1.14 (vsc1p): Das Ende der Regierung v. Schleicher

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Das Ende der Regierung v. Schleicher

Die historische Forschung ist sich weitgehend darüber einig, daß über die historischen Rahmenbedingungen hinaus die Ablösung v. Schleichers und die nach den Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung korrekt erfolgende Berufung Hitlers zum Reichskanzler als Ergebnis einer Kette von Absprachen und Intrigen einzelner Personen darzustellen ist. Diese haben, ohne direkt politische Verantwortung zu tragen, dafür aber mit umso mehr Einfluß ausgestattet, hinter dem Rücken des amtierenden Kabinetts auf dessen Sturz hingearbeitet und die Bildung einer neuen Reichsregierung betrieben. Die verschlungenen Pfade dieser Vorgänge gehören nur mittelbar zur Geschichte der Weimarer Reichskabinette und sind deshalb, aber auch aus formalen Gründen, hier nicht nachzuzeichnen. Es lag in ihrer Natur, daß sie in den regierungsamtlichen Akten kaum Spuren hinterlassen haben und folglich in dieser Edition nicht zu dokumentieren waren213. So ist beispielsweise der Bericht, den Schleichers Vorgänger und Gegenspieler v. Papen über sein aus der Vorgeschichte des Kanzlersturzes herausragendes Kölner Gespräch mit Hitler am 4. Januar 1933 an den Reichskanzler informationshalber geschrieben haben will, nicht auffindbar, was – wenn der Bericht überhaupt verfaßt und abgesandt worden ist – auch darauf zurückzuführen sein dürfte, daß so gut wie keine Unterlagen über die NSDAP aus dem Januar 1933 im gegenwärtigen Bestand der „Akten der Reichskanzlei“ enthalten sind214. Weitere Verhandlungen wurden mit Wissen und Billigung des Reichspräsidenten, aber unter Umgehung des Reichskanzlers zwischen v. Papen, Hitler und anderen Nationalsozialisten, Hugenberg und „Stahlhelm“-Führern, unter Hinzuziehung des Reichspräsidentensohnes und Staatssekretär Meissners in der Zeit vom 10. bis 27. Januar 1933 unter teilweise konspirativen Umständen im Hause des Hitler-Vertrauten Joachim v. Ribbentrop geführt. Über sie sind wir im wesentlichen nur durch die Aufzeichnungen, die letzterer seiner Frau diktierte, informiert. Die Briefwechsel der Beteiligten und die umfangreiche Memoirenliteratur geben Aufschluß über die mit einer Wiederbelebung der „Harzburger-Front“ verbundenen Versuche, eine das Kabinett v. Schleicher ablösende Nachfolgeregierung in den Sattel zu heben. Alle diese Unterlagen haben nur kommentarweise Verwendung finden können. Eine zusammenfassende Darstellung hat der aus den Vorarbeiten[LXVI] zu diesem Editionsband durch seinen plötzlichen Tod herausgerissene Heinrich Muth in einem gesonderten Aufsatz, der inzwischen posthum veröffentlicht worden ist, noch verfassen können215.

Reichskanzler v. Schleicher schenkte der Minierarbeit seiner Gegner anfangs nur wenig Beachtung. Über das erste Hitler-Papen-Gespräch war er durch seine Pressekontakte zu Hans Zehrer und – noch früher – durch seine Informationen aus dem inneren Zirkel der NSDAP hinreichend informiert worden216. Erkennbar reagiert hat er darauf nicht. François-Poncet gegenüber mokierte er sich im Nachhinein sogar über die – unbewußt hellsichtig – als dilettantisch bezeichnete Annahme seines Vorgängers, den Führer der Nationalsozialisten „auf einem Präsentierteller servieren zu können“217. Überzeugt von sich und seiner Zukunft setzte v. Schleicher – wie bereits dargelegt – bis weit in den Januar 1933 hinein in der auch von ihm als wesentlichstes Problem eingeschätzten Auseinandersetzung mit Hitler auf den mäßigenden Einfluß Straßers und baute ausdrücklich, worin er dann enttäuscht und getäuscht wurde, auf das Vertrauen und die Unterstützung durch den Reichspräsidenten218.

