2.10 (mu11p): Nr. 10 Weisung des Reichskanzlers an die deutsche Friedensdelegation in Paris. 2. April 1920

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Nr. 10
Weisung des Reichskanzlers an die deutsche Friedensdelegation in Paris. 2. April 19201

R 43 I /2715 , Bl. 132 f. Abschrift

[Betrifft: Notwendigkeit des Truppeneinmarschs in die demilitarisierte Zone.]

Bitte folgende Note zu übergeben: Die ernsten Nachrichten, die über den Ausbruch blutiger Kämpfe im rheinisch-westfälischen Gebiet Mitte März hier vorlagen, haben die Deutsche Regierung bereits damals veranlaßt, die Alliierten Regierungen um ihre Zustimmung zur vorübergehenden Entsendung beschränkter Truppenmengen in das bedrohte, innerhalb der 50 km-Zone liegende Gebiet unter gleichzeitigen Anerbieten von Garantien für die rechtzeitige Herausziehung dieser Streitkräfte zu bitten. In den Verhandlungen, die über die Frage dieser Garantien geführt, und deren vorläufige Ergebnisse auch schriftlich niedergelegt wurden, gelangte man trotz schwerer Bedenken deutscherseits schließlich zu dem Ergebnis, daß die Alliierten Regierungen das[22] Recht haben sollten, die deutschen Städte Frankfurt a/Main, Darmstadt, Hanau, Homburg und Dieburg zu besetzen, wenn etwa die über das vereinbarte Maß hinaus in der neutralen Zone befindlichen Truppen nach Erfüllung ihrer Aufgaben bezw. nach Ablauf einer bestimmten von den Alliierten Regierungen festgesetzten Frist jene Zone nicht wieder verlassen haben sollten.

Neuerdings hat indessen die Französische Regierung außerdem noch als notwendig bezeichnet, den Nachweis dafür zu erhalten, daß tatsächlich ohne ein Einrücken von Truppen die Ruhe in jenen Gebieten nicht wieder herzustellen sei2.

Nach den in höchstem Grade beunruhigenden Nachrichten, die seitdem unablässig der Deutschen Regierung zugegangen sind und noch zugehen, läßt sich leider nicht mehr daran zweifeln, daß die alsbaldige Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung ohne vorübergehendes Eingreifen militärischer Kräfte unmöglich ist. <Die Lage hat sich, wie die stündlich eintreffenden dringendsten Hilferufe beweisen, in einer Weise zugespitzt, daß es sich heute nicht nur mehr um das Wohl und Wehe der Bewohner jener Landesteile handelt, sondern daß auch der Bestand des ganzen Wirtschaftslebens in Deutschland schwer bedroht ist. Unter der Flagge des Kommunismus hat der Mob3 das gesamte öffentliche Leben unter maßlosem Terror gehalten, wahllos Requisitionen und Plünderungen vorgenommen, die Tätigkeit der Staatsorgane lahmgelegt und Leben und Sicherheit bedroht. Die Verhältnisse haben sich dahin entwickelt, daß es4 in Teilen des Ruhrgebiets zum Stillstand der industriellen Erzeugung, insbesondere der Kohlenförderung und der Hochöfenbetriebe, und zur Stillegung des Eisenbahnverkehrs5 gekommen ist. Damit ist6 die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens und die geordnete Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht nur im Gebiete der Unruhen, sondern in ganz Deutschland gefährdet. Eine politische Leitung, durch die die Ereignisse in einigermaßen geregelte Bahnen geführt werden könnten, besteht dort nicht mehr. Zwar haben sich die neugebildeten Vollzugs- und Zentralräte zu Abmachungen verstanden, die den Abbruch des Generalstreiks und die Herstellung der Ruhe und Ordnung bezwecken. Diese Abmachungen sind aber tatsächlich wertlos7; die Anordnungen der[23] Vollzugs- und Zentralräte werden nicht mehr befolgt, weil die Macht aus ihren Händen an den bewaffneten Mob übergegangen ist>8.

