1.9 (str1p): Finanzpolitik und Stabilisierung der Währung

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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Finanzpolitik und Stabilisierung der Währung

Es ist die für die weitere Entwicklung der Weimarer Republik grundlegende Leistung der Regierung Stresemann gewesen, daß es ihr gelang, während der schwersten innen- und außenpolitischen Belastung des Reiches ohne fremde Kapitalhilfe die Währung zu stabilisieren. Die Tabellen in Anhang 7 lassen erkennen, daß, wie erschreckend der Tiefstand des Wertes der Papiermark auch schon beim Rücktritt Cunos gewesen war, erst in der Zeit Stresemanns der völlig unkontrollierte Absturz ins Bodenlose erfolgte. Der Entwertungsschub vor der Aufgabe des passiven Widerstandes ist dabei verhältnismäßig niedrig im Vergleich zu dem Totalverfall zwischen dem Abbruch des passiven Widerstandes und der Ausgabe der Rentenmark in den letzten Tagen der Regierung Stresemann. Die galoppierende Inflation ließ auch die realen Inlands- und die Auslandspreise steigen. Die bisherigen Exportvorteile, die die deutsche Industrie bei hoher Arbeitsquote aus den Anfangsstadien der Inflation gezogen hatte, gingen verloren. Eine wachsende Zahl von Arbeitslosen, auch abgesehen von denen, die der Ruhrkampf zu Unterstützungsempfängern gemacht hatte, war die Folge. Die „Repudiation“ der Mark begann. Sie verlor ihren Wert als Zahlungsmittel. Da sich die Bauern gegen die Annahme von Papiermark sträubten, mußte man damit rechnen, daß trotz guter Ernte die Städte nicht ausreichend versorgt werden konnten. Die Notlage in den Ballungsräumen hatte bereits zu Unruhen und Plünderungen geführt; in einigen Gebieten wie Bayern und der Provinz Sachsen hatten die Verwaltungen den Abtransport von Lebensmitteln in andere Reichsteile verboten. Die Gefahr zu bannen, daß das Volk bei vollen Scheunen hungerte, war für den Ernährungsminister Luther der aus den Akten der Reichskanzlei am stärksten hervortretende[LXXVI] Grund, schon bevor er im zweiten Kabinett Stresemann das Finanzressort übernahm, hartnäckig darauf zu drängen, die Währungsreform voranzutreiben.

Die Parteien der Großen Koalition hatten in einer Reichstagsresolution vom 15. August ihre gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß eine „Belastung der Vermögenswerte der Wirtschaft“ die Voraussetzung für die Sanierung der Reichsfinanzen und den Übergang zu einer stabilen Währung sei. Dieser vom Reichstag erteilte Auftrag stellte die Regierung vor folgende Fragen: Auf welche Vermögenswerte sollte zurückgegriffen werden (Immobilien, Waren, Devisen)? In welcher Form sollte auf die Vermögenswerte zurückgegriffen werden (Steuern, Enteignung, Pfandbelastung)? In wessen Verantwortung sollte die Heranziehung der Vermögenswerte der Wirtschaft zugunsten des Staates durchgeführt werden (durch die Berufsstände, durch den Staat, durch beide gemeinsam)? Die zahlreichen damals entstandenen Pläne zur Währungssanierung, in denen zu den genannten Fragen in unterschiedlicher Weise direkt oder indirekt Stellung genommen wurde, finden sich übersichtlich zusammengestellt in dem aus dem Material des Reichsfinanzministeriums gearbeiteten Werk von Ministerialdirektor P. Beusch297. Diese Dokumentation bleibt für jede Beschäftigung mit der Finanzpolitik der Regierung Stresemann grundlegend. Die Akten der Reichskanzlei belegen darüber hinaus, in welchem politischen Prozeß sich innerhalb der von Stresemann geleiteten Kabinette aus kontroversen Ausgangspositionen schließlich das Konzept der Rentenbank und Rentenmark in der Form entwickelte, in der es zum entscheidenden Auftakt der Währungsstabilisierung wurde.

Merkwürdig ist, daß die Reichsbank vor den außerordentlichen Anforderungen der Zeit versagte. Sie entwickelte keine eigenen Vorschläge, begnügte sich mit der negativen Drohung einer demnächstigen totalen Kreditsperre für das Reich und bestritt, indem sie die Ausgabenwirtschaft des Reiches anprangerte, jede eigene Mitverantwortung für den Gang der Inflation298. In der Kritik an Reichsbankpräsident Havenstein waren die Mitglieder des Kabinetts untereinander und mit dem Reichspräsidenten einig. Versuche, ihn zum freiwilligen Rücktritt zu bewegen, mißlangen. Seine Abberufung war aufgrund des Autonomiegesetzes vom 26. Mai 1922 nicht möglich299. Erst sein Tod gegen Ende der Regierungszeit Stresemanns am 20. November machte den Weg frei für die Ernennung seines Nachfolgers Hjalmar Schacht.