Der gedämpften Hochstimmung sollte die Desillusionierung bald folgen. Als Mitte Januar klar wurde, daß seine Mobilisierungs- und Integrationsstrategie nicht zu einer die Zusammenarbeit mit dem Reichstag ermöglichenden Erweiterung der politischen Basis seiner Regierung führen würde, daß Parteien, Gruppen und Verbände nicht nur von ihm abrückten, sondern teilweise sogar zur offenen Attacke gegen sein Kabinett übergingen, trat der Reichskanzler die Flucht nach vorn an. Der Wendepunkt ist in der schon mehrfach zitierten Aussprache über die „Politische Lage“ im Verlauf der Kabinettssitzung vom 16. Januar 1933 auszumachen219. Ein dem Protokoll beigehefteter, aus der Wehrmachtsabteilung des Reichswehrministeriums stammender „Vortrag betr[effend]: Vorgehen gegen den Reichstag“220 zeigte mehrere Möglichkeiten für eine „aktive Regierungspolitik“ auf, die sich allesamt außerhalb der Bahnen bewegten, die die Reichsverfassung vorzeichnete. Den geringsten Konfliktstoff beinhaltete diejenige Lösung, die in der Verfassungsrechtsdiskussion und in zahlreichen Eingaben, die in jenen Tagen die Reichskanzlei erreichten, mit dem Argument favorisiert wurde, daß ein Mißtrauensvotum des Reichstags nach Artikel 54 der Verfassung nur dann Rechtswirksamkeit beanspruchen könne, wenn hinter ihm „der positive Wille einer Mehrheit zur Gestaltung einer anderen Politik“ stehe221. Da die Gewinnung einer Tolerierungsmehrheit im gegenwärtigen Reichstag nicht zu erwarten war, kreiste die Kabinettsdiskussion um das vom Kanzler in die Debatte eingebrachte Auflösungsbegehren gegenüber dem Reichstag. Mit ihm waren sich die dazu das Wort ergreifenden[LXVII] Minister Bracht, v. Neurath, v. Krosigk und Gürtner einig, die bislang „lavierende Taktik“ aufzugeben, den Reichstag vor oder nach einem Mißtrauensvotum gegen die Reichsregierung aufzulösen und Neuwahlen – gestützt auf ein jenseits der Verfassung anzusiedelndes Staatsnotrecht – bis in den Herbst 1933 hinauszuschieben.

In der nicht nur im Reichskabinett, sondern auch in der Öffentlichkeit von allgemeiner Ungewißheit und Ratlosigkeit gekennzeichneten und von Gerüchten überfüllten Atmosphäre der zweiten Januarhälfte bedeutete es nur einen kleinen Schritt, um neben der „Staats“- auch eine „Präsidentenkrise“ zu beschwören. Mitglieder des Reichskabinetts und die dem Reichskanzler nahestehende Presse sahen eine „Präsidentenkrise“ mit der von ihnen für wahrscheinlich gehaltenen Ernennung eines „Diktatur-Kabinetts“ Papen – Hugenberg heraufziehen, das seines sozialreaktionären Anstrichs wegen die Spannung im Volk „bis zur Siedehitze“ steigern werde222. Die ungeachtet der parlamentarischen Selbstblockade jeglichen Reform- und Verfassungsexperimenten abholden Kräfte der politischen Linken und Mitte, aber auch einzelne Landesregierungen, erfaßten die sich in Schleichers Absichten manifestierende Alternative nicht und konzentrierten ihre ganze Energie darauf, den sich andeutenden „Verfassungsbruch“ durch Reichsregierung und Reichspräsident mit öffentlichen Erklärungen und Eingaben abzuwehren223. Nach dem im Vorstehenden über das Schleicher-Braun-Gespräch vom 6. Januar 1933 Gesagten entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, dabei den Preußischen Ministerpräsidenten in der vordersten Front derjenigen zu sehen, die die unter Berufung auf einen „Staatsnotstand“ erfolgende Parlamentsauflösung jetzt als „Hochverrat“ brandmarkten224. Allesamt gaben sie – gewollt oder ungewollt – dem Verdacht Nahrung, der Reichspräsident könne mit einer eventuellen Reichstagsauflösung die Aufklärung der bei den Osthilfeverfahren aufgedeckten Korruptions- und Mißbrauchsfälle vereiteln wollen. Schließlich mußten die an der Bildung einer Regierung der „Nationalen Konzentration“ arbeitenden Rechtskreise von der mit der Reichstagsauflösung verbundenen Betrauung des bisherigen Kanzlers mit den präsidialen Diktaturvollmachten ihre eigene politische Kaltstellung befürchten. Mit einer Diffamierungskampagne über vermeintlich irreguläre Steuerersparnisse der Familie Hindenburg bei der Übernahme von Gut Neudeck in Verbindung mit den durch die Verfassung gebotenen Möglichkeiten eines plesbizitären Absetzungsverfahrens (Art. 43 Abs. 2) oder einer Präsidenten-Anklage vor dem Staatsgerichtshof wegen Verfassungsbruchs (Art. 59) konnte das Stichwort von der „Präsidentenkrise“ aus diesem Lager ein drittes Mal bemüht werden, um den in seinem Selbstwertgefühl verletzten, sich von der Reichsregierung nicht genug in Schutz genommen fühlenden Reichspräsidenten gegen das Kabinett v. Schleicher einzunehmen225.

