2.141.1 (bau1p): [Anlage.]

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[Anlage.]

Zur Kohlenfrage.

Die große Gefahr, die die noch ganz unzureichende Kohlenversorgung2 in sich birgt, veranlaßt mich eine erneute Einstellung des Personenverkehrs für 10 bis 14 Tage noch im Laufe dieses Monats in Vorschlag zu bringen3.

[504] Die immer wieder eintretenden Stillegungen lebenswichtiger Betriebe, großstädtischer Kraft-, Licht- u. Gaswerke sowie großer Industriebetriebe halten das wirtschaftliche Leben in ständiger Unruhe. Zehntausende von Arbeitern werden immer wieder aus der Gewohnheit geordneter Arbeitsverhältnisse herausgerissen, wichtigste volkswirtschaftliche Wiederherstellungsarbeit wird durchkreuzt, der ganze schon ohnehin so schwierige wirtschaftliche Genesungsprozeß wird auf’s schwerste gehemmt. Hinter so labilen wirtschaftlichen Zuständen lauert die ständige Gefahr erneuter politischer Unruhen.

Nur einem glücklichen Zufall, dem unvermuteten Eintritt ganz milder Witterung haben wir es zu danken, daß die vielfachen vereinzelten Wirtschaftsstörungen der letzten Wochen sich nicht katastrophal erweitert haben. Aber jede neue Störung durch ungünstige Witterung oder Streiks im Verkehrsgewerbe stellt uns immer wieder vor eine Katastrophe. Unsere ganze Wirtschaft lebt von der Hand in den Mund.

Das Gefühl des ständigen Bedrohtseins infolge des möglichen Versagens eines elementaren Lebensfaktors unserer Wirtschaft hält die allgemeine Stimmung unter schwerem Druck und verhindert das Aufkommen wirtschaftlicher, politischer und allgemein menschlicher Zuversicht und eines gesunden Vertrauens in die neuen Zustände.

Dieser Unsicherheitsfaktor ersten Ranges muß heraus aus unserem volklichen Dasein. Die Kohlenversorgung für die Verkehrsanstalten und sonstigen lebenswichtigen Betriebe sowie für die großen Industrieunternehmungen muß durch Vorratsanhäufung für mindestens 3 bis 4 Wochen sichergestellt werden. Nur dann kann man zeitweiligen Störungen durch widrige Naturverhältnisse oder Arbeitseinstellungen im Verkehrswesen oder in der Kohlenproduktion selbst mit einiger Ruhe begegnen.

Lägen die derzeitigen großen Haldenbestände auf den Kohlenplätzen der Bahnhöfe, der Kraft- u. Lichtwerke, der industriellen Betriebe etc., so wäre schon ein guter Schritt zur Besserung getan. Alle Schädigungen, die durch die zeitweise Unterbindung des Reichseverkehrs entstehen, sind gering anzuschlagen gegenüber dem ungeheuren Vorteil, der sich aus der Sicherstellung der Kohlenversorgung durch ausreichende Vorratsanhäufung ergibt. Es gibt aber offenbar kein anderes Mittel als die Personenverkehrssperre, um aus dem verhängnisvollen Zirkel Kohlennot – Transportnot – Produktionsnot herauszukommen.

Hinter der Lösung dieser nächstnotwendigen Aufgabe liegt dann das Problem der weiteren Sicherung und Steigerung der Kohlenförderung in so ausgiebigem Maße, daß die gesamte Industrie ausreichend versorgt werden kann. Allen voran die Baustoffindustrie! Diese muß mit Eintritt der milderen Jahreszeit soweit versorgt sein, daß sie auf der ganzen Linie in Tätigkeit treten[505] kann, damit endlich der von ihr ausstrahlende Komplex schlimmster wirtschaftlicher Notstände der Gesundung entgegengeführt werden kann. Der Wohnungsbau und die noch wichtigere bäuerliche Landbesiedelung müssen endlich in raschen Fluß kommen.

