1.28 (mu22p): Nr. 284 Staatssekretär Pünder an den Reichskanzler. 7. September 1929

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Nr. 284
Staatssekretär Pünder an den Reichskanzler. 7. September 19291

R 43 I /1907 , Bl. 118-122, hier: Bl. 118-122 Durchschrift

[Betrifft: Reform der Arbeitslosenversicherung.]

Hochverehrter Herr Reichskanzler!

[Hinweis auf den bevorstehenden Besuch der RM Wissell und Hilferding in Bühlerhöhe.]

Zunächst ist festzustellen, daß es zweifellos richtig war, die erste Lesung im Reichstagsausschuß zu Ende zu bringen2. Nachdem in diesem Stadium keine Einigung zu erzielen war, mußten jetzt endlich einmal die verschiedenen Anträge zur Abstimmung gebracht werden. Wenngleich dadurch augenblicklich, formell gesehen, der Zustand ein ziemlich chaotischer ist, indem nämlich in dem Gesetzentwurfe verschiedene Lücken bestehen, hat der Zustand doch insofern auch sein Gutes, als jetzt jede Partei ihren Hintermännern mit Recht sagen[910] kann, daß sie alles zur Erreichung ihrer weitestgehenden Anträge getan habe. Dadurch wird die Schaffung einer Basis für einen etwa noch möglichen Kompromiß vielleicht etwas erleichtert.

Über die Möglichkeit dieses Kompromisses habe ich mich in den letzten Tagen überall herumgehört und mich um sein Zustandekommen recht bemüht. Leider liegt ein fertiger Vorschlag im Augenblick noch nicht vor. Sachlich kann er aber nur in folgendem gefunden werden: Das Zentrum und auch die anderen bürgerlichen Parteien werden darauf bestehen, daß der Antrag Riesener, der keine Sonderregelung für Saisonarbeiter, sondern die Arbeitslosenversicherung insgesamt treffen will, wenigstens in seiner Grundtendenz erhalten bleibt3. Insbesondere das Zentrum wird sich aber im Interesse des notwendigen Kompromisses bereitfinden, diesen Antrag Riesener – vertraulich gesagt – so zu durchlöchern, daß die endgültige materielle Regelung noch den sozialdemokratischen Wünschen stark entgegenkommt. Augenblicklich dreht es sich nun noch um die genaue Formulierung dieser den Antrag Riesener im sozialdemokratischen Sinne einschränkenden Formulierungen. An ein Entgegenkommen scheint man mir hierbei, insbesondere hinsichtlich der Befristungen der Bestimmungen, hinsichtlich des Lebensalters und der Ledigeneigenschaft zu denken.

Ob über einen – vom sozialdemokratischen Standpunkt aus verbesserten und vom bürgerlichen Standpunkt aus verschlechterten – Antrag Riesener eine unmittelbare Einigung zwischen Sozialdemokratie und insbesondere dem Zentrum schon vor der zweiten Lesung des Reichstagsausschusses zustandekommen wird, ist mir zweifelhaft. Vielmehr denken wir jetzt daran, den notwendigen neuen Impuls durch einen einstimmigen Beschluß des Preußischen Staatsministeriums zu schaffen. Nach dieser Richtung hin habe ich für die Zwecke des augenblicklich jetzt noch abwesenden Ministerpräsidenten Braun mehrfach eingehend mit Staatssekretär Weismann und gestern abend auch mit Herrn Wohlfahrtsminister Hirtsiefer gesprochen. Es hat schon einige Mühe gekostet, eine vollbesetzte Staatsministerialsitzung für kommenden Dienstagvormittag [10. 9.] zustande zu bringen. Bei dieser Sitzung bleibt es nun aber endgültig, und die preußischen Herren sind auch durchaus bereit, einen materiellen Kabinettsbeschluß zu fassen. Herr Wohlfahrtsminister Hirtsiefer, der heute früh wieder für zwei Tage verreist ist, wird von Montagfrüh ab sich auch persönlich um diese Kompromißformel bemühen und dann seinerseits mit dem Herrn Ministerpräsidenten Braun Fühlung nehmen. Auf diese Weise kann es möglich werden, daß in der am Dienstagnachmittag anstehenden Vollsitzung des Reichsrats der am 3. d. M. in den Reichsratsausschüssen gefaßten Beschluß, der auf Antrag Bayerns den Antrag Riesener noch zuungunsten der Arbeitslosen verändert hatte, im entgegengesetzten Sinne abgeändert wird.

