1.150.1 (lut2p): [Anlage]

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Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

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Text

RTF

[Anlage]

Zur Frage der Wahlreform.

I. Kritik des geltenden Rechts.

a) Grundzüge des Systems.

Das Reichsgebiet gliedert sich in 35 Wahlkreise, die zu 16 Wahlkreisverbänden zusammengefaßt sind. Von jeder Partei werden Wahlvorschläge (Listen) in den Wahlkreisen und ein Reichswahlvorschlag (Reichsliste) für das ganze Reich eingereicht. Auf je 60 000 in einem Wahlkreis oder Wahlkreisverband abgegebene Stimmen entfällt ein Abgeordnetensitz. Auf Grund Zusammenrechnung im Wahlkreisverband wird ein Sitz nur zugeteilt, wenn mindestens 30 000 Stimmen in einem der Wahlkreise des Verbandes erreicht sind. Reststimmen werden auf den Reichswahlvorschlag verrechnet, auf den jedoch nicht mehr Sitze zugeteilt werden können, als die Partei bei der Verrechnung in den Wahlkreisen und den Verbänden erreicht hat.

Wahlalter 20 Jahre. Amtlicher Stimmzettel. Formale Gleichstellung der kleinen und kleinsten Splitterparteien mit den großen politischen Parteien. Dadurch Täuschung der Wähler über die Aussichten solcher Gruppen und Stimmzersplitterung.

b) Einwände gegen das bisherige System.

Es wählt nicht der Wähler, sondern die Parteiorganisation, die vor der Wahl lange Listen aufstellt. Es kann nur für die Parteilisten gestimmt werden. Damit ist die Vorschrift der Reichsverfassung, daß das Wahlrecht ein unmittelbares sein soll4, durch das Wahlsystem nicht mehr erfüllt. Der Kampf um den Platz auf der Liste bereitet allen Parteien erhebliche Schwierigkeiten. Er findet ohne öffentliche Kontrolle bei einem starken Andrängen der Berufs- und Interessentenverbände statt. Nur der Spitzenbewerber ist gezwungen, sich als Persönlichkeit ernstlich am Wahlkampf zu beteiligen und sich durchzusetzen. Beim Ausscheiden von Abgeordneten treten als Ersatzleute Bewerber ein, die der Wählerschaft kaum bekannt sind. Das System begünstigt die Parteizersplitterung. Damit wird die Aufgabe des Parlaments, dem Staate eine Führung zu geben, unnötig erschwert.

[1218] II. Der Reformentwurf vom August 19245.

Feste Abgeordnetenzahl von 399. Das ganze Reichsgebiet gegliedert in 156 Wahlkreise, zusammengefaßt in den bisherigen 16 Wahlkreisverbänden. Für die Kreiswahlvorschläge waren nicht mehr als zwei Bewerber zugelassen. Ein Bewerber konnte innerhalb eines Verbandes in mehreren Wahlkreisen aufgestellt werden. Vorschläge der gleichen Partei innerhalb des Verbandes galten als verbunden. Die im Verband für eine Partei aufgebrachten Stimmen waren zusammenzurechnen und jeder Partei auf je 75 000 Stimmen ein Mandat zuzuteilen. Innerhalb der Partei Verteilung der Sitze auf die Bewerber nach der Zahl der erhaltenen Stimmen. Bewerber an zweiter Stelle waren dabei mit der Hälfte der Listenstimmen anzusetzen. Verrechnung der Reststimmen auf Reichswahlvorschläge. Soweit die Zahl 399 nicht erreicht wurde, wurden fehlende Sitze auf die örtlichen Listen mit den höchsten Reststimmen zugeteilt. Bei Überschreitung der Zahl 399 sollten die Sitze auf der Reichsliste entsprechend gekürzt werden.

