom französischen Auswärtigen Amt habe beeinflussen lassen.

Im polnisch-litauischen Streit sei als Verhandlungsort Königsberg in Aussicht genommen25.

Der Reichsminister des Auswärtigen ersuchte dringend, die deutsche Presse dahin zu beeinflussen, daß während der Zeit der Verhandlungen beiden Verhandlungsführern gegenüber eine maßvolle Sprache gewahrt werde.

Die Einschränkung der Zahl der Ratstagungen solle im September erneut beraten werden. Der Reichsminister des Auswärtigen sprach sich lebhaft für diese Einschränkung aus.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete, daß er sich außerhalb der offiziellen Beratungen eingehend mit Herrn Briand ausgesprochen habe26.

Bezüglich der Rheinlandräumung habe er angekündigt, daß Deutschland diese Frage baldigst amtlich aufgreifen werde. Er habe ferner ausgeführt, daß eine Neigung für Gegenleistungen für eine vorzeitige Räumung in Deutschland vielleicht nur noch in diesem Jahre vorhanden sein werde. Die Situation werde sich in dieser Hinsicht schon vom Sommer ab durch die herannahenden amerikanischen Wahlen und die zum 1. Januar 1930 bevorstehende Räumung der zweiten Zone zuungunsten von deutschen Gegenleistungen ändern.

Bemerkenswert sei gewesen, daß Herr Briand auf die Frage der Sicherheit im Zusammenhang mit der Rheinlandräumung gar kein Gewicht mehr gelegt und sich lebhaft gegen die Ideen von Paul-Boncour ausgesprochen habe.

Die Verhandlungen mit dem rumänischen Außenminister Titulescu bezüglich der finanziellen Einigung mit Rumänien seien ergebnislos geblieben27.[1370] Rumänien verhandele zur Zeit durch Herrn Bratianu in Paris über eine Anleihe. Herr Titulescu habe vorgeschlagen, daß Deutschland zur Erledigung der Streitigkeit über die Banca-Generala-Noten 150 Millionen halb in bar, halb in Waren, über 4 Jahre verteilt, leiste. Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte, daß er diesen Vorschlag, noch dazu nach Wegfall einer deutschen Anleihe, für ganz indiskutabel halte und dies Herrn Titulescu auch vorbehaltlich der noch einzuholenden Entscheidung des Reichskabinetts gesagt habe.

Das Reichskabinett erklärte sich mit dem Vorgehen des Reichsministers des Auswärtigen einverstanden und bevollmächtigte ihn, die Ablehnung der rumänischen Vorschläge als Beschluß des Reichskabinetts nunmehr auch dem rumänischen Gesandten mit der Bitte um Weitergabe nach Bukarest mitzuteilen28.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte im Zusammenhang hiermit aus, daß auch der polnische Außenminister Zaleski Vorschläge über eine Aufrechnung polnischer Forderungen aus der Kriegszeit gemacht habe. Die Frage werde zur Zeit durch Ministerialdirektor Gaus geprüft29. Die Gefahr eines grundsätzlichen Abweichens von der bisher eingenommenen Inanspruchnahme des Dawes-Plans als einzige und volle Erfüllung aller Kriegsforderungen werde im Auswärtigen Amt durchaus gewürdigt.

Der Reichsminister der Justiz stellte die Frage, ob der Reichsminister des Auswärtigen der Meinung sei, daß im Sommer dieses Jahres tatsächlich über deutsche finanzielle Leistungen für vorzeitige Rheinlandräumung verhandelt werden könne.

Der Reichsminister des Auswärtigen erwiderte, daß er an sich gegen eine Lösung der Frage durch Mobilisierung von 1½ bis 2 Milliarden Dawes-Obligationen bei den Verhandlungen von Thoiry30 deshalb nichts einzuwenden gehabt hätte, weil diese Lösung Deutschland nichts koste. Nachdem auch Herr Poincaré in letzter Zeit mehrfach auf eine solche Lösung zurückgekommen sei, z. B. in seiner Unterredung mit dem Abgeordneten Wirth31, habe ihm nur daran gelegen, Herrn Briand darauf aufmerksam zu machen, daß, je mehr Zeit verstreiche, die deutschen Gegenleistungen desto unwahrscheinlicher würden.

Der Reichskanzler sprach abschließend dem Herrn Reichsminister des Auswärtigen für seinen Bericht und seine Tätigkeit in Genf den Dank des Reichskabinetts aus.

Fußnoten

21

Zum Verlauf der 49. Tagung des Völkerbundsrats vom 5. bis 10. 3. siehe: Schultheß 1928, S. 446 ff.; Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 333 ff.; Aufzeichnung des AA vom 24. 3. (R 43 I /494 , Bl. 77–81).

22

Siehe Schultheß 1928, S. 446 f.; Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 333 ff.

23

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VIII, Dok. Nr. 135; Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 335 ff. Zur Vorgeschichte siehe die Angaben in Anm. 3 zu Dok. Nr. 437.

24

Der Völkerbundsrat hatte am 10. 3. Ehrnroot anstelle des zurückgetretenen Lambert zum Mitglied der Regierungskommission des Saargebiets gewählt. Siehe hierzu ADAP, Serie B, Bd. VIII, Dok. Nr. 220.

25

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VIII, Dok. Nr. 168 und 173.

26

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 143.

27

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 103 und 146.

28

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 215.

29

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 154.

30

Unterredung zwischen Stresemann und Briand am 17.9.26 in Thoiry.

31

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VIII, Dok. Nr. 48.

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