Die Auseinandersetzung innerhalb des ersten Kabinetts Stresemann über Mittel und Wege zur Währungsstabilisierung wurde durch die beiden entgegengesetzten Positionen bestimmt, die von dem deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Staatssekretär a. D. Carl Helfferich und dem Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding vertreten wurden. Beide, der sozialistische Autor des „Finanzkapital“ wie der konservative Politiker, der „Das Geld“ in seiner[LXXVII] Funktion untersucht hatte, waren in ihrer Weise angesehene Theoretiker. Es sei dahingestellt, wieweit sie beide in der Testsituation der Währungsproblematik 1923 in ihren unterschiedlichen Forderungen mehr von ihrer Theorie oder von ihrer pragmatischen Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Lage bestimmt waren und wieweit ihre parteipolitisch konträren Überzeugungen sowie gegenseitige persönliche Abneigung das jeweilige Urteil über das von der Gegenseite vertretene Sachkonzept beeinflußt haben. Helfferich hatte schon Anfang August die Regierung Cuno für seine Vorstellungen zu gewinnen versucht. Nach dem Regierungswechsel trug er im Reichstag den Gedanken vor, daß, nachdem der Kredit des Reiches im In- und Ausland erschüttert sei, das neue, auf der „Erfassung der Sachwerte“ beruhende Zahlungsmittel „durch die Wirtschaft selbst“ zu schaffen sei. Auf Einladung Hilferdings entwickelte er drei Tage später diesem sowie Stresemann und den Reichsministern Luther und v. Raumer seinen Plan anhand eines durchformulierten Gesetzentwurfes300. Der springende Punkt für die Verwirklichung seines Planes war für ihn, daß die Leitung der Währungsbank in den Händen der Wirtschaft lag und und daß der Besitz, wenn er die Garantie für eine wertstabile Währung übernahm, von der Sondersteuer wieder entlastet wurde, die ihm durch Gesetzbeschluß des Reichstags am 11. August eben erst auferlegt worden war. In diesen beiden Forderungen steckte verfassungs- und gesellschaftspolitischer Sprengstoff, der den Zusammenhalt der Koalition gefährden konnte. Es blieb unklar und wurde zum Streitpunkt zwischen Helfferich und der Regierung, ob und wieweit diese ihm Zusagen hinsichtlich der beiden von ihm geforderten „Sicherungen“ gemacht habe. Wenn man der nichtamtlichen Aufzeichnung über die Besprechung vom 18. August folgt, kann man den Eindruck gewinnen, daß Stresemann und Hilferding zustimmten. Raumer hat Helfferich sogar zuvor eine Zusage der Regierung brieflich in Aussicht gestellt. Hilferding hingegen hat eine solche Zusage bestritten. Für ihn war die Besitzsteuer unverzichtbar301. Im übrigen waren die charakteristischen Kennzeichen des Projektes Helfferich in seinen beiden Fassungen vom August und von Anfang September302: Die Währungsbank hat nur eine interimistische Aufgabe, bis nach gelungener Stabilisierung die Reichsbank wieder in ihre Funktion der Kreditbeschaffung für das Reich eintreten kann. Das auf 1 Milliarde bzw. 1,25 Milliarden Mark angesetzte Grundkapital der Bank besteht in entsprechend hohen Grundschulden bzw. Schuldverschreibungen des landwirtschaftlichen und gewerblichen Besitzes, die mit 4% verzinsbar sind. Die belasteten Eigentümer sind in der Höhe ihrer Schuldverschreibungen Anteilseigner der Bank; ihr Anteil wird aus dem Reingewinn der Bank in der Höhe bis zu 5% der Grundschulden verzinst. Zur Abgeltung der Besitzsteuer zahlt[LXXVIII] die Bank dem Reich à fonds perdu einen einmaligen Betrag in Höhe von 300 Millionen Goldmark bzw. 375 Millionen „Roggenmark“. Die von der Währungsbank auszugebenden Geldzeichen sind nicht am Gold, sondern am Wert des Roggens orientiert, und zwar in dem Maße, daß für je eine Tonne Roggenwert 200 Roggenmark ausgegeben werden können. Die bankmäßige Deckung der auszugebenden Geldzeichen besteht in 4%igen Rentenbriefen, die gegen die Noten eintauschbar sind, ähnlich wie es das Gold der Reichsbank in der Vorkriegszeit war. Dem Reich gegenüber ist die Währungsbank ermächtigt, Schatzanweisungen bis zur Höhe von 2,125 Milliarden Mark zu diskontieren; Kreditgeschäfte mit der privaten Wirtschaft können erfolgen im Rahmen der vollen Deckung der Roggenmarknoten.

Der eigentümliche Gedanke, den Roggen als Wertmaßstab zu nehmen, war keineswegs neu. Schon im Juni hatte der Reichstag mit Zustimmung aller Parteien außer den Kommunisten ein Gesetz verabschiedet, das wertbeständige Hypotheken u. a. auf Roggenbasis vorsah303. Das eigentlich Originelle des Planes Helfferich lag in der Deckung der Geldzeichen durch Rentenbriefe, die ihrerseits auf der Pfand- und Schuldbelastung der Wirtschaft beruhten, ohne daß Pfand und Schuld den Besitz wirklich beeinträchtigten, da die Belasteten in der jeweiligen Höhe ihrer Belastung zugleich Anteilseigner der Bank wurden und an ihren Gewinnausschüttungen teilnahmen; dies alles – nach der Vorstellung Helfferichs – unter gleichzeitiger Abschüttelung der Besitzsteuer. Der psychologische, mit der „Phantasie des Volkes“ rechnende, kreditbegründende Effekt einer solchen Konstruktion lag auf der Hand, nicht nur für die Besitzenden, unter ihnen die Landwirtschaft selber, sondern auch für alle, die ein derart fest auf den Besitz gegründetes Zahlungsmittel in der Hand halten würden.

Demgegenüber war Hilferding ein „Metallist“. Er hatte Bedenken gegen eine Roggenmark wegen ihres unsicheren Wertverhältnisses zur Auslandswährung. Sie schien allenfalls als Binnenwährung verwendbar. Hilferding suchte nach Möglichkeiten einer Stabilisierung auf Goldbasis, sah aber die Voraussetzung hierfür in einer vorgängigen, im Augenblick sich noch gar nicht abzeichnenden Regelung der Reparationsfrage. Nur eine „Operation im Wege der Außenpolitik“ vermöge zu helfen, nicht das „technische Mittel“. Daher, so erklärte er im Kabinett, könne auch die Schaffung einer wertbeständigen Währung das Problem nicht lösen304. Er begnügte sich für den Augenblick mit der Forderung nach strenger Devisenerfassung. Die vorhandenen Devisen zu mobilisieren zugunsten des Reiches, war der Wunsch aller an den internen Regierungsdiskussionen Beteiligten. Die Schwierigkeit lag in der Durchführung. Durch Devisenerfassung war auf alle Fälle keine schnelle Abhilfe zu erwarten. Von Zwangsmaßnahmen konnte man sich wenig versprechen. Zudem war zu berücksichtigen, daß ohne Zweifel auch die Privatwirtschaft Devisen für ihren Verkehr mit ausländischen Geschäftspartnern benötigte. Statt schematische Zwangsregelungen zu treffen, verfiel daher die Regierung auf den Ausweg,[LXXIX] einen „Kommissar für Devisenerfassung“ zu bestellen mit weitgehender Entscheidungsbefugnis in Einzelfällen305.

