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[268] Nr. 62
Der Reichswirtschaftsminister an den Reichsministerpräsidenten. 7. Mai 1919
R 43 I/926, Bl. 14-181
[Betrifft: Differenzen zwischen Kabinettsmitgliedern in Fragen der Wirtschaftspolitik]
Werter Genosse Scheidemann!
Heute morgen habe ich den in der Vossischen Zeitung wohl am ausführlichsten wiedergegebenen Bericht über die gestrige Sitzung des Friedensausschusses gelesen. Die von Dernburg gemachten Ausführungen2 machen es[269] mir unmöglich, mein Amt als Wirtschaftsminister weiterzuführen. Die im ersten Satz der fettgedruckten Stelle3 in der Vossischen Zeitung Dernburg in den Mund gelegte Äußerung hat nach dem Bericht meines Herrn Referenten, der der Sitzung beiwohnte, noch viel entschiedener zu Gunsten des freien Handels gelautet. Dernburg hat ganz seine persönliche Meinung, wie er sie in den Vorberatungen im Kabinett4 und der Ämtersitzung5 vorgestern und gestern vertreten hatte, als die Kabinettsmeinung vorgetragen. Eine solche Erklärung – auch in der Form, wie sie die Vossische Zeitung wiedergibt – macht jetzt, selbst wenn man sich wieder auf den von mir für die Wirtschaftsführung vertretenen Standpunkt stellen würde, eine Leitung der Wirtschaft fast unmöglich. Eine Unruhe ist in das Wirtschaftsleben getragen, alle Kreise, die nur an sich und nicht an die Allgemeinheit denken, die da hoffen, es möge kommen wie es wolle, sie würden doch ihr Geschäft machen, werden wie nie zuvor Stoff zur Agitation haben. Mit Widerständen ganz bewußter und versteckter Art müßte man rechnen, die jedem, die Wirtschaftsführung nach gemeinwirtschaftlichen Gesichtspunkten betreibenden Minister sein Amt so erschweren, daß ich nicht absehen kann, ob man noch zu einer, die Allgemeininteressen über das Einzelinteresse stellenden Leitung des Wirtschaftslebens wird kommen können.
Nichts hat das Kabinett über die Bestellung eines Reichskommissars zur Beschaffung von Zahlungsmitteln beschlossen. Neben dem dreiköpfigen Ausschuß ist für ihn kein Raum6.
Der Vorstoß Dernburgs ist ein ganz bewußter; er will das Kabinett auf seinen Standpunkt festlegen, von dem aus wohl dem Handel zur Zeit große Gewinne verschafft würden, der aber das Allgemeinwohl so schlägt, daß wir wirtschaftlich unrettbar zusammenbrechen. Es war schon ein von vornherein abgekartetes Spiel, welches Dernburg, Erzberger und Gothein am Montag7 eröffneten und in dem nun die Trümpfe ausgespielt werden. Das Ziel dieses Vorstoßes ist kein anderes, als unter dem Vorwand der Förderung der Lebensmitteleinfuhr die bisherige gebundene Wirtschaft, die notwendig aufrecht erhalten werden muß, zu zerschlagen. Das haben leider unsere eigenen Parteigenossen in der Regierung nicht erkannt. Sie sehen in diesen und auch in den früheren Differenzen nichts anderes als Ressortstreitigkeiten, während es sich in Wirklichkeit um für unsere ganze Volkswirtschaft grundsätzlichste Fragen handelt. Ich verkenne nicht die Mängel der bisherigen Ein- und Ausfuhrregelung und habe mich bemüht, sie nach Möglichkeit zu beseitigen. Diese Mängel lassen[270] sich auch beheben. Sie liegen in der Organisation begründet, nicht im System. Dieses bringt manche Unbequemlichkeit, und manches private Gewinninteresse muß bei diesem System verletzt werden. das ist aber auch das Ziel dieses Systems, das die Gesamtinteressen über das Einzelinteresse zu stellen sich bemüht.
Ich kann nunmehr ein Lavieren nicht mehr mitmachen. Wir segeln, wie bei der Erzbergerschen Waffenstillstandspolitik, in die Brandung und in das Scheitern unseres Schiffes hinein. Wohin uns diese bisherige Methode geführt hat, ergeben die Tatsachen, wie sie für unsere Wirtschaft zur Zeit vorliegen.