Dieser Reformvorschlag hat im allgemeinen keine ungünstige Aufnahme gefunden. Der Haupteinwand richtete sich dagegen, daß einzelne Wahlkreise ohne Vertretung blieben, während bei anderen eine Mandatshäufung eintrete. Dabei wurde indessen nicht genügend berücksichtigt, daß die Parteien je nach der Zahl ihrer Anhänger ihre Kandidaten in mehreren Wahlkreisen aufstellen konnten, sich also den tatsächlichen Wahlkreis entsprechend ihren Bedürfnissen durch Zusammenlegung gesetzlicher Wahlkreise selbst formen konnten (Prinzip der Elastizität der Wahlkreise). Während eine kleine Partei mehrere, unter Umständen alle Wahlkreise des Verbandes vereinigen konnte, wenn sie doch nur Aussicht hatte, im ganzen Verbande einen örtlichen Sitz zu erhalten und demgemäß der Bewerber einer solchen Partei in allen zusammengelegten Wahlkreisen kandidiert, konnte der Bewerber einer großen Partei sich auf einen Wahlkreis beschränken, unter Umständen sich mit der Zusammenlegung von zwei oder vielleicht drei Wahlkreisen begnügen. Die Kandidaten sollten also ihren Werbebezirk selbst gestalten, allerdings im Rahmen der gesetzlichen Verbände. Daß Wahlkreise durch Abgeordnete mehrerer Parteien vertreten sind, ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältniswahl, wonach jede Partei entsprechend der Zahl ihrer Anhänger im Parlament vertreten sein muß.

III. Ziel der Reform.

Die Wahlreform muß das Ziel haben, unter Beseitigung der Listen und der großen Wahlkreise der früheren Einerwahl möglichst nahezukommen. Wähler und Kandidat müssen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Der Neigung zu einer übermäßigen Parteizersplitterung muß, ohne Eingriff in ernsthafte[1219] politische Bewegungen, entgegengewirkt werden und so Erreichung klarer Mehrheitsverhältnisse im Parlament angestrebt werden.

Die Neuwahl eines Parlaments muß innerhalb kurzer Frist gewährleistet sein. Es muß wie in England möglich sein, innerhalb 3 Wochen ein neues Parlament zur Stelle zu haben.

IV. Weg der Reform.

1. Die Grundsätze der Verhältniswahl und damit die Fortschritte neuerer Verhältniswahlsysteme (wie Verrechnung der Reststimmen) werden zweckmäßig gewahrt:

a)

weil die Aufhebung der Verhältniswahl eine Verfassungsänderung wäre, wofür Zweidrittelmehrheit weder im Reichstag noch im Reichsrat zu bekommen ist;

b)

weil die Kritik nur insoweit als berechtigt anerkannt werden kann, als sie sich in der Hauptsache gegen die jetzige Anwendungsform der Verhältniswahl richtet.

2. Aus der Wahlreformvorlage von 1924 werden zweckmäßig übernommen:

a)

die Verkleinerung der Wahlkreise,

b)

die Abschaffung der Liste,

c)

die Verrechnung der überschüssigen Stimmen zu Gunsten des notleidenden Bewerbers der gleichen Partei mit der höchsten Stimmenzahl im gleichen Verbande.

3. Die Reform ist aber dadurch wesentlich zu verstärken:

a)

daß nur ein Bewerber auf jedem örtlichen Wahlvorschlag zugelassen wird, daß auch der Rest der Liste, wie er in der Reformnovelle von 1924 noch beibehalten wurde, verschwindet;

b)

daß die Wahlkreise noch stärker verkleinert werden (Dies ist notwendig, weil ein zweiter Bewerber auf der Liste nicht mehr zugelassen wird und bei 156 Wahlkreisen die beiden größten Parteien (Sozialdemokratische Partei und Deutschnationale Partei) gezwungen sein könnten, in einem Wahlkreise mehrere Kandidaten aufzustellen, um die erforderliche Zahl von Ersatzleuten zu haben. Vorgeschlagen werden 227 Wahlkreise, die sich recht günstig in die politische Verwaltungsbezirkseinteilung eingliedern.);

c)

