2.83 (sch1p): Nr. 77 Der Reichsminister des Auswärtigen an das Reichskabinett. Spa, 18. Mai 1919

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RTF

[338] Nr. 77
Der Reichsminister des Auswärtigen an das Reichskabinett. Spa, 18. Mai 19191

R 2 /2551 , Bl. 127-1312

[Betrifft: Friedensregelung in den deutschen Ostprovinzen]

Bitte sofort Nachstehendes dem Kabinett zu übermitteln.

Der Punkt 13 der als Friedensbasis angenommenen Grundforderungen des Präsident Wilson ist einer der härtesten für Deutschland: es soll ein unabhängiger polnischer Staat errichtet werden, der die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnten Gebiete einschließen soll, und dem ein freier und sicherer Zugang zum Meer zugesichert werden und dessen politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit durch internationale Abkommen garantiert werden soll3. Deutschland war sich der Tragweite dieser Bedingungen bewußt, als es sie annahm. Nach der Note des Staatssekretärs Lansing vom 8. Oktober sollten die praktischen Einzelheiten der Anwendung der 14 Punkte Gegenstand der Diskussion zwischen den kriegführenden Mächten sein4. Die deutsche Delegation betrachtet als maßgebende Richtschnur für die Anwendung des Punktes 13 auf die Lösung der polnischen Frage die nachfolgenden programmatischen Ausführungen des Präsidenten Wilson: „Alle klarumschriebenen nationalen Bestrebungen müssen die weitestgehende Befriedigung finden, die ihnen gewährt werden kann, ohne neue Elemente von Zwist und Gegnerschaft zu schaffen oder alte derartige Elemente zu[339] verewigen, die wahrscheinlich mit der Zeit den Frieden Europas und der Welt stören würden.“ (4. Punkt der Kongreßrede vom 11. Februar 1918)5. „Außerdem sollte, soweit möglich, jedem Volke, das jetzt um die volle Entwicklung seiner Mittel und seiner Macht kämpft, ein unmittelbarer Zugang zu den großen Verkehrsstraßen des Meeres zugebilligt werden. Wo dies nicht durch Gebietsabtretungen geschehen kann, kann es zweifellos unter einer allgemeinen Friedensbürgschaft durch Neutralisierung unmittelbarer Wegerechte geschehen.“ (Rede vom 22. Januar 1917)6. Der Sinn dieser Erklärungen kann nur der sein: bei der Regelung strittiger Gebietsfragen sollen die völkischen Ansprüche und die wirtschaftlichen Lebensnotwendigkeiten der beteiligten Nationen berücksichtigt werden. Der Vertrag der Alliierten sieht eine Entscheidung vor über die folgenden ostdeutschen Gebiete, die der geographischen Struktur nach, wirtschaftlich und ethnographisch, in 4 Hauptbezirke zerfallen: Posen, Ober- und Mittelschlesien, Westpreußen mit Danzig, Ostpreußen.

Posen

Das deutsche Volk muß sich damit abfinden, daß die Stadt Posen und die Provinz, soweit sie von unzweifelhaft polnischer Bevölkerung besiedelt ist, verlorengeht. Unsere Volksernährung erleidet dadurch schweren Schaden. Aber es handelt sich um die Stammlande des polnischen Volkes, auf die ein polnisches Staatswesen nicht verzichten kann. Die deutsche Delegation muß jedoch Einspruch erheben gegen die für diese Gegend festgelegte Grenze7. Die vorgesehene Grenze lehnt sich offenbar aus militärischen Gründen an Flußniederungen und Seelinien an und umfaßt Gebietsteile von vorwiegend deutschem Charakter. Wir glauben, daß die territoriale Unverletzlichkeit des neuen polnischen Staates besser verbürgt werden kann durch ein internationales Abkommen, das eine gerechte Grenze garantiert als wie durch eine strategische Grenze, die neues Unrecht und neuen Zündstoff schafft. Wenn Deutschland auf polnisch Posen verzichtet, wird für Deutschland eine befriedigende Regelung der beiderseitigen Verkehrs- und Wirtschaftsinteressen ein unentbehrlicher Teil des zu schließenden Vertrages.

