2.56.3 (vsc1p): [Anlage 2.]

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Text

RTF

[241] [Anlage 235.]

R 43 I /1459 , S. 15–17

Vortrag36.

Betr.: Vorgehen gegen den Reichstag.

Für eine aktive Regierungspolitik gegenüber dem Reichstag ergeben sich, falls Neuwahlen vermieden werden sollen, drei Möglichkeiten:

1. Auflösung des Reichstags bei Bevorstehen eines Mißtrauensvotums. Aussetzung der Neuwahlen.

Vorteil: Völlige Ausschaltung des Parlaments.

Nachteil: Die Aussetzung der Neuwahlen wird von der Opposition als offene Verfassungsverletzung bezeichnet werden. Die Parteien werden der Regierung Illegalität vorwerfen. Auch vom Zentrum ist starker Widerstand zu erwarten. Die Regierung wird sich dauernd in der Verteidigung gegen derartige Parteiagitation befinden37.

2. Zwangsvertagung.

Begründung hierfür: Reichstag ist nicht arbeitsfähig. Der bestehende Unsicherheitszustand schafft Beunruhigung und erschwert wirtschaftliche Stabilisierung. Auflösung und Neuwahlen haben keinen Zweck, da sie wesentliche Änderung der Parteiverhältnisse nicht bringen werden. Daher Reichstag auf bestimmte Zeit vertagen. Falls Parteien Vorschlag zu positver Mehrheit und Arbeit machen können, kann über Aufhebung der Vertagung gesprochen werden.

Vorteil: Regierung erhält Atempause vor dem Reichstag. Entscheidung über Dauer der Vertagung wird den Parteien zugeschoben. Auflösung und Frage der Neuwahlen werden vermieden.

Nachteil: Zwangsvertagung stellt gleichfalls eine erhebliche Abweichung von der Verfassung dar38. Sie wird daher den Widerspruch nicht nur der N.S.D.A.P., sondern auch der parlamentarisch eingestellten Parteien (Zentrum) finden.

[242] 3. Nichtanerkennung eines Mißtrauensvotums und Bestätigung der Regierung durch den Reichspräsidenten.

Begründung hierfür: Das Mißtrauensvotum bringt nur eine negative Willensäußerung des Reichstags zum Ausdruck, ohne positive Wege zu zeigen. Auflösung und Neuwahlen sind, solange der Reichstag derart arbeitsunfähig ist, zwecklos. Da aber regiert werden muß, kann ein lediglich negatives Mißtrauensvotum nicht zum Sturz der Regierung führen. Diese wird vielmehr bestätigt, bis der Reichstag einen anderen positiven Vorschlag macht. Mahnung an den Reichstag, durch Gesetzgebungsarbeit seine Daseinsberechtigung zu erweisen.

Vorteil: Dieser Weg stellt den verhältnismäßig geringsten Konflikt mit der Verfassung dar. Die Rechte der Regierung werden voll gewahrt, ohne daß der Reichstag sich vergewaltigt fühlen kann. Staatsrechtlich wird der Schritt gedeckt durch umfangreiches Schrifttum über die Unbrauchbarkeit des Artikels 54 RV39. Der Reichstag wird selbst vor die Wahl gestellt, ob er arbeiten oder einflußlos, wie der Preußische Landtag, hinvegetieren will. Tut er das, so beweisen die Parteien täglich ihre Unfähigkeit vor dem ganzen Volke, ohne die Vergewaltigten spielen zu können.

Nachteil: Der Reichstag kann zum Fenster hinausreden und Agitationsentschlüsse fassen. Das ist aber ungefährlich, da er seine schwerste Kanone mit dem Mißtrauensvotum schon abgeschossen hat. Wirksam werden könnte die Tätigkeit des Reichstags erst, wenn er tatsächlich rechtsgültige Gesetze verabschieden würde. Das ist aber seine eigentliche Aufgabe, zu der er sich wieder[243] zurückfinden muß. Sollte hierbei ein Konflikt mit der Regierung zu ernstlichen Schwierigkeiten führen, so bleibt dann immer noch der Weg zur Auflösung offen.

Die unter 3. vorgeschlagene Lösung entspricht auch den Grundzügen, nach denen eine Verfassungsreform wahrscheinlich verfahren muß:

Beschränkung des Reichstags im wesentlichen auf die Legislative. Rechtswirksamkeit eines Mißtrauensvotums nur, wenn hinter ihm der positive Wille einer Mehrheit zu anderer Gestaltung der Politik steht.40

Fußnoten

35

Die auf den 20.1.1933 datierte Vortragsnotiz stammt, dem Aktenzeichen nach zu urteilen, aus der Wehrmachtsabt. des RWeMin. Sie wurde lt. hschr. Kopfvermerk dem Protokoll der Ministerbesprechung vom 16. 1. als Anlage beigefügt.

36

Aus den Aufzeichnungen des Oberst v. Bredow ergibt sich, daß schriftliche Vorlagen an den RWeM im RWeMin. als „Vortrag“ bezeichnet wurden. Ob neben der schriftlichen Vorlage auch ein mündlicher Vortrag mit nachfolgender Besprechung stattfand, läßt sich nicht feststellen.