Hilferdings Zögern, in der eigentlichen Währungsfrage Maßnahmen zu ergreifen, wurde am 30. August im Kabinett sowohl von seinem Parteifreund Schmid wie von Stresemann deutlicher Kritik unterworfen. In den Kabinettssitzungen vom 7. und 10. September entwickelte er daraufhin Leitlinien für ein eigenes Konzept, ohne allerdings einen konkreten Gesetzentwurf vorlegen zu können: Er lehnte es ab, die Organisationen der Berufsstände zu Trägern der Währungsbank zu machen, betonte die Notwendigkeit der Gold- statt Roggenbasis für ein stabiles Geld und kritisierte am Entwurf Helfferichs insbesondere, daß er die Besitzenden, indem er sie belaste, zugleich zu Anteilseignern der Währungsbank mache und demnach „eine wirkliche Leistung der Wirtschaft nicht getätigt werde“. Das erforderliche Kapital für eine Goldnotenbank wollte er durch eine Mobilisierung des noch vorhandenen Reichsbankgoldes in Höhe von 100 Millionen Mark und durch die Auflegung einer zusätzlichen Goldanleihe von 80 Millionen Mark gewinnen. Bei zunächst 50%iger, später 30%iger, Golddeckung hoffte er genügend Noten ausgeben zu können, um den dringendsten Bedürfnissen der Wirtschaft zu entsprechen. Die Kreditbedürfnisse des Reiches aber sollten bis zu einer späteren endgültigen Regelung weiterhin durch die Reichsbank mit Hilfe von Papiergeld befriedigt werden. Um eine Einlösbarkeit der Goldnoten zu gewährleisten, wollte Hilferding gewisse Elemente des Helfferich-Plans in sein Projekt einbeziehen: auf der Grundlage einer hypothekarischen Belastung der Wirtschaft sollten durch die Bank verzinsbare Goldobligationen ausgegeben werden, die zur Hälfte für die Einlösung von Goldnoten dienen, zur anderen Hälfte dem Reich zur Verfügung gestellt werden sollten306. Luther, v. Raumer und wie sie das ganze Kabinett stimmten zu. Damit schien in dieser brisanten Frage der angesichts des bevorstehenden Abbruchs des Ruhrkampfes so notwendige Koalitionskompromiß gewonnen zu sein. Jedoch die Reichsbank lehnte ab307. Sie erklärte, jede Reform, die ihre weitere Inanspruchnahme durch das Reich nicht beseitige, sei wertlos. Sie wiederholte ihre Ankündigung, daß sie nach einer gewissen Übergangszeit die Diskontierung von Reichsschatzanweisungen einstellen werde, und verwies auf das Projekt Helfferich als einen gangbaren Weg. Also zurück zu Helfferich, wie es v. Raumer im Kabinett befürwortete? Hier konnte Stresemann als Votum des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, die selbst ebenfalls die Schaffung einer Goldnotenbank, aber durch die Wirtschaft und mit Deponierung des Goldes im Ausland, entwickelt hatte308, mitteilen, daß sie als interimistischer Lösung der Schaffung der Roggenmark zustimme. Das Kabinett beschloß daraufhin am 13. September, die beiden Teile des Kompromisses vom 10. September wieder auseinanderzunehmen[LXXX] und sowohl die Schaffung einer Goldnotenbank wie die eines wertbeständigen Zahlungsmittels zu betreiben309. Praktisch jedoch bedeutete dies, daß man sich zunächst wieder auf das Projekt Helfferichs konzentrierte310. Aus den nachfolgenden Beratungen, die vor allem von Luther vorangetrieben wurden, ergab sich unter Berücksichtigung von Einwänden, die teils von seiten der Reichsbank, teils von Hilferding erhoben wurden, ein modifizierter Plan, der am 26. September als Gesetzentwurf vom Kabinett verabschiedet und dem Reichsrat zugeleitet wurde311. Er unterschied sich in folgenden Punkten vom ursprünglichen Konzept Helfferichs: bei der Bestellung des Präsidenten der Bank nicht die Berufsstände, sondern die Reichsregierung ausschlaggebend; statt der nur für den Binnenverkehr brauchbaren Roggenmark Gold als Wertmesser; bankmäßige Geschäfte nur mit dem Reich, die Reichsbank bleibt also in ihrer Funktion für die Wirtschaft unberührt; bei einer Zinsschuld von 6%, die der pfandbelastete Besitz gegenüber der Bank trägt, Gewinnanteil der Anteilseigner bis zu höchstens 3%, also eine reale Belastung des Besitzes; ferner keine Entlastung des Besitzes von der am 11. August ihm auferlegten Sondersteuer, daher keine Hergabe von 300 Millionen Goldmark durch die Bank à fonds perdu an das Reich, sondern als zinsloses Darlehn; auf Vorschlag Hilferdings schärfere Begrenzung der Gesamtdarlehnssumme der Bank an das Reich auf höchstens 1,2 Milliarden Mark312; auf Forderung Stresemanns Vorrangstellung einer ersten Hypothek auf den Grundbesitz zugunsten eventueller Pfandhaftung für Reparationszahlungen des Reiches313.