daß nicht nur die Wahlkreise, sondern auch die Wahlkreisverbände erheblich verkleinert werden. Sie waren bei der Wahlreformvorlage 1924 noch unverändert geblieben. Durch Verkleinerung der Verbände steigert sich die Wirkung der Vorschrift, daß nur die Parteien berücksichtigt werden, die mindestens in einem Wahlkreis (unmittelbar oder durch Verrechnung im Verbande) einen Sitz erworben haben. Durch den Grad der Verkleinerung der Verbände läßt sich die Wirkung mehr oder weniger steigern. [1220] Ob und in welchem Umfang dieses Mittel verwendet werden soll, ist Sache der politischen Entscheidung. Maßnahmen, die sich nur gegen einzelne Parteien auswirken, sind abzulehnen. Bei Einteilung des Reichsgebiets in etwa 30 bis 35 Verbände und einer Verteilungszahl von 70 000 würden die gegenwärtig im Reichstag vertretenen Parteien in ihrem Bestande grundsätzlich nicht gefährdet sein. Die Verkleinerung der Verbände vermehrt die Zahl der auf Reichsliste zu verrechnenden Reststimmen. Dementgegen muß Vorsorge getroffen werden, daß die Reststimmen in erster Linie auf örtliche Kandidaten verrechnet werden und nur in gewissem Umfang auf die Reichsliste. Dies ist leicht möglich (vgl. Ziff 5 b und c).

4. Die Reform ist ferner dahin zu modifizieren, daß von der Festlegung der Zahl der Abgeordneten auf 399 abgesehen und wie bisher lediglich eine von jedem Bewerber (unmittelbar oder durch Verrechnung) zu erreichende feste Stimmenzahl vorgeschrieben wird. Die Höhe dieser Verteilungszahl wird bedingt von der Frage, wie stark der Reichstag zweckmäßig sein soll.

In letzter Zeit ist vielfach eine Verminderung der Parlamentsmitglieder gefordert worden. Diese Forderung ist gegenüber den Länder- und Stadtparlamenten ohne weiteres berechtigt. Der Deutsche Reichstag ist im Vergleich zu den Parlamenten anderer Großstaaten verhältnismäßig klein, auch wenn man berücksichtigt, daß es sich um das Parlament eines Bundesstaates handelt. Denn im Gegensatz zu früher sind die Aufgaben des Reichstags wesentlich erweitert und nach der heutigen staatsrechtlichen Struktur des Reichs liegt das Schwergewicht der politischen Entscheidungen weit mehr im Reichstag als in den Landtagen der einzelnen Länder. Während in Frankreich auf 68  269 Einwohner ein Deputierter entfällt, kommt in Deutschland erst auf 126 854 ein Reichstagsabgeordneter (vgl. die Übersicht Anlage 16). Vergleicht man den Reichstag mit den Länderparlamenten, so zeigt sich bei einer Gegenüberstellung des Zahlenverhältnisses zwischen Abgeordneten, Wählern und Einwohnern im Reiche und in den Ländern (Anlage 2), daß gegenwärtig erst auf 126 854 Einwohner ein Reichstagsabgeordneter trifft, während in Preußen schon auf 84 846, in Bayern auf 65 493 Einwohner ein Landtagsmitglied entfällt7. Je kleiner das Land, desto größer verhältnismäßig die Zahl seiner Parlamentsmitglieder und damit die Kosten der Volksvertretung auf den Kopf der Bevölkerung (Anlage 3)8.

Der Reichstag der Vorkriegszeit zählte 397 Mitglieder (davon 15 auf Elsaß-Lothringen), und schon durch Gesetz vom 24. August 1918 war die Zahl der Mitglieder des Reichstags auf 441 erhöht worden9. Die Nationalversammlung[1221] zählte 423, der Reichstag der I. Wahlperiode am Schlusse 459, der Reichstag der II. Wahlperiode 472 Mitglieder. Der gegenwärtige Reichstag hat 493 Mitglieder.