Oberschlesien

Der Friedensvertrag sieht die Abtretung von ganz Oberschlesien und Teilen von Mittelschlesien vor8. Für Mittelschlesien können völkische Bestrebungen überhaupt nicht geltend gemacht werden. Es handelt sich um rein deutsche Gebiete, deren Loslösung vom Mutterlande ebenfalls nur strategisch begründet werden kann. Oberschlesien gehört seit ¾ Jahrtausenden zum deutschen Reich und hat während dieser Zeit in keinem politischen Zusammenhang mit dem polnischen Staatswesen gestanden. Die Bevölkerung ist durchaus nicht unbestritten polnisch; das fremdstämmige Element hat zahlenmäßig eine höchst geringfügige Majorität, der in Oberschlesien gesprochene Dialekt, das sogenannte Wasserpolnisch, ist niemals Schriftsprache, namentlich niemals Urkundensprache gewesen. Das eigentliche Polnisch ist für die nur wasserpolnisch redenden Oberschlesier, die beinahe alle der deutschen Sprache mächtig sind, eine schwer verständliche Sprache. Eine nationale polnische Bewegung ist erst in den letzten Jahrzehnten von außenher künstlich in das Land hineingetragen worden. Die ganze wirtschaftliche Struktur des Landes ist deutsch. Seine Einrichtungen für die Volksbildung und Volksgesundheit stehen in scharfem Gegensatz zu polnischen Zuständen, ebenso wie die Gesetzgebung für den Arbeiterschutz. Die nationale Willensrichtung der Majorität der oberschlesischen Bevölkerung ist heute strittig. Kein sicheres Urteil ist hier möglich: Deutschland ist heute halb verhungert und mit nationaler Entrechtung und Schuldknechtschaft bedroht, während Polen die materielle Unterstützung der alliierten und assoziierten Regierungen zur Verfügung steht. In der Oberschlesischen Frage können zweifelhafte völkische Ansprüche allein den Weg zur gerechten und dauernden Lösung nicht zeigen. Die deutsche Friedensdelegation macht geltend, daß wirtschaftliche Lebensinteressen in die Waagschale fallen müssen. Oberschlesien ist lebenswichtig für Deutschland. Oberschlesien ist entbehrlich für Polen. Das wichtigste Produkt Oberschlesiens ist die Kohle. Die Kohlenförderung Oberschlesiens betrug im letzten Friedensjahre 43½ Millionen Tonnen oder rund 23% der Kohlenförderung des deutschen Reiches von 190 Millionen Tonnen. Die oberschlesische Eisenproduktion betrug 1 Million Tonnen Roheisen der deutschen Eisenproduktion. Die Zinkproduktion betrug 170 000 Tonnen, etwa 60% der deutschen Zinkproduktion. Die folgende Abtretung Oberschlesiens würde für Deutschland unerträgliche Schädigungen wirtschaftlicher Art mit sich bringen. Die oberschlesische Kohle hat bis jetzt die gesamte Industrie Ostdeutschlands, soweit sie nicht von der Ostsee aus mit Kohlen aus England oder Rheinland-Westfalen beliefert wurde, versorgt, ebenso Teile Süddeutschlands und Böhmens, und zwar außer der Industrie hauptsächlich die Gasanstalten und die Haushaltungen. Insgesamt sind über 25 Millionen Menschen mit oberschlesischer Kohle versorgt. Der polnische Kohlenbedarf betrug[341] zuletzt im Frieden 10½ Millionen Tonnen Kohle, während die polnische Kohlenförderung aus dem nicht oberschlesischen, angrenzenden polnischen Kohlenbecken 6,8 Millionen Tonnen betrug. Von dem Fehlbetrag wurden 1½ Millionen aus Oberschlesien, der Rest aus dem jetzigen Tschecho-Slowakien eingeführt. Die Versorgung der Polen mit Kohlen, abgesehen von gewissen Spezialkohlen, würde sich aus den eigenen Kohlenfeldern ohne weiteres bewirken lassen. Die Polen brauchen nur ihre Gruben rationell auszubauen, um ihren Kohlenbedarf sicherzustellen. Das deutsche Wirtschaftsleben würde schon im Frieden unter normalen Verhältnissen den Verlust Oberschlesiens nicht habe tragen können. Bei den heutigen Verhältnissen, wo Deutschland, abgesehen von den Schädigungen seines Wirtschaftslebens durch den Krieg, schwere Lasten gegenüber dem Auslande auf sich nehmen muß, würde ein solcher Verlust zur Katastrophe werden.