Nachdem in der Kabinettskrise Anfang Oktober v. Raumer und Hilferding, die beiden Antagonisten in der Frage, wieweit der Besitz belastet werden solle, ausgeschieden waren314 und Luther das Finanzministerium übernommen hatte, wurden als Folge von Verhandlungen mit den Wirtschaftsständen, die als Träger der Währungsbank vorgesehen waren, erneut einige Veränderungen am Text vorgenommen315. Die eine betraf die Bemessung der Gewinnbeteiligung für die Anteilseigner. Helfferich hatte seine Kritik an Stresemann und Hilferding am 14. September durch die Veröffentlichung und Kommentierung seines Projektes in der Kreuzzeitung in die Öffentlichkeit getragen und im Reichstag am 9. Oktober während der Debatte um das Ermächtigungsgesetz in scharfer Form erklärt, daß durch die Regierungsvorlage sein Projekt „denaturiert“ worden sei: Die Regierung habe ihre Zusage nicht gehalten; für den Besitz sei die doppelte Belastung durch die Betriebs- und Landabgabe und die Belastung zugunsten des neuen Geldes unerträglich. Trotz dieser offenen[LXXXI] Kampfansage im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz wurde Helfferich erneut zu den Beratungen zwischen Regierung und Wirtschaft hinzugezogen mit dem Ergebnis, daß der endgültige Text der am 15. Oktober erlassenen Verordnung nunmehr vorsah, den Reingewinn der Bank nach Überschreibung von 40% bzw. 30% auf ein Tilgungskonto den Anteilseignern zufließen zu lassen, und zwar bis zur Höhe von 6% ihrer eingebrachten Grundschulden und Schuldverschreibungen316. Im Unterschied zu dem unter der Verantwortung Hilferdings verabschiedeten Gesetzentwurf kam der unter der Verantwortung Luthers zustande gekommene Text der endgültigen Verordnung in dieser Hinsicht den Vorstellungen Helfferichs wieder mehr entgegen317. Eine weitere Modifizierung war auf das Votum von Reichsbank und Bankgewerbe zurückzuführen: Man überließ die Einpendelung des Wertverhältnisses zwischen den neuen Wertzeichen und der Papiermark dem freien Spiel und verzichtete auf eine jeweilige amtliche Festsetzung. Die Mark blieb also die einzige offizielle Währung, aber die neuen und, wie man erwartete, wertstabilen Geldzeichen erhielten dadurch allgemeine Geltung, daß alle öffentlichen Kassen zu ihrer Annahme verpflichtet wurden. Dem neuen Geld wurde schließlich der Name „Rentenmark“ gegeben, nachdem die „Roggenmark“ Helfferichs verworfen worden war und nachdem in den Zwischenetappen der Luther-Plan von der „Bodenmark“, der Gesetzentwurf Hilferdings von der „Neumark“ gesprochen hatten. Dem psychologischen Effekt, der sich mit dem ursprünglichen Namen der Roggenmark hatte verbinden sollen, wurde jedoch auch jetzt noch in der graphischen Gestaltung der Rentenmarknoten Rechnung getragen: sie zeigten ein Bauernmädchen mit einer Roggengarbe im Arm.

Stresemann hat nach dem Ausweis der Akten der Reichskanzlei in der Währungsfrage keine eigene Initiative entwickelt und auch keine deutlich profilierte eigene Meinung besessen. Erkennbar ist seine Einwirkung auf den Gang der Dinge nur in der alles beherrschenden außenpolitischen Frage, den Weg offenzuhalten für eine Ablösung des territorialen Reparationspfandes der Ruhr durch eine erststellige allgemeine hypothekarische Haftung der deutschen Wirtschaft. Im übrigen neigte er eher zu einer metallistischen Lösung der Währungsfrage. Er hat Hilferding gestützt und ihn auch später noch gegen Kritiker in Schutz genommen318. Dem entsprach es, daß er nach dem Rücktritt Hilferdings als Nachfolger im Amt des Reichsfinanzministers am liebsten Hjalmar Schacht gesehen hätte319. Schacht war in der ganzen Zeit der Entstehungsphase der Währungsbank ein entschiedener Gegner der Roggen- wie der Rentenmark gewesen320. Ähnlich wie Hilferding, wollte er die Währung mit Hilfe einer Goldnotenbank stabilisieren321. Unbeschadet seiner von Luther[LXXXII] entschieden abweichenden Meinung über Nutz und Frommen der Rentenbank wurde er am 12. November als Währungskommissar ins Reichsfinanzministerium berufen und Luther zur Seite gestellt mit dem Recht, an Kabinettssitzungen, wenn auch ohne Stimmbefugnis, teilzunehmen322.

Zwischen der Schaffung der Rentenmark am 15. Oktober und der Ausgabe der Rentenmark am 15. Novnmber verstrich ein ganzer Monat, in dem die Regierung sich vergeblich bemühte, den immer weitergehenden Verfall der Mark aufzuhalten323. Zweifel an der Wertbeständigkeit der Rentenmark tauchten auf, bevor sie auf dem Markte erschien324. Solche Zweifel wurden genährt durch die Ungewißheit, ob auch in den besetzten Gebieten der Besitz als erweiterte Pfandbasis für die Rentenmark herangezogen werden konnte325, ferner ob, wie lange und in welchem Maße es überhaupt verantwortbar sein würde, die kommende Rentenmark für Unterstützungszahlungen im besetzten Gebiet zu verwenden, wenn man verhindern wollte, daß sie in den Strudel der Abwertung mit hineingerissen wurde326. Das Schicksal der Rentenmark und das Schicksal des Rheinlandes waren in jenen Wochen dramatischer Spannung auf das engste miteinander verknüpft.