Eine Verkleinerung der Parlamente der Länder wird sich jedoch nur durchsetzen lassen, wenn auch der Reichstag in der Zahl seiner Mitglieder sich eine gewisse Beschränkung auferlegt. Für den Reichstag dürfte zweckmäßig eine Zahl von rund 420 Abgeordneten anzustreben sein. Damit würde sich bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von nicht ganz 80 v. H. und einer Erhöhung des Wahlalters von 20 auf 21 Jahre (vgl. Ziffer 10) sowie unter Berücksichtigung des Bevölkerungszuwachses eine Verteilungszahl von rund 70 000 ergeben.

5. Die Reichsliste bildet ein Problem für sich.

a)

Vorschlag der völligen Abschaffung hat viel für sich. Die kampflos zu sichernden Führer können dann wie im früheren Reichstagswahlrecht in sicheren Wahlkreisen oder in mehreren guten Wahlkreisen desselben Verbandes aufgestellt werden. Der Vorschlag stößt aber wohl auf schwer überwindlichen Widerspruch bei den Parteien.

b)

Die Reichsliste wird zweckmäßig nur insoweit beibehalten, als sie der Verrechnung der Reststimmen dient. Dagegen muß vermieden werden, daß sie wie bisher dazu verwendet wird, Persönlichkeiten ohne Wahlkampf in das Parlament zu bringen. Nach der Verfassung sind die Abgeordneten „unmittelbar“ zu wählen. Bei dem jetzigen System kann es zweifelhaft sein, ob es sich noch um eine Wahl im Sinne der Verfassung handelt, wenn Bewerber lediglich auf Grund Vorschlags in einer zentral aufgestellten Liste in das Parlament einziehen. Künftig wird man daher auf Reichswahlvorschlag nur noch solche Bewerber zulassen können, die zugleich in einem örtlichen Wahlkreise als Bewerber auftreten.

c)

Im Interesse des persönlichen Zusammenhangs zwischen Wählerschaft und Abgeordneten wird man ferner die Zahl der auf Reichswahlvorschläge zu vergebenden Mandate kontingentieren müssen, und zwar entweder durch eine feste Höchstziffer (5) oder dadurch, daß man sie in ein prozentuales Verhältnis zu den in den Verbänden errungenen Sitzen setzt (10%). Soweit auf die Reichsliste Mandate nicht mehr zugewiesen werden können, brauchen die Reststimmen der Partei keineswegs verlorenzugehen. Sie können vielmehr auf die Verbände zurücküberwiesen und dort den Bewerbern zugewiesen werden, die noch mit den besten Erfolgen aus dem Wahlkampf hervorgegangen sind. Auch damit wird dem persönlichen Zusammenhang zwischen Wählerschaft und Abgeordneten gedient und ein Anreiz zu lebhafter Beteiligung am Wahlkampf gegeben.

6. Eine Nebenfrage ist die Bezeichnung der bei der Wahl in Betracht kommenden Bezirke. Da ein Bewerber innerhalb eines Verbandes in mehreren Wahlbezirken kandidieren kann, wird man den Begriff „Wahlkreis“, um das Prinzip der Elastizität im Gesetze auch möglichst plastisch zum Ausdruck zu bringen, zweckmäßig loslösen von der geographisch festgelegten Wahlkreiseinteilung.[1222] Denn während nach dem heutigen Recht das Gebiet, in dem ein Bewerber sich um ein Mandat bewirbt, mit dem geographisch abgegrenzten Wahlkreis zusammenfällt, ist der „Wahlkreis“ eines Kandidaten nach der vorgeschlagenen Reformnovelle der Bezirk, in dem ein Kandidat sich um einen Abgeordnetensitz bewirbt. Dieser Bezirk kann zwar identisch sein mit einem der in der Wahlkreiseinteilung abgegrenzten Gebietsteile, kann aber auch mehrere zusammenfassen. Man wird daher die geographisch abgegrenzten großen Bezirke besser „Wahlgebiete“ nennen, die sich in „Stimmkreise“ teilen. Der Ausdruck „Stimmkreis“ findet sich auch im bayerischen Landeswahlgesetz als Bezeichnung für den kleinsten für die Auswertung der Stimmen in Betracht kommenden Gebietsteil. Der „Wahlkreis“ ist dann der Bezirk, in dem ein Kadidat sich um einen Abgeordnetensitz bewirbt. Je nach Stärke der Partei können dies ein einziger Stimmkreis oder ein Stimmkreisverband, also mehrere Stimmkreise des gleichen Wahlgebiets sein.