Westpreußen

Der Friedensvertrag sieht die Abtrennung des größeren Teiles der Provinz Westpreußen von Deutschland vor9. Der überwiegende Teil der Bevölkerung dieser Provinz ist unbestritten deutsch. Die Provinz Westpreußen zerfällt in die Regierungsbezirke Danzig und Marienwerder. Nach der Volkszählung von 1910 waren im Regierungsbezirk Danzig 72,10% Deutsche und nur 27,62% Polen einschließlich der sogenannten Kaschuben. Im Regierungsbezirk Marienwerder waren 59,54% Deutsche gegen 40,33% Polen. Die an das ehemalige russische Polen angrenzenden Kreise Strasburg und Löbau ist Deutschland bereit, an Polen abzutreten, aber es vermag keinen polnischen Anspruch auf die linke der Weichsel gelegenen Kreise der Provinz anzuerkennen. Die hier liegenden Kreise, in denen die polnisch sprechende Bevölkerung überwiegt, bilden eine Enklave innerhalb einer unzweifelhaft deutschen Umgebung. Das Kartenbild führt zu falschen Schlüssen über die Bevölkerungsverteilung, weil die von einer polnischen Majorität bewohnten Kreise die am dünnsten bevölkerten Gebietsteile der Provinz Westpreußen sind: sie zählen insgesamt nur           Einwohner. Das Kernland Westpreußens ist das Weichseltal. Zu beiden Seiten der Weichsel wohnen überwiegend Deutsche, die zum großen Teil seit Jahrhunderten dort eingesessen sind. Der einzige Kreis, der an die Weichsel angrenzt und eine ganz geringfügige polnische Majorität hat, ist der Kreis Culm. Aber auch in diesem Kreise wohnen längst des Flußtales überwiegend Deutsche. Der nördlich von Culm an der Weichsel gelegene Kreis Graudenz hat nur 27% polnische Einwohner und soll dennoch ohne Volksabstimmung an den polnischen Staat übergehen. Der vorgesehene polnische Korridor würde Ostpreußen aus seiner natürlichen Verbindung mit dem Reiche herausreißen, ebenso kleine, aber volkswirtschaftlich sehr wichtige Teile Westpreußens. Dieser abgeschnürte östliche Teil des deutschen Reiches wäre zum Absterben verurteilt. Völkische Ansprüche können Polens Forderung nach dem Korridor nicht rechtfertigen. Im[342] Vordergrund stehen hier seine nationalen wirtschaftlichen Interessen. Sie können befriedigt werden, ohne daß hunderttausende von deutschen Bürgern preisgegeben und wirtschaftliche Lebensinteressen Deutschlands geopfert werden. Deutschland erkennt an, daß Polens Ansprüche auf einen freien Zutritt zum Meere vertraglich festgelegt und wirtschaftlich berechtigt ist. Es schlägt eine Regelung vor, die der eingangs aufgeführten Forderung des Präsidenten Wilson vom 22. Januar 1917 entspricht. Deutschland will dem polnischen Staat nicht nur bezüglich der Weichsel unter Voraussetzung der Gegenseitigkeit die weitgehendsten Rechte einräumen, sondern auch unter der gleichen Voraussetzung den Wirtschaftsverkehr auf den Eisenbahnen entsprechend den polnischen Bedürfnissen regeln. Sollte Polen entscheidenden Wert darauf legen, so würde die deutsche Friedensdelegation auch mit der Lösung einverstanden sein, daß durch Tarif und Verkehrsvereinbarungen Vorsorge dafür getroffen wird, daß die polnischen Bedürfnisse nach einem freien Zugang zum Meere unter Ausschluß jeder differenziellen Behandlung im Verkehrswesen befriedigt werden (Polen würde in dieser Beziehung in Danzig und etwa in anderen Hafenstädten genau dieselben Rechte erwerben können, die nach Artikel 363 und Artikel 364 des Entwurfs des Friedensvertrages Tschecho-Slowakien in den Häfen von Hamburg und Stettin zugebilligt werden sollen10). Polens wirtschaftlich freier Zutritt zum Meer soll unter die Bürgschaft einer zwischenstaatlichen Übereinkunft gestellt werden (Weichselakte11). Danzig aber darf nicht aus Deutschland herausgerissen werden. Allein Danzig und die Kreise Danzig-Höhe und Danzig-Niederung haben mehr deutsche Einwohner (245 000), als in den überwiegend polnischen und kassubischen Kreise des Regierungsbezirkes Danzig links der Weichsel Polen und Kassuben (180 000) wohnen. Der Stolz auf diese Stadt wurzelt tief in unserer Geschichte. Für den deutschen Charakter Danzigs zeugen ebenso eindringlich die Steine, aus denen es gebaut ist, als die Menschen, die es bewohnen. Unser Volk wird sich nie damit abfinden, daß Danzig seine nationale Zugehörigkeit zu Deutschland verliert und unter Fremdherrschaft gestellt wird zu Gunsten der materiellen Interessen eines anderen Volkes, denen jede gerechte Befriedigung auf andere Weise gewährt werden kann.