Fünf Tage nach der Emission der Rentenmark, am 20. November, gelang es, den Kurs des Dollars auf 4,2 Billionen Mark zu stabilisieren. Die Reichsbank setzte ein analoges Umtauschverhältnis von 1 Billion Mark = 1 Rentenmark fest. Nun war die Rentenmark von vornherein nur als eine Übergangslösung gedacht. Das Ziel war, im Endergebnis zu einer im ausländischen Zahlungsverkehr konvertierbaren, auf Gold fundierten neuen Währung zu gelangen. Die Einführung der Rentenmark unter der Regierung Stresemann war der Anfang eines Stabilisierungsprozesses, der sich unter der Regierung Marx fortsetzte und über die Schaffung einer Golddiskontbank am 7. April 1924 mit der Annahme des Dawes-Plans am 30. August 1924 zur goldgedeckten Währung der „Reichsmark“ führte327.

Neben der Schaffung der Rentenmark war die Regierung Stresemann bemüht, den Auswirkungen der Inflation mit Hilfe anderer wertstabiler Elemente entgegenzuwirken. Eines dieser Mittel war die schon unter Cuno beschlossene, zu Beginn der Regierung Stresemann am 14. August aufgelegte wertbeständige Goldanleihe, deren Stücke in Papiermark erworben werden konnten328. Ihre unzweckmäßige Handhabung durch die Reichsbank wurde durch Luther auf das heftigste kritisiert329. Durch Verkäufe von Anleihestücken unter dem tatsächlichen Tageskurswert des Goldes infolge Differenz zwischen dem niedrigeren Kurs des Kauftages im Verhältnis zum höheren Kurs des Tages[LXXXIII] der Aushändigung sei sie zum Spekulationsobjekt geworden und dem Reich beträchtlicher Schaden zugefügt worden. Eine relativ kleine Stückelung der Goldanleihe sollte dem Bedarf an wertbeständigen Zahlungsmitteln entgegenkommen. Die Wirtschaft war weitgehend zu wertbeständigen Löhnen, der Einzelhandel zur Auszeichnung seiner Waren in Goldmark übergegangen. Der Geschäftsverkehr orientierte sich zunehmend am Gold- bzw. Dollarwert. Alle diese Bestrebungen wurden aufgefangen und abgerundet durch die Einführung des allgemeingültigen Zahlungsmittels der Rentenmark. Deren Erfolg hing aber letztlich davon ab, ob es dem Reich gelang, seinen Haushalt zu stabilisieren.

Das Anschwellen der Ausgaben und die Entwertung der Mark hatten bereits in dem Augenblick, als das erste Kabinett Stresemann gebildet wurde, ein derartiges Ausmaß erreicht, daß von einer geregelten Haushaltsführung keine Rede mehr sein konnte. Die in den folgenden Monaten in kurzen Abständen beschlossenen Nachtragshaushalte lassen erkennen, daß das Verhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben jeder Kontrolle entglitt. Der Reichshaushaltsplan vom 4. Juni 1923 für die Zeit vom 1. April 1923 bis zum 31. März 1924 war in Einnahmen und Ausgaben auf 2,23 Billionen Mark angelegt330. In Nachtragshaushalten hat der Reichstag diesen Ansatz um folgende Beträge erhöht: am 11. Juli um 3,5 Billionen Mark331, am 14. August um 42,75 Billionen Mark332, am 13. Oktober um 54 416 Billionen Mark333. Gleichzeitig mit diesen Feststellungen von Nachträgen zum Reichshaushalt wurde der Reichsfinanzminister regelmäßig ermächtigt, die notwendigen Mittel auf dem Wege von Anleihen und besonders durch Ausgabe von Reichsschatzanweisungen zu beschaffen. Dabei wurde der vorweggenommenen weiteren Geldentwertung Rechnung getragen. So erhielt der Reichsfinanzminister am 16. Oktober die Befugnis, „zur vorübergehenden Verstärkung der ordentlichen Betriebsmittel der Reichshauptkasse Schatzanweisungen bis zu weiteren 500 000 Billionen Mark auszugeben“. Damals (15. Oktober) betrug die schwebende Schuld des Reiches 170 Billiarden Mark, einen Monat später, am 15. November, 191,6 Trillionen Mark, d. h. sie war in einem Monat um mehr als das Tausendfache angewachsen. Einnahmen und Ausgaben des Reiches in Milliarden Goldmark ergaben für die Monate August bis November 1923 nach Dollarindex umgerechnet folgendes Bild:

Einnahmen

Ausgaben

August

78,1

1013,1

September

55,6

1661,8

Oktober

14,5

881,8

November

63,2

1510,0334

[LXXXIV] Wie hat das Kabinett auf diese Entwicklung reagiert? Es ist festzustellen, daß nach Auskunft der Akten der Reichskanzlei in der Zeit der Regierung Stresemann im Kabinett niemals eine eingehende, umfassende Haushaltsdebatte geführt worden ist. Die jagende Inflation überholte jede exakte Kalkulation, und die drängenden großen Aufgaben der Innen- und Außenpolitik absorbierten Zeit und Kraft des Kabinetts und des gesundheitlich labilen Reichskanzlers, der in jenen Monaten bis an den Rand seiner physischen Leistungsfähigkeit gedrängt wurde. Die Sorge um die finanzielle Lage des Reiches findet dabei in fast allen Kabinettssitzungen ihren Niederschlag. In einer ganz und gar düster gezeichneten Ausgangslage beginnend, in der es Hilferding für ratsam hielt, dem Reichstag kein völlig realistisches Bild der Finanzlage zu geben335, hat aber die Regierung Stresemann, besonders nachdem Luther das Finanzressort übernommen hatte, im Zusammenhang mit der jetzt energisch vorbereiteten Währungsstabilisierung eine Reihe von Schritten unternommen, um auch die Voraussetzungen für eine Haushaltsstabilisierung zu schaffen. Es entsprach dem Regierungsstil jener Krisenzeit, deren Gesetzgebung vornehmlich auf dem Artikel 48 der Reichsverfassung und auf dem Ermächtigungsgesetz beruhte, wenn bei den Verordnungen, die der Haushaltsstabilisierung dienten, das Kabinett sich im allgemeinen auf modifizierende Kritik und Zustimmung beschränkte und im übrigen die Initiative und Verantwortung fast gänzlich beim Finanzminister lag.