Als dritte, über die Durchsetzung der beiden vorgenannten nächsten Ziele hinausgehende Aufgabe bleibt dann die weitere Steigerung der Ausbeute unserer Kohlen- und Kalilager weit über das Maß des Inlandbedarfs hinaus zum Zweck der Entschuldung unseres Landes und der Gesundung seiner außenwirtschaftlichen Verhältnisse. So hoch unsere Verschuldung an die Ententestaaten ist, der Wert unserer Kohlen- u. Kalilager stellt ein Vielfaches dieser Schuld dar. Die Hebung und Hergabe eines überschüssigen Teils dieser Bodenschätze ist in unserer gegenwärtigen Lage ein viel rascheres und rationelleres Verfahren der nationalen Entschuldung als die Schuldabtragung durch Export von Produkten qualifizierter Arbeit, in denen hereingekaufte Rohstoffe stecken. Er steht in zweiter Linie. Ich verkenne nicht die Gefahr, die der stark forcierte Abbau der uns verbliebenen Kohlen- u. Kalischätze für die fernere Zukunft haben kann. Aber diese Zukunft birgt auch neue technische und außenwirtschaftliche Lebensmöglichkeiten. Heute gilt es, unser Volk aus höchster Lebensnot zu retten und im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte zu wirtschaftlicher Gesundung und neuem Wohlstand zu führen.

Angesichts der zentralen Bedeutung, die das Kohlenproblem hat für die Überwindung der nächsten Gefahren wie für die ganze innen- und weltwirtschaftliche Wiederherstellung, stelle ich zur Erwägung, eine zentrale Stelle dafür zu schaffen. Sie wäre dem Reichswirtschaftsminister zu unterstellen, müßte aber zugleich in organischer Verbindung mit dem Reichsarbeitsministerium und dem Reichsverkehrsministerium resp. den Verkehrsministerien der Länder stehen. Steigerung der Förderung (betriebstechnische und Arbeiterfragen), Sicherstellung des Transports, Ordnung der Verteilung für die Innenwirtschaft und nach dem Ausland bilden einen so ineinander greifenden Komplex von Aufgaben, daß eine befriedigende Lösung nur von einem durchgreifenden Willen zu erwarten ist.

Das heutige Nebeneinander der Instanzen und Kompetenzen mit gelegentlichem Verhandeln und ständigen Reibungen bietet nicht die Bürgschaft vor weiterem Hinschleppen und dauernd unbefriedigender Lösung des fundamentalen Problems für unser ganzes volkswirtschaftliches Rettungswerk.

Fußnoten

2

Vgl. dazu den vom Vertreter des RKohlenKom. erstatteten „Bericht über den Stand der Kohlenversorgung, zur Sitzung des Reichskohlenrates am 14. Januar 1920.“ Danach betrug Ende 1919 die monatliche Steinkohlenförderung im Ruhrgebiet in Höhe von 6 563 000 t nur 68% der monatlichen Durchschnittsförderung des Jahres 1913 und 75% der monatlichen Durchschnittsförderung des Herbstes 1918. In Oberschlesien betrug Ende 1919 die monatliche Durchschnittsförderung in Höhe von 2 502 000 t nur 70% der Förderung vom Herbst 1918 und 68% von 1913. Dagegen sei die Rohbraunkohlenförderung infolge ihres kriegsbedingten Ausbaues für die auch heute noch vorrangig notwendige Stickstofferzeugung usw. um 13% über die Förderleistung von 1913 hinausgewachsen, doch könnten diese Fortschritte aufgrund der insgesamt geringeren Förderungen und der beschränkten Verwendungsfähigkeit der Braunkohle die erheblichen Förderausfälle bei der Steinkohle nicht entfernt ausgleichen. Die Förderausfälle, die Ententelieferungen, für die gerade die für die Eisenbahnen und die Eisenindustrie erforderlichen Kohlensorten beansprucht würden, sowie die Transportschwierigkeiten auf dem Lande und infolge anhaltenden Niedrigwassers auch auf dem Rhein ließen das dt. Wirtschaftsleben „immer mehr der Erstarrung anheimfallen“ (R 43 I /2184 , Bl. 107 f.).

3

Der Personenverkehr war zuletzt zur Behebung von Transport- und Versorgungsschwierigkeiten für die Zeit vom 5.–15.11.19 eingestellt worden (s. Dok. Nr. 93).

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