[343] Ostpreußen

Was die im südlichen Teil der Provinz Ostpreußen geforderten Volksabstimmungen angeht12 , so muß die Delegation geltend machen, daß die fraglichen Gebiete geschichtlich und staatsrechtlich niemals zur Republik Polen gehört haben. In bezug auf ihre Bevölkerung haben die fraglichen Gebiete insofern einen gemischten Charakter, als dort außer den Deutschen neben einem geringen Prozentsatz von Polen ein stärkerer Einschlag sogenannter masurischer Bevölkerung vorhanden ist. Diese Masuren sind Protestanten und schon dadurch von der Masse des Polentums getrennt. Dazu handelt es ich bei dem masurischen um ein besonderes Idiom, das niemals zur Schriftsprache geworden ist. Irgendwelche Bestrebungen nach Loslösung vom preußischen Staate sind vor dem Kriege dort niemals hervorgetreten. Wenn jetzt in der allgemeinen Gährung des Krieges vorübergehend dort derartige politische Tendenzen vereinzelt aufgetaucht sein sollten, so kann das für den deutschen Staat nicht Veranlassung sein, auf jene Lande in irgendeiner Form zu verzichten. Es handelt sich um eine von außen hereingetragene Agitation während der Kriegswirren, und es würde die Auflösung jeglicher staatlichen Ordnung bedeuten, wenn ohne weiteres jeder derartigen Agitation Rechnung getragen werden müßte. Was dann die Abtretung des Gebietes zwischen dem Memelstrom und der heutigen Reichsgrenze anbetrifft13, so handelt es sich dabei vornehmlich um den wichtigen Hafen- und Handelsplatz Memel und einen Teil seines Hinterlandes. Memel ist eine reindeutsche Stadt. Das Hinterland ist mit litauischer Bevölkerung durchsetzt, wie aber jüngst der Vertreter der unabhängigen Sozialisten Haase in der deutschen Nationalversammlung ausgesprochen hat, der mit den dortigen Verhältnissen aus 22-jährigem Aufenthalt genau vertraut ist, ist in jener Bevölkerung vor dem Kriege niemals der Wunsch zu Tage getreten, sich vom deutschen Reich zu lösen14. Die deutsche Delegation muß deshalb[344] die Forderung nach der Abtretung dieses Bezirks grundsätzlich ablehnen. Es ist zudem aus dem Friedensdokument nicht einmal ersichtlich, zu welchem Zweck dieses Gebiet überhaupt verwandt werden soll. Es entspricht nicht der Gerechtigkeit, daß der deutsche Staat einen Teil seines Staatsgebietes abtreten soll, damit fremde Staaten darüber nach ihren Wünschen beliebig disponieren. Sollte dort ein Nachbarstaat gegründet werden, so kann dessen wirtschaftlichen Bedürfnissen vollauf durch Spezialverträge über das Wirtschafts- und Verkehrsleben genügt werden, zu deren Abfassung Deutschland jederzeit bereit sein wird.