37

Vgl. dazu Dok. Nr. 60, 70 und 73. – Die hier vorgenommene, im wesentlichen negative Bewertung der Aussetzung von RT-Neuwahlen unterscheidet sich erheblich von einer vorangehenden Skizzierung dieses Gedankens durch Schleichers Mitarbeiter Oberstlt. Ott nach dessen Gespräch mit den Staatsrechtslehrern Schmitt, Jacobi und Bilfinger am 13.9.1932, die ihm gerade diesen Weg unter Berufung auf einen „Staatsnotstand“ empfohlen hatten (Aufzeichnung in: R 43 I /1008 , Bl. 13 f.; vgl. dazu diese Edition: Das Kabinett v. Papen, Dok. Nr. 141, P. 1).

38

Die RV enthält keine Bestimmungen über die Vertagung des RT. Art. 24 Abs. 2 RV bestimmt lediglich, daß der RT selbst über den „Schluß der Tagung und den Tag des Wiederzusammentritts“ zu beschließen hat. Der Begriff „Schluß der Tagung“ ist parlamentsrechtlich genau fixiert und mit bestimmten Folgen verknüpft, z. B. dem Erlöschen der Abgeordnetenimmunität, dem Unwirksamwerden der bis dahin nicht erledigten Anträge und Gesetzesvorlagen. Um diese Folgen zu umgehen, hatte sich gewohnheitsrechtlich die „Vertagung“ entwickelt, die lediglich eine Unterbrechung der Sitzungsfolge für eine bestimmte Zeit darstellt, ohne die einschneidenden Folgen des Tagungsschlusses zu haben. So wurden nach Ablauf der Vertagung die parlamentarischen Arbeiten in dem Stand wieder aufgenommen, den sie am Tage des Vertagungsschlusses hatten. Darüber, daß der RT über Länge und Modalitäten einer Vertagung ausschließlich selbst durch Mehrheitsentscheidung zu befinden hatte, haben nie Zweifel bestanden, da es unlogisch gewesen wäre, dem RT zwar die Entscheidung über einen viel folgenreicheren „Tagungsschluß“ zuzugestehen, über die bloße Vertagung jedoch nicht. Eine von der RReg. angeordnete „Zwangsvertagung“ bedeutete daher einen Verfassungsbruch. – Zur Rechtslage vgl. Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. S. 172 ff.

39

Die Frage der politischen und rechtlichen Tragweite eines Mißtrauensvotums nach Art. 54 RV war seit Jahren Gegenstand von Kontroversen, weil man an der mangelhaften Formulierung der Verfassungsbestimmung Anstoß nahm: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“ Seit Mitte der zwanziger Jahre erörterte man vor allem die Beschränkung dieser Verfassungsvorschrift auf das rein Formale: Vorausgesetztes Vertrauen bis zum Vorliegen eines Mißtrauensantrags, rechtsgültiger Beschluß des RT und automatisch folgender Rücktritt. Die Diskussion beschäftigte sich auch mit der Frage nach den möglichen Motiven eines Mißtrauensantrages. Carl Schmitt hatte als erster schon 1928 das Problem der sog. „negativen Mehrheit“ herausgestellt, das entstehen konnte, wenn zufällige Mehrheiten sich nur darin einig waren, einer RReg. das Mißtrauen auszusprechen, sonstige politische Gegensätze sie aber unfähig machten, nach einem erfolgreichen Mißtrauensantrag selbst eine neue RReg. zu bilden (Carl Schmitt: Verfassungslehre. S. 345). Den Stand der Diskussion hatte Richard Thoma 1930 in dem Satz zusammengefaßt: „Der Fehler ist der, daß die Reichsverfassung jedem Mißtrauensvotum die Kraft der Abberufung der Regierung beilegt, auch demjenigen, dessen Mehrheit sich aus völlig heterogenen, unter sich verfeindeten und aus gegensätzlichen Motiven dafür stimmenden Gruppen zusammensetzt.“ (Richard Thoma: Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems. In: Anschütz-Thoma: Handbuch des deutschen Staatsrechts. Bd. I, S. 511) Während Schmitt aus diesen Mängeln des Art. 54 RV schon 1928 die Folgerung zog, daß es sich im Fall der negativen Mehrheit um eine bloße Obstruktion handele, die keine Rücktrittspflicht für die RReg. auslöse, sah Thoma die (allerdings dringende) Notwendigkeit einer klärenden Änderung des Verfassungstextes. – Zu Art. 54 RV s. auch Dok. Nr. 68.

40

Das mschr. Manuskript ist am 20.1.1933 mit zwei hschr. Paraphen abgezeichnet worden. Einmal könnte es sich um die Paraphe des Adjutanten des RWeM, von Wechmar, oder die des Mitarbeiters Otts in der Wehrmachtsabt. des RWeMin., Böhme, handeln. Zum anderen trägt es die Paraphe Otts mit dessen hschr. Vermerk: „Weg 1!“ – Ott galt nach dem Urteil v. Bredows im RWeMin. als „Spezialist für Artikel 48. Ihm kommen besonders in dem häufigen Verkehr mit den Staatsrechtslehrern immer neue Gedanken.“ Böhme hatte im Auftrag Otts im August 1932 eine Studie „über weitere Anwendung des Artikels 48 und Schaffung eines Präsidialrats“ ausgearbeitet, die RWeM v. Schleicher damals vorgelegt worden war („Kurzorientierung“ von Bredows vom 23.8.1932; Nachl. v. Bredow , Nr. 1, Bl. 108).

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