Der Verbesserung der Einnahmen diente die schon von Hilferding in die Kabinettsdiskussion eingebrachte, von Luther durchgeführte Umstellung der Steuern auf Goldbasis336. Die Verbrauchssteuern wurden erhöht337, aber andererseits die ergiebige, erst am 26. März 1923 eingeführte Kohlensteuer entgegen allen fiskalischen Bedenken, die sowohl von Hilferding wie später von Luther vorgebracht wurden, aus wirtschaftlichen und ruhrpolitischen Erwägungen wieder abgeschafft338.

Die Senkung der Ausgaben hing, nachdem das Reich die eigentlichen Reparationszahlungen bereits nach der Ruhrbesetzung eingestellt hatte, zu einem wesentlichen Teil davon ab, daß es gelang, die Leistungen für das besetzte Gebiet abzuschütteln oder wenigstens drastisch zu reduzieren. Es wurde oben gezeigt, in welchem Maße nach dem Zeugnis der Reichskanzleiakten der fiskalische Gesichtspunkt die Rhein- und Ruhrpolitik der Regierung Stresemann beeinflußt hat. Eine totale Insolvenzerklärung des Reiches gegenüber seinen Verpflichtungen im besetzten Gebiet hat Luther gegen den Widerspruch in und außerhalb des Kabinetts nicht durchsetzen können. Auf einem anderen, weniger mit politischem Sprengstoff durchsetzten Gebiet finanzieller Reichsverpflichtungen kam es aber zu dem, was Luther rückschauend selber einen „Teilkonkurs des Reiches“ genannt hat339: Durch eine im Kabinett nicht weiter[LXXXV] diskutierte „Abgeltungsverordnung“ vom 24. Oktober340 sollten unter Ausschluß des Reichtsweges Gläubigeransprüche gegenüber dem Reich, die in der Kriegszeit entstanden waren, durch Schiedsverfahren geregelt werden. Mit großer Härte unternahm es die Regierung ferner, die Kosten für ihren Apparat an Beamten, Angestellten und Arbeitern zu reduzieren. Wenn schon die Aufhebung der bisher üblichen vierteljährlichen Vorauszahlung der Gehälter für Beamte von diesen als ein Eingriff in ihre Rechte betrachtet wurde341, so galt dies in erhöhtem Maße von der Personalabbauverordnung vom 27. Oktober342. Das schon bei der ersten Kabinettserörterung des von Luther vorgelegten Entwurfs genannte Ziel einer Verminderung der Zahl der Staatsbediensteten um 25%343 wurde bis zum 31. März 1924 tatsächlich erreicht. Außerdem wurden Gehälter und Löhne der Staatsbediensteten bei ihrer Umrechnung auf Gold auf durchschnittlich etwa 60% der Vorkriegssätze gesenkt344. Bemerkenswert ist für den Stil der Regierung, daß sie sich bei diesem einschneidenden Vorhaben zwar darauf einließ, die Vertreter der Beamteninteressen zu hören, nicht aber, mit ihnen zu verhandeln345. Man hat den Mut zu dieser Maßnahme und die Konsequenz, mit der sie durchgeführt wurde, mit Recht als einen der „erstaunlichsten Vorgänge der modernen Verwaltungsgeschichte“ bezeichnet346. Eine weitere beträchtliche Bürde zu mindern, die auf dem Reichshaushalt lastete, war Zweck und Anlaß einer „Verordnung über die Aufbringung der Mittel für die Erwerbslosenfürsorge“ vom 13. Oktober347. Vier Fünftel der Mittel sollten zukünftig je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern und der Rest von der öffentlichen Hand getragen werden. Dieser Schritt war im Augenblick fiskalisch motiviert, wies aber in Richtung eines Weges, der von der Fürsorge zur Versicherung führte. Dies entsprach prinzipiellen Überlegungen, wie sie im Arbeitsministerium angestellt wurden348.

Die genannten Maßnahmen zur Erhöhung der Einnahmen und zur Verminderung der Ausgaben waren Schritte auf dem Wege zu einem ausgeglichenen Haushalt. Sie konnten sich aber erst im Laufe der Zeit auswirken. Entscheidend aber war der Erfolg davon abhängig, ob es gelang, Ruhr und Rhein wieder voll in das deutsche Wirtschaftsleben einzubeziehen, so daß sie durch ihre Steuerleistung wieder zu Mitträgern des Reichshaushaltes würden, und ob sich für die Reparationsfrage eine Regelung finden ließ, die den Reichshaushalt nicht von vornherein über seine Tragfähigkeit hinaus belastete. Beide Fragen waren noch offen, als die Regierung Stresemann gestürzt wurde. Es war daher auch keineswegs ausgemacht, ob die mit solcher Energie angegangene[LXXXVI] Stabilisierung der Währung und der Ausgleich des Haushaltes gelingen würden. Auf alle Fälle war es nötig, für eine Übergangszeit bis zur erstrebten Stabilisierung dem Reich durch Kreditgewährung seitens der Rentenbank beizustehen. Aufgrund der Rentenbankverordnung erhielt das Reich einen unverzinslichen 300-Millionen-Kredit, der zur Einlösung der Reichsschatzanweisungen bestimmt war. In dem Augenblick, in dem mit der Ausgabe der Rentenmark am 15. November die Diskontierung von Reichsschatzwechseln eingestellt wurde, betrug die schwebende Schuld des Reiches 191,6 Trillionen Papiermark. Nach dem Dollarstand vom gleichen Tage – Berliner Kurs 1 Dollar = 2,52 Billionen Papiermark – hätte der Kredit von 300 Millionen Rentenmark nicht ausgereicht, um diese Papiermarkschuld abzutragen. Der Dollarkurs, der sich vom 15. bis 19. November auf der genannten Höhe von 2,52 Billionen gehalten hatte, wurde am 20. November in Berlin auf 4,2 Billionen festgesetzt und auf dieser Höhe fixiert. Dies hatte zur Folge, daß das Reich nach dem am 14. Dezember endgültig festgesetzten Austauschverhältnis 1 Billmark = 1 Rentenmark zur Abtragung seiner Papiermarkschulden nicht ganz 200 Millionen Rentenmarkkredit in Anspruch nehmen mußte. Kurz vor Ende der Regierung Stresemann hat das Reich auf diese Weise seine Papiermarkschulden, mit denen es den Ruhrkampf finanziert hatte, auf noch billigere Weise abschütteln können, als im Augenblick der Einführung der Rentenmark gedacht. Ein auf Gold kalkulierter Übergangshaushalt für die Zeit vom 15. November bis 31. März schuf unter Verwendung von Rentenmarkkrediten in dem von der Rentenbankverordnung vorgesehenen engen Rahmen – höchstens 1,2 Milliarden Mark innerhalb von zwei Jahren einschließlich der für die Einlösung der Reichsschatzwechsel vorgesehenen 300 Millionen Mark – die Brücke zum stabilen Haushalt des Jahres 1924. Ursprünglich hatte Luther die Absicht gehabt, einen solchen auf Gold basierenden, mit Hilfe der Rentenmark ausgeglichenen Übergangshaushalt nur für „Rumpfdeutschland“ aufzustellen349. Aber da er sich mit seinen rigorosen Restriktionsvorhaben gegenüber dem besetzten Gebiet nicht hatte durchsetzen können, unterblieb diese Beschränkung. Im Endergebnis wurde der Kurs der Finanzpolitik in der Zeit der Regierung Stresemann durch die innen- und außenpolitischen Grundentscheidungen bestimmt und nicht diese durch fiskalische Zwänge in ihrer Richtung festgelegt. Dabei ist allerdings festzuhalten, daß es Luther verstanden hat, nach vergeblichen ähnlichen Versuchen seines Vorgängers Hilferding die übrigen Reichsressorts hinsichtlich ihrer Haushaltsgestaltung einer gewissen Kontrolle durch das Reichsfinanzministerium zu unterwerfen350.