7. Die Gesamtzahl der für eine Partei in dem Wahlgebiet abgegebenen Stimmen wird durch die Verteilungszahl (70 000) geteilt; die sich so ergebende Zahl stellt die Zahl der Mandate dar, die die Partei in dem Wahlgebiet erhält. Die Sitze werden auf die Bewerber einer Partei innerhalb des Wahlgebiets verteilt nach der auf sie gefallenen Stimmenzahl. Bei dieser Verteilung kann man die absolute Stimmenzahl zu Grunde legen oder die Verhältniszahl; im zweiten Falle kommen die Bewerber zum Zuge, die prozentual im Verhältnis zu der Zahl der Stimmberechtigten ihres Stimmkreises oder eines ihrer Stimmkreise die meisten Stimmen erhalten haben. Letztere Methode rechtfertigt sich aus dem Gesichtspunkte, daß die Stimmkreise, da sie sich an die Grenzen der politischen Verwaltungsbezirke anschließen müssen, nie gleich groß sein können.

Damit wäre der Einerwahl, soweit dies im Rahmen der Verhältniswahl überhaupt erreichbar ist, möglichst nahegekommen. Der Kampf wird nicht mehr um den Platz auf der Liste gehen, weil es Listen nicht mehr gibt, sondern um günstige Stimmkreise; damit unterliegt er in verstärktem Maße der öffentlichen Kontrolle der Wähler in den Stimmkreisen und der Konkurrenz zwischen den Parteien in der Auswahl hervorragender Kandidaten in den einzelnen Stimmkreisen.

Der Einfluß der Berufsverbände wird zurückgedrängt, das Andrängen der Interessentenverbände, die ohne Kampf ein Mandat haben möchten, gehemmt.

8. Der Begünstigung der Bildung von Splitterparteien könnte auch durch Gestaltung des Stimmzettels vorgebeugt werden. Auf ihn könnten nur die Bewerber vorgedruckt werden, deren Partei im letzten Reichstag in gewisser Stärke, z. B. in Fraktionsstärke10, vertreten war. Im übrigen kann der Stimmzettel einen freien Raum lassen zum Einschreiben von Bewerbern, deren Namen auf dem Stimmzettel nicht vorgedruckt sind, wie dies bei der Präsidentenwahl der Fall war.

[1223] 9. Werden in den Stimmkreisen keine Listen mehr eingereicht, sondern lediglich für die Herstellung des Stimmzettels und die Vorbereitung des Zählgeschäfts Bewerber benannt, so können die Fristen für die Vorbereitung der Wahl wesentlich gekürzt werden. So wird es möglich sein, schon am dritten Sonntag nach Auflösung eines Reichstags zur Neuwahl zu schreiten, und es können alle Termine, die einer Durchführung der Wahl innerhalb einer kurzen Frist bisher entgegenstanden, künftig wegfallen.

10. Schließlich bleibt noch die Frage des Wahlalters. Ausschlaggebend für die Einführung des Wahlrechts der Zwanzigjährigen war die Erwägung, daß den jungen Kriegsteilnehmern, die im schweren Abwehrkampf ihr Leben für das Vaterland eingesetzt hatten, die Beteiligung an den politischen Wahlen nicht verwehrt sein sollte.