Zusammenfassende Bemerkungen

Deutschland erkennt an, daß die Mischung der Nationalitäten in den Ostgebieten vorzugsweise einen großzügigen wirtschaftlichen Ausgleich zwischen Deutschland und Polen verlangt. Wir sind bereit, den geregelten und friedlichen Austausch der Boden- und Gewerbserzeugnissen der beiden Länder in einem Handelsvertrage festzulegen, der unter nationale Garantie gestellt wird. Ein derartiges Abkommen müßte aber mit Rücksicht auf Oberschlesien auch zwischen Deutschland und der Tschecho-Slowakei abgeschlossen werden, die an dem Gedeihen dieses Gebietes und dem ungehinderten Austausch seiner Produkte ein ähnliches Interesse hat wie Polen. In bezug auf die territorialen Fragen hat die deutsche Friedensdelegation bei ihrer oben dargelegten Stellungnahme nicht von dem Gedanken sich leiten lassen, von der vereinbarten Rechtsgrundlage für die Lösung der polnischen Fragen irgend etwas abzuhandeln. Sie hat vielmehr nur eine unparteiische Anwendung der prinzipiellen Gesichtspunkte dieser Grundlage gefordert. Von den verschiedenen Gesichtspunkten, die an sich für die Lösung des Grenzproblems möglich waren, nämlich der historischen Zugehörigkeit dem völkischen Charakter der betreffenden Landschaft, ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen, strategischen Rücksichten, wendet der vorgelegte Vertragsentwurf jedesmal denjenigen an, der auf eine Schwächung und Zerreißung Deutschlands zu Gunsten seiner Nachbarn hinausläuft. So soll im Falle Danzig das wirtschaftliche Bedürfnis ausschlaggebend sein, während die völkischen Ansprüche der deutschen Einwohner nicht berücksichtigt werden, während für Oberschlesien umgekehrt über die wirtschaftlichen Zusammenhänge mit dem übrigen Deutschland einfach hinweggeschritten wird; während die Polen für die Provinz Posen neben ihren völkischen Gesichtspunkten die historischen in den Vordergrund rücken, werden in bezug auf Oberschlesien und das alte Ordensland Preußen die geschichtlichen Momente gänzlich beiseitegeschoben. Während alle Rechtsordnung in Zweifelsfällen den Besitzenden schützt, wird uns gegenüber ein zum mindesten auf 4–5 Generationen zurückgehender Besitzstand nirgendwo als Faktor berücksichtigt. Während die[345] Polen selbst auf Litauen und große Teile der Ukraine mit der Begründung Anspruch erheben, daß die Oberschicht polnisch sei, wird uns gegenüber nirgendwo beachtet, daß in jenen Gebieten des Ostens überall gleichmäßig das soziale und wirtschaftliche Übergewicht bei der deutschen Bevölkerung ist, und doch ist die deutsche Minderheit in den fraglichen Gebieten des deutschen Staatswesens wesentlich stärker wie umgekehrt die polnische Oberschicht in den vorgenannten Gebieten aus dem Osten der ehemaligen Republik. Außerdem ist das deutsche Volk von unendlicher Besorgnis erfüllt, daß seine deutschen Volksgenossen unter polnischer Herrschaft eine unerträgliche Existenz finden würden. Gewiß ist die ehemalige preußische Regierung unseren polnischen Mitbürgern auch nicht gerecht geworden, aber ihre Politik ist von den gegenwärtig regierenden Parteien Deutschlands immer bekämpft worden. Welche Gefahren aber die nationalen Minderheiten heute noch in Polen bedrohen, das zeigen die seit dem 11. November in Polen verübten Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Wir brauchen in dieser Beziehung nur auf den soeben veröffentlichten offenen Brief des Mitgliedes der amerikanischen Nahrungsmittelkommission Zuckermann an die polnische Nationalversammlung über den Massenmord in Pinsk, den die lokalen Behörden begünstigten und die Regierung straflos ließ, zu verweisen15. Den vorgelegten Friedensvertrag verwirklichen, hieße nichts anderes, als die Progromgrenze weiter nach Westen verschieben. Die deutsche Friedensdelegation glaubt also, nicht nur im Namen des deutschen Volkes, sondern im Interesse ganz Deutschlands dagegen Verwahrung einlegen zu müssen, daß Polen über seine berechtigten Ansprüche hinaus in seinem Expansionsdrange unterstützt wird.