Immer hat das Reichswirtschaftsministerium gefordert, wir dürften unsere Zahlungsmittel nicht nur für die Lebensmittel verausgaben, wir müßten auch Rohstoffe hereinschaffen, damit in Zukunft gearbeitet werden könne. Man hat diesem Verlangen keine Rechnung getragen. Das Reichswirtschaftsministerium hat sich damit abgefunden. Daß ich aber nunmehr meine Zustimmung dazu geben soll, die wenigen Sparstoffe, die wir noch besitzen, zur Bezahlung der Lebensmittel auszuführen, überschreitet die Grenze, die ich noch eben einhalten kann. Ich glaubte, daß der gestrige Beschluß8 diese Grenze noch eben vermieden habe. Ich sehe aus dem Vorstoß Dernburgs, daß man mich über diese Grenze hinüberdrängen will. Das kann nur ein Wirtschaftsminister mitmachen, der am Amt klebt oder einen nichtsozialistischen Standpunkt wie Dernburg und Konsorten vertritt.
Was nützt uns die theoretische Möglichkeit, Rohstoffe später wieder einzuführen, die jetzt verkauft werden, nur um Zahlungsmittel zu beschaffen; womit sollen wir sie bezahlen, wenn wir alle Zahlungsmittel an Werten und Gütern jetzt ausführen?
Ich stelle die Denkschrift für den Plan, wie wir ihn mit Bauer besprochen haben und der eine grundsätzliche Klärung in den Fragen unserer Wirtschaftspolitik herbeiführen sollte, noch heute in der Form fest, wie sie den Kabinettsmitgliedern vorgelegt werden sollte9, nachdem zuvor eine Verständigung auch zwischen den sozialistischen Mitgliedern des Kabinetts herbeigeführt sei. Ich kann es auf diese Verständigung nunmehr nicht mehr ankommen lassen, denn die Dinge entwickeln sich rascher, als vorauszusehen war. Wer auch an meine Stelle tritt, nur auf diesem Wege läßt sich noch etwas machen, nur dann, wenn Klarheit in den grundsätzlichen Zielen erreicht wird. Für mich sehe ich keine Möglichkeit einer ersprießlichen Arbeit, auch wenn dieser Plan von Ihnen im Kabinett durchgezogen werden sollte. Ich habe zu vielen, die nicht weitsichtig[271] genug denken, auf die Füße treten müssen, als daß es mir möglich erschiene. Sicher bin ich auch Ihnen oft unbequem geworden. So sehr ich mich bemühe, persönlich mit jedem gut auszukommen, so sehr aber auch kann ich in grundsätzlichen Fragen keine Kompromisse machen. Das wollen Sie bitte für mein bisheriges Verhalten und meinen jetzigen Schritt in Betracht ziehen.
Ich warne Sie dringend, etwa glauben zu wollen, daß mit einem Lavieren die Situation noch gerettet werden könnte. Jetzt heißt es biegen oder brechen. Sucht man das ungleiche Gespann, das im Kabinett vereinigt ist, indem die eine Seite, unsere eigenen Genossen, nicht den gleichen Tritt gehen, noch einmal gemeinsam vor dem Wagen zu spannen, dann läuft der Wagen in allerkürzester Zeit unrettbar fest. Jetzt heißt es, eine rein sozialistische Regierung zu bilden. Bei der Not unseres Landes kann die bürgerliche Mehrheit der Nationalversammlung die Sozialdemokratie nicht entbehren. Ihr kann es auch nicht zweifelhaft sein, daß die bürgerliche Mehrheit selbst keine Regierung bilden kann, die uns über die jetzige Zeit hinweghilft.
Der Vorstoß Dernburgs ist ein so gröblicher Mißbrauch der in der Übertragung der Mitteilung des Kabinettsbeschlusses an die Friedenskommission liegenden Befugnis, daß dieser Mißbrauch und seine unwahren Mitteilungen mich veranlassen, den Zeitungen die Nachricht zugehen zu lassen, daß an den Mitteilungen Dernburgs nur die Tatsache der Bildung des dreiköpfigen Ausschusses des Kabinetts zur Förderung der Beschaffung von Zahlungsmitteln für die Lebensmitteleinfuhren richtig sei.
Ich bin bereit, ohne in Zukunft an den Kabinettssitzungen selbst noch teilzunehmen, um in den laufenden Amtsgeschäften keine Störung eintreten zu lassen, die Amtsgeschäfte solange zu führen, bis Sie einen Nachfolger bestimmt haben10. Hierzu halte ich mich um so mehr verpflichtet, als Herr von Moellendorff meinen Entschluß zu dem seinen macht und ebenfalls aus dem Amte scheiden wird.
Ich habe mir erlaubt, Abschrift dieses Briefes auch dem Herrn Reichspräsidenten zuzusenden.