Es ist, wie auch die Alliierten Regierungen gewiß nicht verkennen werden, ein Gebot des allgemeinen europäischen Interesses wie eine Forderung der Menschlichkeit, den vielen hunderttausenden in schwerster Not befindlichen Bewohnern der aufständischen Bezirke zu Hilfe zu kommen. Insbesondere ist es für die Deutsche Regierung eine heilige und unabweisbare Pflicht, ihre bedrängten Volksgenossen, für deren Leben und Freiheit sie verantwortlich ist, nicht in der Stunde der Gefahr aus formalen Gründen im Stich zu lassen9. Wenn daher unter dem Drucke der Notwendigkeit deutsche Reichswehrtruppen über das Maß der bereits am 8. August 1919 genehmigten Truppenstärke hinaus10 in die bezeichnete Zone vorgehen, so bittet die Deutsche Regierung, hierzu nachträglich auch die ausdrückliche Genehmigung erteilen zu wollen. Es handelt sich dabei nicht um ein Vorgehen gegen die arbeitende Bevölkerung, deren Vertreter vielmehr selbst dringend um Hilfe gebeten haben, sondern nur um die Bekämpfung anarchistischer Elemente. Die Kontrolle über das Unternehmen11 ist dem Reichskommissar und Preußischen Minister des Innern Severing übertragen worden12, der sich in Münster aufhält und ohne dessen Zustimmung keinerlei militärische Maßnahmen ergriffen werden dürfen. Die Deutsche Regierung zweifelt nicht daran, daß die Alliierten Regierungen unter diesen Umständen unter Berücksichtigung der deutschen Notlage ihre Zustimmung erteilen werden. Sie wiederholt in eindringlichster Weise ihr schon früher gemachtes Anerbieten, jede denkbare Garantie dafür zu geben, daß die Truppen unverzüglich nach Wiederherstellung der Ordnung zurückgezogen werden. Insbesondere würde sie auch bereit sein, der Entsendung einer interalliierten Kommission zuzustimmen, die sich an Ort und Stelle davon überzeugen könnte, bis wann die Gegenwart der Truppen durch die Verhältnisse gerechtfertigt ist, und der in jeder Beziehung Erleichterung zur Feststellung der Tatsachen gewährt werden würde.

Die Deutsche Regierung hofft, daß sich die Alliierten Regierungen der Erkenntnis nicht verschließen werden, daß Deutschland sich in einer Lage befindet, die gebieterisch ein Einschreiten erfordert, und in der jede Stunde des Zögerns <nicht wieder gutzumachendes>13 Unheil nach sich ziehen würde. Zugleich glaubt sie aber auch, dem Geiste des Friedensvertrages nicht entgegenzuhandeln. Die hier in Frage kommenden Bestimmungen des Friedensvertrages[24] dienen, wie Artikel 44 klar erkennen läßt, der Sicherung des Weltfriedens. Die Maßnahme, zu der sich die Deutsche Regierung in äußerster Not entschlossen hat, ist nach ihrem Grund und Zweck als [!] eine rein polizeiliche Schutzmaßnahme, bei der vorübergehende Verstärkungen der bereits für diese Zwecke in der Zone zugelassenen, aber gegenwärtig nicht ausreichenden militärischen Verbände sich als nötig erwiesen haben14. Weit entfernt davon, einen feindseligen Akt gegen die Alliierten oder eine Störung des Weltfriedens darzustellen, dient sie vielmehr gerade der Aufrechterhaltung von Ordnung und Frieden15. Die Deutsche Regierung hat nach wie vor den festen Willen, ihren Verpflichtungen loyal nachzukommen. Gerade hierfür aber bedarf es der schleunigen Wiederherstellung der staatlichen Autorität in einem Gebiet, dessen Ruhe und Ordnung die wesentliche Voraussetzung für die Durchführung der wichtigsten Bestimmungen des Friedensvertrages bildet16.

gez. Reichskanzler Hermann Müller

Fußnoten

1

Diese Weisung dürfte Ergebnis der Kabinettssitzung sein, die am 2. 4. abends stattfand (Telefongespräch UStS Alberts mit Severing am 2.4.20). Die Weisung wurde am 2. 4. um 22.45 nach Paris telegrafiert (Vermerk auf dem Konzept; R 43 I /2728 , Bl. 308-314; abgedruckt in Schultheß 1920 II, S. 326 f.).