Brockdorff-Rantzau

Fußnoten

1

Bei dem folgenden Telegramm handelt es sich offensichtlich um den Inhalt der Note über die territorialen Ostfragen, die die dt. Friedensdelegation in Versailles in ihrer Note vom 20.5.1919 angekündigt hatte (Materialien betr. die Friedensverhandlungen, Teil I: Der Notenkampf um den Frieden von Versailles, Teil I, hrsg. v. AA, Charlottenburg 1919, S. 40), und auf die in der Aufzeichnung des RAM über seine Besprechung mit dem RFM in Spa vom 19.5.1919 hingewiesen wird (s. Dok. Nr. 79). Die Note wurde jedoch nicht überreicht.

2

Laut anliegendem Verteilerplan wurden von dem vorliegenden Telegramm 27 Ausfertigungen hergestellt, von denen 2 an die Rkei gingen, in deren Akten sie jedoch nicht zu ermitteln sind; das hier zugrundeliegende Exemplar war von der Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen an das RFMin. übersandt worden und trägt das Präsentatum vom 19.5.1919.

3

In: Waffenstillstand, I, S. 6.

4

Auf die Note der RReg. vom 3.10.1918 an die amerik. Reg., in der RK Prinz Max v. Baden um einen Waffenstillstand nachsuchte, antwortete Lansing in einer Note vom 8.10.1918, ehe Präs. Wilson auf das dt. Ersuchen eingehe, halte er es für notwendig, „sich des genauen Sinnes der Note des RK zu versichern. Meint der Herr RK, daß die Kaiserlich Dt. Reg. die Bedingungen, die vom Präsidenten in seiner Botschaft an den Kongreß der Vereinigten Staaten vom 8. Januar und in den folgenden Botschaften niedergelegt worden sind, annimmt, und daß ihr Zweck beim Eintritt in die Diskussion nur der sein würde, sich über die praktischen Einzelheiten ihrer Anwendung zu verständigen? Der Präsident der Vereinigten Staaten fühlt sich verpflichtet, zu dem Vorschlage eines Waffenstillstandes zu erklären, daß er sich nicht berechtigt fühlen würde, den Regierungen, mit denen die Vereinigten Staaten gegen die Mittelmächte verbunden sind, einen Waffenstillstand vorzuschlagen, solange die Heere dieser Mächte auf ihrem Boden stehen. […]“ (Waffenstillstand, I, S. 11 f.).

5

In: Waffenstillstand, I, S. 7.

6

Engl. und dt. Text der Rede Wilsons vom 22.1.1917 in: Die Reden Woodrow Wilsons, hrsg. v. Committee on Public Informations of the United States of America, Bern 1919, S. 2 ff.

7

Die im all. Friedensvertragsentw. in Art. 27, Abs. 7 vorgesehene dt.-poln. Grenze wurde im endgültigen Friedensvertrag im Posener Gebiet nur in unwesentlicher Hinsicht zu dt. Gunsten revidiert.

8

Hier liegt einer der wenigen Punkte vor, in denen der all. Friedensvertragsentw. und der endgültige Vertrag sich substantiell voneinander unterschieden. In Art. 27 Abs. 7 des all. Friedensvertragsentw. war eine Abtrennung Oberschlesiens und einiger mittelschlesischer Kreise an Polen vorgesehen; Art. 88 lautete lediglich: „Eine Kommission, bestehend aus 7 Mitgliedern, von denen 5 von den verbündeten und ass. Hauptmächte ernannt werden, eines durch Dtl. und eines durch Polen, wird 15 Tage nach Inkrafttreten des vorliegenden Vertrages eingesetzt werden, um an Ort und Stelle die Grenzlinie zwischen Polen und Dtl. festzustellen. Die Entscheidungen dieser Kommission werden durch Stimmenmehrheit getroffen und werden für die beteiligten Parteien bindend sein.“ In Art. 27 Abs. 7 des endgültigen Friedensvertrags war die dt.-poln. Grenze im oberschlesischen Bereich überhaupt ausgeklammert; Art. 88 bestimmte nunmehr die genauen Grenzen Oberschlesiens, innerhalb derer die Einwohner berufen sein sollten, „im Wege der Abstimmung kundzugeben, ob sie mit Dtl. oder mit Polen vereinigt zu werden wünschen.“ Weiterhin wurden in einer 6 Paragraphen umfassenden Anlage die näheren Modalitäten der Abstimmung geregelt.