[LXVIII] Die Stellungnahmen des Reichskanzlers zur gesamten Notstandsdiskussion dieser Tage waren ambivalent226. In der Praxis konfrontierte er den Reichspräsidenten am 23. Januar mit dem Vorschlag, ihm durch Reichstagsauflösung und Wahlaufschub vorübergehend freie Hand zur Überwindung eines „Staatsnotstandes“ zu geben. Hindenburg lehnte ab, da „ein solcher Schritt“ – so die Niederschrift Meissners – „ihm von allen Seiten als Verfassungsbruch ausgelegt werden“ würde; wenn überhaupt daran zu denken sei, dann müsse zuvor „durch Befragen der Parteiführer festgestellt werden, daß diese den Staatsnotstand anerkennen und den Vorwurf eines Verfassungsbruches nicht erheben würden“227. Mit dieser in der gegebenen Situation als irreal anzusehenden Konzession war die Umkehrung der Ausgangslage des Kabinetts v. Schleicher perfekt. Der Reichskanzler hatte seine Anfang Dezember 1932 geäußerten Bedenken, einen innenpolitischen Konflikt mit den Mitteln des Ausnahmezutands zu überwinden, aufgegeben, während der damals zum Verfassungsbruch bereit scheinende Reichspräsident sich jetzt wieder – zumindest vorgeblich – von Verfassungsskrupeln leiten ließ. Am 28. Januar verweigerte v. Hindenburg dem Kanzler auch dessen Minimalforderung, den Bestand der gegenwärtigen Reichsregierung durch eine bloße Auflösungsorder für den Reichstag vorläufig zu sichern. Der Bitte, sich durch Kabinettsmitglieder seines Vertrauens beraten zu lassen, entzog sich der Reichspräsident mit dem Hinweis auf seinen bereits feststehenden Entschluß. Mit formalem Dank nahm er die vom Reichskanzler mit dem Kabinett für diesen Fall abgesprochene Gesamtdemission an228.

Mit der gleichzeitig erfolgenden Beauftragung v. Papens, „in Verhandlungen mit den Parteien die politische Lage zu klären“, entschied sich der Reichspräsident für den aus seiner Sicht risikoärmeren und verfassungskonformeren Weg der Wiederbelebung der „Harzburger Front“, nachdem ihm weisgemacht worden war, durch Verhandlungen mit dem Zentrum und der BVP könne in letzter Minute sogar noch eine parlamentarische Mehrheitslösung zustandegebracht werden229. Alarmrufe von RDI und DIHT, aber auch der Gewerkschaften, der Angestellten- und Beamtenverbände, die wie zuvor schon das Reichskabinett vor den „alle Keime der wirtschaftlichen Besserung“ vernichtenden Gefahren einer neuen Regierungskrise bzw. einer kommenden „sozialreaktionären und arbeiterfeindlichen Regierung“ warnten, verhallten ungehört hinter den Türen des Büros des Reichspräsidenten230. Am bedrohlichsten schien allen Mahnern eine Regierung, in der v. Papen und Hugenberg allein den Ton angeben würden. Die Übergabe wesentlicher Teile der Macht an die zur totalitären Herrschaftsausweitung bereitstehenden Kräfte der Nationalsozialisten wurde aus Unwissenheit über den Verhandlungsstand, ideologischer Engstirnigkeit oder im Vertrauen auf die noch für intakt gehaltenen Abwehrkräfte des Reichspräsidenten[LXIX] nicht mit gleicher Entschiedenheit zurückgewiesen. Es mutet fast unglaublich an, daß diejenigen Mitglieder des bisherigen Kabinetts v. Schleicher, die am Mittag des 30. Januar 1933 in das zur Vereidigung zusammengerufene Nachfolgekabinett eintraten, auf ihrem Gang zum Reichspräsidentenpalais noch nicht wußten, wer der neue Reichskanzler sein würde. Die Würfel waren bereits am Vortag gefallen. In den Geheimverhandlungen zur Bildung einer nationalen Rechtsregierung hatten sich die Nationalsozialisten mit der Hitler eigenen Beharrlichkeit unter Zuhilfenahme von Druck und Versprechungen endgültig durchgesetzt231.