2

S. hierzu Dok. Nr. 8, P. 4. Zur weiteren Entwicklung heißt es in der „Aufzeichnung über die zwischenstaatlichen Verhandlungen […]“ (s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 2): „Am Abend des 1. 4. teilte Dr. Mayer der Frz. Regierung auftragsgemäß mit, daß die Deutsche Regierung, falls die Frz. Regierung den Einmarsch nicht gestatte, die Verantwortung für alle daraus entstehenden Folgen ablehnen müsse. – Am 2. April abends erneuerte die Frz. Regierung in Beantwortung dieser Note ihre Forderung auf Besetzung der deutschen Städte und sofortige Zurückziehung der im Ruhrgebiet einmarschierten Truppen“ (R 43 I /2728 , Bl. 242). Unberücksichtigt in dieser „Aufzeichnung“ ist das Telegramm Nr. 130 des deutschen Geschäftsträgers in Paris vom 2. 4., das um 17 h in Berlin aufgenommen wurde: „Bitte dringend, Einmarsch wenigstens solange aufzuschieben, bis sich Erfolg der heute hier unternommenen Schritte übersehen läßt“ (R 43 I /2728 , Bl. 319).

3

Im Konzept hieß es zunächst: „Kommunisten und Mob haben“ (R 43 I /2728 , Bl. 308-314, hier: Bl. 310).

4

Die folgenden vier Worte waren im Konzept zunächst nicht vorgesehen.

5

Im Konzept zunächst danach: „kommen muß“.

6

Im Konzept zunächst: „wäre“.

7

Der folgende Nebensatz lautete zunächst: „weil die auf aufständischer Seite Beteiligten, die sie abgeschlossen haben, nicht mehr die Macht haben, um sie durchzuführen“ (R 43 I /2728 , Bl. 308-314, hier: Bl. 311).

8

Brecht notierte am Rand dieses Abschnitts: „etwas dürftig und oberflächlich“ (R 43 I /2715 , Bl. 132 f., hier: Bl. 132).

9

Der folgende Satz lautete zunächst im Konzept: „Die Deutsche Regierung hat daher geglaubt, die ausdrückliche Zustimmung der Alliierten Regierungen zu dem Einmarsch deutscher Reichswehrtruppen in die bezeichnete Zone nicht mehr abwarten und den Vormarsch der Truppen nicht weiter aufhalten zu dürfen“ (R 43 I /2728 , Bl. 308-314, hier: Bl. 311).

10

Der „Oberste Rat“ hatte am 8.8.19 Deutschland gestattet, vom 10. 1. bis 10. 4. in der demilitarisierten Zone 20 Bataillone, 10 Schwadronen und 2 Batterien zu unterhalten, die nach dem Enddatum von Polizei abgelöst werden sollten.

11

Im Konzept war als Anfang des Satzes vorgesehen: „Die Leitung des Unternehmens“ (R 43 I /2728 , Bl. 308-314, hier: Bl. 312).

12

Der folgende Nebensatz war im Konzept nicht vorgesehen.

13

Als Attribut war im Konzept vorgesehen „unabänderliches“ (R 43 I /2728 , Bl. 308-314, hier: Bl. 313).

14

Das Reichswehrkommando 6 (Münster) telegrafierte der Rkei am 3. 4.: „Bis heute sind in neutraler Zone eingesetzt 18 Bataillone 6 Schwadr[onen], 15 Batt[e]r[ien], und zwar in Linie Dinslaken, Gladbach, Buer, Recklinghausen, Waltrop. Genehmigt sind 10 Batl., 3 Schwdr., 2 Battr. Stärke der Batlne so gering, daß insgesamt bisher nur 5400 Mann Infanterie gegen 18 000 genehmigte Stärke eingesetzt sind“ (R 43 I /2715 , Bl. 209).

15

Hierzu heißt es in der Antwortnote, die der frz. MinPräs. dem Geschäftsträger Mayer am 3. 4. abends übergab: „Ich erfahre andererseits, daß Herr von Haniel, UStS im AA, dem General Barthélemy (Vertreter des General Nollet) ausdrücklich bestätigt hat, daß die Deutsche Regierung dem RKom., Herrn Severing, für die Verwendung der zu Operationen im Ruhrgebiet zusammengezogenen Truppen volle Handlungsfreiheit gegeben hatte und daß sie die Verantwortung für die Handlungen dieser Truppen in der neutralen Zone übernimmt. (Telephonische Meldung aus Berlin vom 3. 4., 17.35). Ich erfahre außerdem, daß der Angriff der Reichswehr schon am 2. 4. begonnen hat und daß die Truppen bis nördlich von Dortmund und Duisburg vorgegangen sind. Durch diesen unvermittelten Vormarsch hat die Deutsche Regierung den Artikel 44 verletzt, dessen feierliche Fassung ich Ihnen ausdrücklich in Erinnerung bringen möchte: […] Die Entscheidung der Französischen Regierung werde ich Ihnen später zur Kenntnis bringen“ (R 43 I /2728 , Bl. 291-292).