Läge nun Dienstagabend ein solcher Reichsratsbeschluß vor, der zwar äußerlich am Antrag Riesener festgehalten, ihn aber stark im sozialdemokratischen Sinne abgewandelt hat, so wäre für die am kommenden Donnerstag stattfindende 2. Lesung des Reichstagsausschusses zweifellos ein neuer Auftrieb[911] geschaffen, auf Grund dessen dann schließlich noch einstimmige Beschlüsse der Regierungsparteien zustandekommen könnten. Eine andere Lösung als auf dem vorstehend erörterten Wege sehe ich nicht. Gestern morgen haben Besprechungen zwischen den Abgeordneten Graßmann, Aufhäuser und Frau Schroeder einerseits und den Abgeordneten Esser, Dr. Brüning und Frau Teusch andererseits stattgefunden. Ich weiß, daß namentlich auf Grund von Äußerungen der letzteren gestern nachmittag bei der Sozialdemokratie die vage Hoffnung entstanden ist, das Zentrum und die anderen bürgerlichen Parteien würden schließlich doch noch zu einer wenigstens zeitlich völligen Zurückstellung Riesener bereit sein. Diese Ansicht hat aber, wie ich auf Grund ganz einwandfreier Orientierung weiß, keinerlei Unterlagen. Es ist immerhin möglich, daß Herr Minister Wissell Ihnen gleichfalls von dieser optimistischen Einstellung berichten wird, da ich nicht bestimmt weiß, ob er vor seiner Abreise noch von mir oder anderen Stellen Näheres hierüber erfahren kann. In Wirklichkeit steht fest, daß für ein solches völliges Fallenlassen des Antrages Riesener [nicht] bei der Zentrumsfraktion und vor allem nicht bei den anderen Regierungsparteien irgendwelche Geneigtheit besteht. Ich möchte Sie, Hochverehrter Herr Reichskanzler, daher bitten, anderen Ihnen etwa zugehenden Mitteilungen zu diesem Punkte keine zu große Bedeutung beizumessen. Ebenso halten es auch alle einem Kompromiß noch so zugeneigten Stellen für ausgeschlossen, den Kompromiß darin zu finden, daß man im Sinne des Herrn Abgeordneten Aufhäuser nicht von 1,1, sondern nur von einer Million Erwerbslosen ausgeht. Nachdem die Enquête nach reiflichen Erwägungen die Zahl von 1,1 Millionen zum Ausgangspunkt ihrer Schlußfolgerung gemacht hat, wäre es ausgeschlossen im Wege eines Reichstagsbeschlusses sozusagen die Zahl der Erwerbslosen auf dem Papier um 100 000 Köpfe herabzusetzen4. Vielmehr liegt – wenn ich dies am Schluß nochmals hervorheben darf – die Lösung nur in dem formalen Festhalten an dem Antrag Riesener, der aber materiell noch ziemlich stark abgewandelt werden könnte. Möglicherweise und hoffentlich haben sich diese Gedanken bis Montagmittag schon weiter präzisiert, so daß ich als weitere Unterlage für ihre Besprechungen in Bühlerhöhe weiteres vielleicht Montagmittag telegraphisch durchgeben kann.

Zum Schluß nur noch ganz wenige weitere Meldungen: Hocherfreulicherweise ist es gelungen, Herrn Minister Curtius beim Herrn Reichspräsidenten zum Vortrag über Haag heranzubringen und hinterher das vorher von uns sorgfältig vorbereitete Kommuniqué zu veröffentlichen5. Letzteres war, vertraulich gesagt, nicht ganz einfach. Nachdem sich nun aber der Herr Reichspräsident offiziell so geäußert hat, ist der unerhörten Kampfesweise der Gegenseite ein starker Rückhalt genommen.

[912] [Der StS berichtet weiterhin u. a., daß eine Vorlage des RArbM zu sozialen Ausgaben im Nachtragshaushalt 1929 zurückgestellt worden sei, da RArbM und RFM sich nicht hätten einigen können.]

Mit den verbindlichsten Wünschen für weitere gute Besserung und den ehrerbietigsten Empfehlungen verbleibe ich, hochgeehrter Herr Reichskanzler,

Ihr

gez. Dr. Pünder

Fußnoten

1

Der RK hielt sich nach seiner schweren Gallenerkrankung zur Kur in Bühlerhöhe auf.

2

Gemeint ist die Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses am 5. 9.; siehe dazu Anm. 4 zu Dok. Nr. 282.

3

Siehe Ziffer 1 in Dok. Nr. 265.

4

Gemeint ist die Enquête des Sachverständigenausschusses.

5

In dem Communiqué hieß es: „Der RPräs. sprach dem Minister sowie den übrigen Mitgliedern der deutschen Delegation seinen Dank für die in schwierigen und mühevollen Verhandlungen geleistete Arbeit aus.“ Er habe seiner Befriedigung darüber Ausdruck gegeben, daß das Recht auf „Befreiung des Rheinlandes vom Druck fremder Besatzung“ in naher Zukunft erfüllt werde, und erwarte, daß von der erreichten Etappe aus „die Lösung noch offener Reparationsfragen und die volle Wiederherstellung der deutschen Staatshoheit erkämpft werden möchte“ (MNN, 6.9.29).

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