2.76.4 (sch1p): 4. [Rede des Reichsministerpräsidenten]

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4. [Rede des Reichsministerpräsidenten]

Der Ministerpräsident verliest einen Teil der von ihm für die Nationalversammlung vorbereiteten Rede. Von mehreren Seiten wird der Wunsch geäußert, das Wort „unannehmbar“ auszusprechen. Die Frage, ob der Vertrag schließlich unter dem Drucke der Gewalt, obwohl er sachlich unannehmbar sei, doch unterzeichnet werden müsse, werde dadurch nicht unbedingt entschieden. Das Unannehmbar soll vorläufig nur auf den Vertrag, wie er jetzt vorliege, bezogen werden.

Es wird einstimmig beschlossen, daß der Ministerpräsident den vorliegenden Vertrag unter Bezugnahme auf den einstimmigen Beschluß des Kabinetts als unannehmbar bezeichnet3.

Fußnoten

3

Hier verdeckt der kurze Text des Protokolls die stürmische Diskussion im RKab. über die Frage, ob das „unannehmbar“ ausgesprochen werden sollte. Erzberger berichtet in seinen Erinnerungen: „[…] Die demokratischen Mitglieder des Kabinetts forderten aber am Vormittag des 12. Mai, gestützt auf einen Beschluß ihrer Fraktion, daß die Regierung auch das Wort ‚unannehmbar‘ an diesem Tage auszusprechen habe. Ich erklärte mich, unterstützt von zwei sozialdemokratischen Ministern, gegen das Wort ‚unannehmbar‘ mit dem Bemerken: Ministerpräsident Scheidemann werde heute, wenn er das Wort ‚unannehmbar‘ ausspreche, einen gewaltigen Tageserfolg haben; die Regierung aber habe daran zu denken, was in drei bis vier Wochen erfolge; darum sei es unmöglich, heute ‚unannehmbar‘ zu sagen. Die Worte ‚unerträglich‘ und ‚undurchführbar‘ seien stark genug; wenn sie – unterstützt von einer großen Volksbewegung – auf den Gegner keinen Eindruck machten, so würde auch das Wort ‚unannehmbar‘ an den Bedingungen nichts ändern. Die demokratischen Kabinettsmitglieder beharrten auf ihrer Forderung und ließen durchblicken, daß für den Fall der Ablehnung eine Regierungskrisis unvermeidlich sei. Diese mußte aber im jetzigen Augenblick unter allen Umständen vermieden werden; denn ein Kabinettswechsel in jenen Tagen hätte unabsehbare Folgen gezeitigt. Wären die Anhänger des ‚unannehmbar‘ ausgeschieden, so würde ein Kabinettswechsel allen dt. Gegenvorschlägen die innere Kraft genommen haben; die Anhänger des ‚unannehmbar‘ wollten aber auch die Verantwortung nicht allein übernehmen. So kam es im Kabinett zu dem Antrag, daß das Resultat der Verhandlungen in Versailles vor der endgültigen Stellungnahme abzuwarten habe. Auf dieser Grundlage wurde eine allgemeine Verständigung im Kabinett herbeigeführt. […]“ (Erzberger, Matthias: Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920, S. 368).

Die Darstellung Scheidemanns in seinen Erinnerungen weicht von der Erzbergers in einigen Punkten ab. Bei der Vorbereitung seiner Rede vor der NatVers, erklärt Scheidemann, sei es ihm in erster Linie darauf angekommen, Formulierungen zu finden, die die Gelegenheit zum Ausgleich zwischen der Entente und der RReg. ermöglichen sollten. In seinem Redeentwurf habe es daher an der entscheidenden Stelle geheißen: „Ich werde nicht über die Gefahren eines Ja oder Nein sprechen. Dazu wird noch Zeit sein, wenn das unmögliche Ereignis zu werden droht, daß die Erde solch ein Buch tragen kann, ohne daß aus Millionen und aber Millionen Kehlen aus allen Ländern ohne Unterschied der Partei der Ruf erschallt: ‚Weg mit diesem Mordplan!‘ In der Kabinettssitzung am Montag, dem 12. Mai, vormittags, waren es hauptsächlich die Demokraten, die auf ein unbedingtes Nein hindrängten. Die andern Minister, mit der alleinigen Ausnahme von David, der aber auch erst nach der Sitzung Einspruch erhob, schlossen sich ihnen an, und so wurde an Stelle des zitierten Satzes der neue gesetzt: ‚Dieser Vertrag ist nach Auffassung der RReg. unannehmbar!‘ Damit mußte meines Erachtens die Frage für die Mitglieder des Kabinetts insofern unbedingt als erledigt gelten, als für sie an eine Unterschrift nicht mehr zu denken war, wenn nicht ganz gewichtige Zugeständnisse gemacht wurden. […]“ (Scheidemann, Philipp: Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 240 f.; vgl. Scheidemann, Philipp: Memoiren eines Sozialdemokraten, II, Dresden 1928, S. 365). Zur Haltung der demokratischen Kabinettsmitglieder schreibt Koch(-Weser) unter dem 10.5.1919: „[…] Gestern nach der Fraktionssitzung war ich ganz alleine. Bin auch wohl noch nie so heftig und zäh gewesen. Aber ich habe doch Erfolg gehabt. Wir haben beschlossen, nicht nur unsererseits ein glattes ‚unannehmbar‘ zu erklären, sondern auch unsere Vertreter im Kabinett zu ersuchen, darauf zu bestehen, daß die Regierung ein ‚unannehmbar‘ spricht. Gelingt es ihnen nicht, die Regierung vorzutreiben, so werden sie gehen müssen. Jetzt ist der Augenblick, wo wir, die wir so oft durch die Lage der Dinge genötigt waren, der Linken nachzugeben, zu einer Führerrolle berufen sind, allerdings zu einer schweren und traurigen Führerrolle. […]“ (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16). Während der Sitzung der NatVers am 12.5.1919 wurde der all. Friedensvertragsentw. von den Rednern aller Fraktionen mit Ausnahme der USPD als unannehmbar bezeichnet (NatVers Bd. 327, S. 1084  ff. ).

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