16

Die Einstellung der RReg. zu ihrer Entscheidung, ins Ruhrgebiet einzumarschieren, geht aus einer Tagebucheintragung des RIM vom 3. 4. hervor, in der er noch einmal die Kabinettssitzung vom 2. 4. reflektiert: „Zwischen Kapp-Scylla und Roter Armee-Karyptis einigermaßen hindurch kommen wir nun in den Rachen der Franzosen. Sie lassen uns nicht einmarschieren in das Ruhrgebiet trotz der verzweifelten Verhältnisse dort. Gefahr, daß Rheinland abspringt. Kohlenproduktion vorm Ende. Katastrophe in Deutschland steht bevor. Zögern muß zum Verderben führen. – Allerdings werden die Hunde von Franzosen in Frankfurt einmarschieren. Das gibt neue Unruhe. Der Friedensvertrag wird von den Franzosen als aufgehoben erklärt werden. Im Innern werden die Radikalen Opposition machen. Aber all das kann nur zum Verderben führen, während ein Zögern zum Verderben führen muß. – Ein Jammer ist, wie schlecht die Presse von Ulrich Rauscher unterrichtet ist. Während wir immer gewußt haben, daß die Verhandlungen mit bewaffneten Verbrechern nicht zum Ziele führen, aber nötig sind, um das durch Kapp verschuldete Mißtrauen der Arbeiterschaft zu beschwichtigen, ferner um Zeit zu militärischen Vorbereitungen zu gewinnen (das war allerdings nur anfangs nötig) und um Zeit zu gewinnen zum Abschluß der Verhandlungen mit der Entente, hat der Esel immer von einer Entspannung der Lage durch die Verhandlungen geredet und dadurch die ganze öffentliche Meinung auf Abwege gebracht. Das sollte wohl der Beruhigung der Arbeiterschaft dienen, machte [sie] jetzt aber nur umso empfindlicher gegen jeden militärischen Vorstoß, da sie nichts von der Schreckensherrschaft der Kommunisten, die das Vorgehen der Truppen unvermeidlich macht, weiß. Ministerkrise, Parlamentsgeschwätz hat uns mehr abgelenkt als wichtig. Müller selbst ist auch weich und unentschlossen. – Nun ist das Militär zum kleinen Teil bereits eingerückt. Dabei ist Abschluß der Verhandlungen in Paris erst heute Abend zu erwarten [s. dazu o. Anm. 15]. Die Franzosen verlangen Erklärungen. Geßler wollte erklären, daß das Militär ohne Weisung oder gegen Weisung gehandelt habe. Tauroggen, wie er sagt. Bauer erklärt, daß das [das] Verkehrteste sei, weil die Franzosen dann von der Eigenmacht und Allmacht der Generäle leben würden, gerade wie im Baltikum, wo sie auch erst in das Unternehmen hineingehetzt hätten. Man solle zugeben, daß wir bei der furchtbaren Lage und in Kämpfe verwickelt nicht anders hätten handeln können. Ich stimme zu, mache aber darauf aufmerksam, daß der RK vorgestern im RT erklärt habe, die Franzosen hätten den Einmarsch bereits gestattet, und daß Millerand Mayer gegenüber zugegeben habe, daß die Erklärungen Paléologues wohl so hätten aufgefaßt werden können (wie denn ja Millerand unter dem Druck der Militärpartei umgeschwenkt ist). Man solle sich aber auch darauf berufen, daß unter dem Eindruck der Erklärung des RK die verantwortlichen Stellen so handeln konnten, wie geschehen. So wird beschlossen. – Mehrheit will aber morgen, mag Millerand antworten, wie er will, auf alle Fälle einmarschieren. Dafür Bauer, Riezler, Geßler, Hermes, Koch, Giesberts, Schmidt, dagegen die Diplomaten namentlich Haniel, auch Brecht. Müller schwankend. – Legien hat Albert heute telefonisch erklärt, er sei jetzt auch für das schärfste Vorgehen. Im übrigen erbitte er sich Pässe nach Holland. Weg mit dem Feigling“ (BA: Nachlaß Koch-Weser  27).

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