Nur noch einen Abgesang auf die Regierung v. Schleicher bildete in diesem Zusammenhang das Pronunciamento einiger dem General ergebener Offiziere bei v. Hindenburg und eine Offizierbesprechung im Reichswehrministerium, in der die Gefahren, die der Reichswehr von der bevorstehenden Regierungsneubildung drohten, erörtert wurden232. Zum Putsch-Plan aufgebauscht, der angeblich auch die Internierung des Reichspräsidenten miteinschloß, dürften die gerüchtweise kolportierten Nachrichten über diese Aktivitäten zur endgültigen Kapitulation v. Hindenburgs, v. Papens und Hugenbergs vor den neuen, am Morgen des 30. Januar ultimativ vorgetragenen Forderungen Hitlers beigetragen haben. Noch bevor er ins Amt berufen war, waren ihm mit der v. Schleicher verweigerten Reichstagsauflösung und dem Regierungsmittel präsidialer Vollmachten diejenigen Instrumente zur Verfügung gestellt worden, mit denen er den „Rahmen“ seiner konservativen Bewacher aufbrechen und den nur vorübergehend aufgegebenen „Alleinanspruch“ seiner Partei auf die Macht demnächst durchsetzen konnte.

Schleichers Abgang von der politischen Bühne vollzog sich merklich resignativ. „Noch nie zuvor hat ein reiner Politiker so kampflos die Waffen gestreckt wie jetzt dieser waffengewohnte General“, hieß es in einem politischen Nachruf233. Die Staatsstreichüberlegungen seiner Freunde soll er, so wird berichtet, mit dem Hinweis auf die Loyalitätspflicht der Reichswehr gegenüber ihrem Oberhefehlshaber unterbunden haben. Als „starker Mann“ vom Reichspräsidenten Anfang Dezember 1932 in das Kanzleramt berufen, hatte er mit einer nicht von vornherein als aussichtslos zu bezeichnenden Strategie der gesellschaftlichen Neugruppierung versucht, das Reich aus einer politischen Grenzsituation herauszuführen. Sie notfalls auch mit einer nach Auftrag, Ausmaß und Dauer begrenzten reichswehrgestützten Diktatur zu überwinden, dazu wäre er bereit gewesen. Ein Prätorianerregiment gegen das eigene Volk und dessen verfassungsmäßiges Oberhaupt zu errichten, vertrug sich nicht mit seinem Staatsverständnis. Seiner eigenen Legende ist er, gemessen an dem, was er erreicht und was er verfehlt hat, nicht gerecht geworden; seiner politischen Maxime dagegen ist er treu geblieben. In den Intrigen des Januar 1933 wurde er mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Die politischen Irrtümer und[LXX] Fehleinschätzungen, mit denen er zur autoritären Aushöhlung des Weimarer Verfassungsstaates beigetragen hatte, schlugen in seinem Sturz auf ihn selbst zurück. – Darin mögen wir Nachgeborenen ein Stück ausgleichender Gerechtigkeit der Geschichte sehen. Das Frohlocken darüber bleibt uns versagt, wenn wir an die Konsequenzen denken, die von seinem Nachfolger ausgingen!

Anton Golecki

Fußnoten

213

Eine Ausnahme bilden die Dok. Nr. 54; 65; 71; 72; 77 und 79.

214

Vgl. dazu R 43 I /2684 , S. 831–862; Hinweise auf das in diesem Zusammenhang einzig nennenswerte Aktenstück in Dok. Nr. 54, Anm. 9.

215

Heinrich Muth: „Das Kölner Gespräch am 4. Januar 1933“.

216

Dok. Nr. 54.

217

François-Poncet an Paul-Boncour, 7.1.1933 (DDF, 1ère Série, Bd. 2, S. 373 ff.).

218

Dok. Nr. 56, insbesondere Anm. 18.

219

Dok. Nr. 56; vgl. auch Dok. Nr. 69.

220

Dok. Nr. 56, Anlage 2.

221

Dok. Nr. 60; 68.

222

Dok. Nr. 56; 71; 77.

223

Dok. Nr. 56; 69; 70.

224

Dok. Nr. 73.

225

Dok. Nr. 56, Anm. 22; 71, Anm. 8; 77, insbesondere Anm. 15.

226

Dok. Nr. 65, insbesondere Anm. 7.

227

Dok. Nr. 65.

228

Dok. Nr. 71; 72; 77; 78.

229

Dok. Nr. 77 und 79.

230

Dok. Nr. 74; 75; 76.

231

Wie Anm. 229.

232

Dok. Nr. 79, insbesondere Anm. 4, 5 und 7.

233

Osnabrücker Volkszeitung, Nr. 31 vom 31.1.1933 (Ausschnitt in: ZSg 103/8653).

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