Mit bestem Gruße
Ihr
Rud.[olf] Wissell
Fußnoten
- 1
Das Schreiben trägt keine Journalnummer und steckt in einem Umschlag mit der handschriftlichen Aufschrift „Schreiben des Ministers Wissell an den H[errn] M[inister] P[räsidenten]“.
- 2
Die Vossische Zeitung, Nr. 229, vom 7.5.1919 meldete: „In der gestrigen Sitzung des Friedensausschusses der NatVers […] machte RFM Dernburg außerhalb der Tagesordnung außerordentlich bedeutsame Mitteilungen über einen Kabinettsbeschluß, der gestern gefaßt wurde, um die Finanzierung der Lebensmittelbeschaffung für die nächste Zeit nach Möglichkeit sicherzustellen.
Wir haben bekanntlich zwischen vier Zahlungsmitteln zu wählen: Gold, gewisse Auslandswertpapiere, Kredit und Waren. Unseren Goldbestand dürfen wir, wenn möglich, nicht weiter angreifen. Die Beschaffung der Auslandswertpapiere hat unter dem Bankbeamtenstreik und anderen Umständen sehr empfindlich gelitten, so daß das bisherige Ergebnis gering ist. […] Der Kredit des Reiches ist durch die Papiergeldwirtschaft außerordentlich geschwächt, und der Kredit der privaten Firmen kommt für die Verhandlungen von Regierung zu Regierung kaum in Betracht. Es bleibt also nur das Mittel der Warenbeschaffung für den Absatz ins Ausland.
Dafür ist es nötig, die Fesseln zu lösen, die bisher unseren Außenhandel behindert haben und so vorzugehen, daß weder das Interesse der inländischen Verbraucher noch das allgemeine Interesse notleidet. Die Durchführung der Maßnahmen, die mit größter Beschleunigung zu treffen sind, muß fest in einer Hand vereinigt sein. Keinerlei Ressortstreitigkeiten und keinerlei andere Widerstände dürfen hindernd dazwischen treten. Das Kabinett habe deshalb beschlossen, einen Reichskommissar zur Beschaffung von Zahlungsmitteln in der erwähnten Art zu ernennen. Es werde zugleich für die Aufgabe ein Gremium von drei Kabinettsmitgliedern gebildet werden, in dem der RWiM den Vorsitz führt und dem der RE- und der RSchM angehören, das mit außerordentlichen Vollmachten ausgerüstet und daher in der Lage ist, alle etwa auftretenden Widerstände durch einfachen Beschluß zu brechen. Dtl. habe noch Waren genug, die es ausführen könne und vermöge solche Waren auch neu herzustellen. Die RReg. habe nunmehr die nötigen Schritte eingeleitet, um solche Waren den unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten dienstbar zu machen, indem sie die geschilderten Maßnahmen zur Belebung des Ausfuhrhandels beschlossen habe, die ungesäumt zur Ausführung kommen sollen.“
- 3
Siehe Anm. 2, Abs. 3, Satz 1.
- 4
- 5
Weitere Hinweise auf die erwähnte Ämtersitzung sind in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln.
- 6
Dem von RKab. während der Sitzung am 6.5.1919 gefaßten Beschluß zufolge gehörte die Beschaffung von ausländischen Zahlungsmitteln unmittelbar zu den Aufgaben des Diktatorischen Wirtschaftsausschusses, s. Dok. Nr. 61, P. 1; vgl. Dok. Nr. 89, Anm. 10.
- 9
Die Denkschrift des RWiMin. vom 7.5.1919 s. Dok. Nr. 63 a. In einem Schreiben an RArbM Schlicke vom 6.7.1919 berichtete Wissell, er habe „Anfang Mai Bauer schriftlich gebeten, sich doch darüber zu äußern, ob wir die Vorschläge nicht gemeinsam dem Kabinett unterbreiten wollten, da es sich um Fragen handele, die nur in engster Zusammenarbeit zwischen Arbeitsministerium und Wirtschaftsministerium gelöst werden könnten.“ Bauer habe daraufhin telefonisch Bedenken gegen einzelne Teile der Denkschrift erhoben, woraufhin Änderungen vorgenommen worden seien. „Eine klare Antwort“, fährt Wissell fort, „konnte ich aber nicht von Bauer bekommen, und so blieb es mir bei der ganzen Entwicklung, die die Dinge dann im weiteren nahmen, nichts übrig, als die Denkschrift als eigene an das Kabinett zu leiten.“ (Nachl. Moellendorff, Nr. 87).
- 10
Weitere Hinweise auf die Rücktrittsabsichten des RWiM sind in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln; vermutlich erlaubte der nichtamtliche Charakter des Schreibens es Scheidemann, das Problem in ähnlich informeller Art zu lösen.