Der historische Ertrag der rd. 100 Tage, in denen die Regierung Stresemann amtierte, lag in der Bewältigung der inneren und äußeren Staatskrise des Reiches. Von nicht geringer Bedeutung für die Gestaltung der sozialökonomischen Verhältnisse in der späteren Weimarer Republik sind zwei aufgrund des Ermächtigungsgesetzes erlassene Verordnungen geworden, auf die[LXXXVII] zum Schluß hingewiesen sei. Beide wurden in der Kabinettssitzung vom 30. Oktober vom Reichswirtschafts- bzw. Reichsarbeitsminister vorgelegt und erläutert und danach ohne Diskussion angenommen. Durch die „Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen“ vom 2. November351 wurden Kartelle der Aufsicht des Reichswirtschaftsministers bzw. einer von ihm zu bestimmenden Stelle und eines Kartellgerichts unterstellt. Der Zweck war ein doppelter: einmal einer unbilligen Einschränkung der „wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit“ der Kartellpartner vorzubeugen, und zum anderen die Interessen der „Gesamtwirtschaft“ und das „Gemeinwohl“ gegen mißbräuchliche Verwendung wirtschaftlicher Machtkonzentration zur Geltung zu bringen. In unbestrittener Weise galt im Kabinett Stresemann der Staat als Sachwalter des Gemeinwohls und der gesamtwirtschaftlichen Interessen gegenüber privater Wirtschaftsmacht. Die gleiche Auffassung einer subsidiären Wirtschaftsfunktion des Staates lag auch der „Verordnung über das Schlichtungswesen“ vom 30. Oktober zugrunde352. Paritätisch zusammengesetzte Schlichtungsausschüsse bzw. Schlichtungskammern unter unparteiischem Vorsitz und in besonderen Fällen vom Reichsarbeitsminister bestellte Schlichter erhielten weitreichende Vollmachten, beim Abschluß von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen „Hilfe zu leisten“ in den Fällen, in denen eine freiwillige Vereinbarung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht zustande kam. Die Verfahrensweise sah Schlichtung, Schiedsspruch und notfalls staatliche Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen vor. Durch diese beiden Verordnungen wurde dem Staat die Möglichkeit eingeräumt, auf die Entwicklung von Löhnen und Preisen bestimmend einzuwirken. Beide Verordnungen passierten das Kabinett kurz vor dem Auseinanderbrechen der Großen Koalition. Sie waren seit langem im Wirtschafts- bzw. im Arbeitsministerium vorbereitet worden und wurden unter Zustimmung sowohl der bürgerlichen wie der sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts erlassen. Die der Regierung der Großen Koalition gegebene Vollmacht des Ermächtigungsgesetzes schuf die Möglichkeit, diese für die Wirtschafts- und Sozialordnung der Weimarer Republik charakteristischen Regelungen in unkomplizierter Weise in Kraft zu setzen. Dies geschah im letzten Augenblick des noch gültigen Ermächtigungsgesetzes, das mit dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Regierung hinfällig wurde. Als drei Wochen später das Rumpfkabinett Stresemann die politische Konsequenz aus der Ablehnung des Vertrauensvotums zog, zeigte sich, daß keine parlamentarische Konsequenz, kein praktikables politisches Gegenkonzept hinter den unterschiedlich motivierten Mißtrauensanträgen der Deutschnationalen wie der Sozialdemokraten gestanden hatte. Es gab damals keine Alternative zur politischen Struktur des Stresemannschen Rumpfkabinetts. Dieses wurde unter einem anderen Kanzler mit der gleichen Besetzung der wichtigsten Reichsämter fortgeführt, mit Luther und Jarres, mit Brauns und Geßler und besonders mit Stresemann. Dessen Außenpolitik wurde von den Sozialdemokraten[LXXXVIII] mitgetragen, auch nachdem sie aus dem Kabinett ausgeschieden waren, und auch nachdem sie dem Regierungschef Stresemann keinen Vertrauenskredit mehr geben wollten. Die Außenpolitik blieb in der Richtung einer situationsgebundenen nationalen Realpolitik, auf die sie durch das Kabinett Stresemann eingestellt worden war, auch in den folgenden Jahren bei wechselnden Koalitionen ein Integrationsfaktor der Reichspolitik, solange Stresemann lebte.