Es bedeutet zweifellos eine Unstimmigkeit, daß man in Deutschland mit 20 Jahren wählen kann, mit 21 Jahren aber erst volljährig wird (§ 2 BGB). In anderen großen Kulturstaaten ist, wie aus der als Anlage 4 beigefügten Zusammenstellung ersichtlich, die Wahlfähigkeit in der Regel an die Erreichung der bürgerrechtlichen Volljährigkeit geknüpft. Die Rücksichten auf die Kriegsteilnehmer bestehen heute nicht mehr, da inzwischen alle Kriegsteilnehmer die Volljährigkeit erlangt haben. Für die Beseitigung dieses Schönheitsfehlers der Reichsverfassung durch Erhöhung des Wahlalters von 20 auf 21 Jahre sollte versucht werden, eine parlamentarische Mehrheit zu finden.

Einer weitergehenden Erhöhung des Wahlalters, etwa auf das in Deutschland früher übliche Wahlalter von 25 Jahren, kann indessen nicht das Wort geredet werden. Auch in den anderen großen Kulturstaaten wie England, Frankreich, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Belgien ist das Wahlalter auf das 21. Lebensjahr festgesetzt. Es würde dem deutschen Bildungs- und Erziehungssystem ein schlechtes Zeugnis ausgestellt werden, wollte Deutschland heute über das in den anderen Großstaaten bestehende wahlfähige Alter hinausgehen.

[…]

Die Wahlreform als solche braucht mit der Frage der Erhöhung des Wahlalters nicht verbunden zu werden. Wenn auch das Wahlalter für die Erhöhung der Verteilungszahl (von bisher 60 000 auf 70 000) zu berücksichtigen ist, so wird die Abänderung des Wahlalters zweckmäßig in einem gesonderten, allerdings gleichzeitig mit der Wahlreformnovelle einzubringenden verfassungsändernden Gesetze behandelt werden.

[…]11

Fußnoten

4

Art. 22 RV.

5

Gemeint ist der von der RReg. am 21.8.24 im RT eingebrachte „Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Reichswahlgesetzes“ (RT-Drucks. Nr. 445, Bd. 383 ), der wegen der kurz darauf erfolgenden Auflösung des (II.) RT unerledigt blieb. Vgl. auch diese Edition: Die Kabinette Marx I/II, Dok. Nr. 94, P. 5, Nr. 95, P. 1 und Nr. 220, P.3.

6

Nach dieser Übersicht entfallen auf einen Abg. in Belgien 41 412, in Großbritannien 72 646, in Italien 74 966 Einwohner.

7

Beiliegende tabellarische Übersicht (Anlage 2) führt hierzu noch u. a. auf: Baden 21 748, Hessen 19 410, Hamburg 7054, Mecklenburg-Strelitz 3201 Einwohner auf einen Landtagsabgeordneten.

8

Die Kosten der dt. Parlamente betrugen nach anliegender Übersicht (Anlage 3) pro Kopf der Bevölkerung im Rechnungsjahre 1925: Reich 9, Preußen 11, Baden 12, Hessen 14, Mecklenburg-Strelitz 65 Rpf.

9

RGBl., S. 1079.

10

D. h. mit mindestens 15 Abgeordneten. Vgl. § 7 der „Geschäftsordnung für den Reichstag“ vom 12.12.22 in: Reichstagshandbuch, III. Wahlperiode 1924, S. 71.

11

Der abschließende V. Teil dieser Aufzeichnung enthält kritische Auseinandersetzungen mit den von Jellinek („Vossische Zeitung“ vom 2.2.26), Heile („Frankfurter Zeitung“ vom 29.1.26) und Thoma („Germania“ vom 1.5.25) gemachten Wahlreformvorschlägen. Auf den Abdruck wurde hier verzichtet, da dieser Abschnitt mit fast gleichem Wortlaut in die Denkschrift „Vorschläge zur Wahlreform“ aufgenommen ist, die RIM Wirth am 26.8.30 dem RR vorlegt (RR-Drucks. Nr. 151 (Anlage), 1930 III).

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