9

In Art. 27 Abs. 7 des all. Friedensvertragsentw.; die darin festgelegten Grenzziehungen zwischen Dtl. und Polen wurden für den Bereich Westpreußens fast unverändert in den endgültigen Vertragstext übernommen.

10

Die genannten Art. wurden unverändert in den endgültigen Vertragstext übernommen; sie betrafen die Verpachtung von Freizonen mit einer Frist von 99 Jahren in den Häfen von Hamburg und Stettin an die Tschechoslowakei.

11

Bereits vor dem Weltkrieg war Dtl. mehrfach an die russ. Reg. herangetreten mit der Anregung, im Rahmen einer gemeinsamen Weichselschiffahrtsakte die Freiheit der Schiffahrt auf der Weichsel für alle Uferstaaten und die Frage der Flußregulierung vertraglich zu sichern. In Versailles wurde am 28.6.1919 Polen von der Entente in einem Sondervertrag verpflichtet, die Weichsel dem laut Art. 23 der Völkerbundssatzung abzuschließenden Abkommen über die Rechtsstellung internationaler Flüsse zu entwerfen; dieses Abkommen wurde am 20.4.1921 in Barcelona abgeschlossen und galt damit auch für die Weichsel.

12

In Art. 94 des all. Friedensvertragsentw. hieß es: „In der Zone zwischen der Südgrenze Ostpreußens, wie sie im Art. 28, Teil III (Deutschlands Grenzen) des gegenwärtigen Vertrages bezeichnet ist, und der nachstehend beschriebenen Linie werden die Einwohner berufen, im Wege der Abstimmung zu erklären, mit welchem Staate sie vereinigt zu werden wünschen [es folgen Angaben über die Abgrenzung des Abstimmungsbereichs].“ Der Art. wurde in den endgültigen Vertragstext unverändert übernommen.

13

Art. 99 des all. Friedensvertragsentw. lautete: „Dtl. verzichtet zugunsten der verbündeten und ass. Hauptmächte auf alle Rechte und Titel auf die Gebiete zwischen der Ostsee, der Nordostgrenze Ostpreußens, wie sie in dem Art. 88 des Teiles II (Grenzen Deutschlands) des gegenwärtigen Vertrages beschrieben ist, und den alten Grenzen zwischen Dtl. und Rußland.

Dtl. verpflichtet sich, die Bestimmungen anzuerkennen, welche die verbündeten und ass. Hauptmächte in bezug auf diese Gebiete treffen werden, insbesondere was die Staatsangehörigkeit der Einwohner anlangt.“ Der Art. 99 wurde, nur stilistisch unerheblich verändert, in den endgültigen Vertragstext übernommen.

14

Der Abg. in der NatVers Haase (USPD) hatte während der 39. Sitzung der NatVers am 12.5.1919 im Verlauf der Debatte über den all. Friedensvertragsentw. u. a. ausgeführt: „Als Ostpreuße weise ich besonders auf die Vergewaltigung hin, die der Bevölkerung dieser Provinz zugedacht ist. Der nordöstliche Streifen mit Memel, Schwarzort, Nidden, wird über den Kopf der Bevölkerung von Dtl. losgetrennt und, sei es an einen litauischen Staat, sei es an Polen angegliedert. Fast 40 Jahre hindurch habe ich mit den Bewohnern der ganzen Provinz in enger Beziehung gestanden, niemals hat die Bevölkerung jenes Gebiets, das jetzt vom Deutschen Reich losgerissen werden soll, an eine Trennung gedacht, niemals die Vereinigung mit einem anderen Volke gewünscht, sie wird einfach durch einen Gewaltakt wie eine leblose Masse an einen anderen Staat verschoben.“ (NatVers Bd. 327, S. 1102 ). Haase wurde 1863 in Allenstein geboren und war von 1890 bis 1911 Rechtsanwalt in Königsberg; 1912 siedelte er nach Berlin über.

15

In der dt. Tagespresse nicht ermittelt.

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