Karl Dietrich Erdmann

Martin Vogt

Fußnoten

297

P. Beusch, Währungszerfall und Währungsstabilisierung, hg. von G. Briefs u. C. A. Fischer, 1928.

298

Zur Selbstdarstellung der Reichsbankpolitik und ihrer Stellungnahmen zu verschiedenen Plänen der Währungsstabilisierung Dok. Nr. 12; 16; 24; Beusch, Nr. 9, 16, 18.

299

Dok. Nr. 13; 19; 33; 223; 269.

300

Dok. Nr. 9.

301

Dok. Nr. 82; v. Raumer erklärt in einem Brief vom 16. Okt. 1933 an J. W. Reichert, Berliner Börsenzeitung Nr. 489, 19. Okt. 1933, daß er vor jener Besprechung vom 18. August 1923 „in Verhandlungen mit Stresemann und Hilferding“ die von Helfferich verlangten beiden Garantien erhalten und dies Helfferich am 16. August brieflich mitgeteilt habe.

302

Beusch, Nr. 7.

303

Dok. Nr. 9, Anm. 13.

304

Dok. Nr. 33.

305

VO 7.9.1923, RGBl. 895; Überblick über die gesamte Devisengesetzgebung in der Zeit von Ruhrkampf und Inflation bei Beusch, Nr. 1; Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung über das Problem der Devisenerfassung Dok. Nr. 14; 33; 38; 40; 44; 45.

306

Dok. Nr. 38; 51; Beusch, Nr. 15.

307

Dok. Nr. 55; Beusch, Nr. 16.

308

Beusch, Nr. 14.

309

Dok. Nr. 55.

310

Dok. Nr. 66; 67.

311

Dok. Nr. 81; 82; bei Beusch Lutherplan Nr. 17, endgültiger Gesetzentwurf Nr. 19.

312

Dok. Nr. 67; Hilferding hatte die Ausgabe von „Bodenmark“, wie er das neue Zahlungsmittel jetzt nennen wollte, auf insgesamt 2 Mrd. beschränken wollen.

313

Dok. Nr. 55.

314

Für v. Raumer scheint dies der Anlaß für sein Rücktrittsgesuch vom 2. Oktober gewesen zu sein. So jedenfalls könnte seine Warnung vor möglichen „Erschütterungen innerhalb des Kabinetts“ während der Erörterung der Währungsfrage in der Sitzung vom 26. September, Dok. Nr. 82, verstanden werden, und so erklärt er es selber ausdrücklich in jenem Brief an J. W. Reichert vom 16. Oktober 1933, s. o. Anm. 301.

315

Dok. Nr. 136.

316

Dok. Nr. 136 u. Anm. 18.

317

Diese Feststellung trifft auch O. v. Glasenapp, der als Vizepräsident der Reichsbank an den Schlußbesprechungen zwischen Regierung und Wirtschaft teilnahm; so O. v. Glasenapp in einer unveröffentlichten Sammelschrift „Karl Helfferich zum Gedächtnis“.

318

Stresemann in „Deutsche Stimmen“, 35. Jg., 1923; vgl. aber auch Stresemanns Bemerkung zu H. Müller, in: Vermächtnis I, S. 141; außerdem S. 272.

319

S. o. S. XXXV.

320

Dok. Nr. 118.

321

Beusch, Nr. 22.

322

Dok. Nr. 242 u. Anm. 20.

323

Dok. Nr. 212; 217; 222; 223.

324

Dok. Nr. 220.

325

Dok. Nr. 136; 219 u. Anm. 3; 237.

326

S. o. S. LXVIII.

327

Zum Fortgang des Stabilisierungsprozesses vgl. G. Abramowski, Einleitung zu Die Kabinette Marx I u. II, S. XIX ff.

328

Dok. Nr. 45 u. Anm. 10; 51 u. Anm. 4; 71 u. Anm. 22.

329

Dok. Nr. 217 u. Anm. 7; 252.

330

RGBl. II, S. 231.

331

RGBl. II, S. 303.

332

RGBl. II, S. 329.

333

RGBl. II, S. 393.

334

Die letzten Zahlen nach Beusch, S. 74.

335

Dok. Nr. 14, Anm. 17; Dok. Nr. 97.

336

Dok. Nr. 71; 128; RGBl. S. 939, VO vom 11.10.1923.

337

Dok. Nr. 186; VO vom 27.10.1923, RGBl. S. 1085 .

338

VO 13.10.1923, RGBl. 945; Dok. Nr. 25; 128; 136.

339

H. Luther, Politiker ohne Partei, S. 129.

340

Dok. Nr. 172; RGBl. S. 1010.

341

Dok. Nr. 25, 40.

342

RGBl. 999; Dok. Nr. 97; 126; 144; 172; 183; 253.

343

Dok. Nr. 144.

344

Beusch, S. 77.

345

Dok. Nr. 144; 253.

346

G. Abramowski, Einleitung zu Die Kabinette Marx I u. II, S. XXVI.

347

RGBl. 946; Dok. Nr. 130.

348

Hierzu die unter Verwendung der Akten des Reichsarbeitsministeriums wie der Reichskanzlei erstellte Dissertation von U. Oltmann, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staats- und Währungskrise 1923/24 (Kiel 1968).

349

Dok. Nr. 156.

350

Dok. Nr. 55; 71; 128.

351

RGBl. S. 1067.

352

RGBl. S. 1042.

Die Bearbeiter danken Karin Vogt-Breitlauch für ihre Hilfe bei den Korrekturarbeiten, der Erstellung des Registers und der Anlage 7.

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