1.49.1 (str2p): Bayern.

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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Bayern.

Der Herr Reichskanzler berichtet über die Entwicklung der Angelegenheit. Herr von Preger habe sich mit dem gestern veröffentlichen Kommunique in der Presse einverstanden erklärt1. München habe ein Gegenkommunique gebracht2, das gegen den Willen der Bayerischen Regierung durch Kahr veranlaßt sei. Kahr suche, mit den rechtsstehenden Verbänden in deren Ländern Fühlung zu nehmen, und ziele auf den Sturz Knillings ab.

Heute um 11 Uhr seien die Staatspräsidenten von Württemberg, Baden und Hessen zusammengetreten, um über die Lage zu beraten. Nach seiner Auffassung müsse die Reichsratssitzung mit größter Beschleunigung stattfinden3.

Zu klären sei, was die „Inpflichtnahme“ der Truppen bedeute. Von Zwangsmaßnahmen käme unter anderem die Sperrung der Gehaltszahlungen in Betracht. Er halte es aber für richtig, bis zum Zusammentritt des Reichsrats alle Maßnahmen zu unterlassen.

Der Reichspräsident denke daran, die Aufhebung des bayerischen Ausnahmezustandes jetzt zu verlangen.

Das Kabinett müsse sich jetzt klar werden, wie es am Mittwoch [24. 10.] im Reichsrat seine Ansicht vertreten wolle.

Staatssekretär Joël berichtet über die Rechtslage. Rechtlich sei das Reich[691] sicher im Recht. Wenn man nach Artikel 19 der Verfassung den Staatsgerichtshof anrufe, so würde der zu der gleichen Auffasung gelangen. Er müsse darauf hinweisen, daß das Reich sehr viel aufgebe, wenn es auf den Spruch des Staatsgerichtshofs verzichte. Im Gegensatz zum Staatsgerichtshof würde der Reichsrat die Interessen der Länder in den Vordergrund stellen. Es empfehle sich, daß das Reich im Reichsrat erkläre, es halte den Rechtsstandpunkt Bayerns für irrig. Wolle man der Angelegenheit die Schärfe nehmen, dann müsse man die Frage der Verfassungsmäßigkeit im Reichsrat stark betonen. Über den Zustand de lege lata müsse der Staatsgerichtshof sprechen; de lege ferenda müsse der Reichsrat urteilen4.

Die „Inpflichtnahme“ habe rechtlich keine Bedeutung. Rechtlich gebe es nur die Vereidigung. Wohl aber sei die Inpflichtnahme vom Standpunkt der Disziplin gefährlich.

Reichswehrminister Geßler: Kahr sehe die Frage nicht juristisch an, sondern politisch. Er wolle einfach die revolutionäre Weimarer Verfassung beseitigen5. Zum Reichsrat würde er nicht kommen6.

Für gefährlich halte er, den ganzen Fragenkomplex im Reichsrat zu erörtern. Bayern würde dann auf grundsätzliche Verfassungsänderungen herauskommen. Für gut halte er es, die Rechtsfrage vor den Staatsgerichtshof zu bringen. Man müsse Bayern im Reichsrat vor die Frage stellen, ob es im Reich bleiben wolle. Antworte es mit „Ja“, so müsse es eben die Verfassung anerkennen.

Die Frage Lossow könne nicht lange hingezogen werden. Lossow sei einfach ein meuternder Soldat. Dieser Zustand könne nicht andauern. Das sei für die Reichswehr unerträglich.

[692] Der Reichskanzler Die Sitzung des Reichsrats müsse stattfinden, die Länder als solche müßten in der Frage sprechen. Über die Verhandlungen des Reichsrats müßte dann auch eine ausführliche Mitteilung an die Presse ergehen. Die Länder würden für die Reichseinheit eintreten. Es müsse eine große Kundgebung für die Reichseinheit werden. Bayern gegenüber müsse die klare Frage gestellt werden: was will Bayern?

Der Reichsminister des Innern nimmt scharf gegen die bayerische Regierung Stellung. Die Reichsregierung sollte sofort die Aufhebung des bayerischen Ausnahmezustandes verlangen. Bayern würde ablehnen; dann müßte auch diese Frage vor den Staatsgerichtshof gebracht werden. Was vor sich gehe, sei der Kampf um die Reichsverfassung nicht nur um den föderalistischen Gedanken.

In der Frage Lossow stimme er Minister Geßler zu. Lossow müsse seine Amtsgeschäfte niederlegen.

Der Reichsarbeitsminister Um eine Besprechung des Verhältnisses des Reichs zu Bayern kämen wir nicht herum. Von Zwangsmaßnahmen gegenüber Bayern rate er zur Zeit dringend ab. Er sei der Auffassung, daß das Reich an einigen Reservatsrechten Bayerns nicht zugrunde gehen würde. Er empfehle den Weg des Reichsrats. Vor der Reichsratsverhandlung könne man aber keine scharfen Maßnahmen treffen.

Der Reichsverkehrsminister spricht sich für alsbaldige Verhandlung im Reichsrat aus.

Staatssekretär Weismann: Wenn die Reichsregierung beschließe, daß der Reichsrat sprechen solle, so würde Preußen sich unbedingt hinter die Reichsregierung stellen. Doch könne vor dem Reichsrat jetzt nur der jetzige Konflikt, nicht die grundsätzliche Kompetenzfrage erörtert werden. Auch mit dem Gedanken des Staatsgerichtshofes würde Preußen einverstanden sein.

Der Reichskanzler stellt fest, daß das Kabinett einer Verwahrung des Reichs gegenüber der letzten Erklärung Kahrs zustimme7.

Der Reichsminister für Wiederaufbau hält den Weg des Reichsrats und Staatsgerichtshofs für empfehlenswert. Er würde aber auch die Zahlungen an das bayerische Militär8 sofort sperren.

Der Reichspostminister fürchtet, daß Kahr auch die in Bayern befindlichen Verkehrsbeamten in Pflicht nehmen würde9.

[693] Staatssekretär Joël: Als er seine Rechtsausführungen vorhin machte, sei ihm nicht bekannt gewesen, daß der Kanzler und Minister Geßler dem bayerischen Vertreter gegenüber die Möglichkeit zugegeben hätte, daß die beiden Ausnahmezustände nebeneinander bestehen könnten. Hierdurch könne die Lage des Reichs vor den Staatsgerichtshof etwas geschwächt sein. Zur Stärkung des Rechtsstandpunktes scheine es ihm nötig, daß die Aufhebung des bayerischen Ausnahmezustandes verlangt werde. Politisch aber sei es vielleicht irrig, das Verlangen erst nach der Reichsratssitzung zu stellen.

Der Reichsarbeitsminister Man müsse bei dem gestrigen Wege bleiben, also nicht jetzt die Aufhebung des bayerischen Zustandes verlangen und auch keine Gelder sperren.

Der Reichswehrminister Weder Reichsrat noch Staatsgerichtshof würden eine wirkliche Lösung der Frage bringen. Man müsse seines Erachtens Kompromisse persönlicher und sachlicher Art vorbereiten.

Der Reichsarbeitsminister Der Reichswehrminister sehe richtig; man müsse aber manchmal langsam treten.

Der Reichskanzler macht Mitteilung, daß der Staatspräsident von Hieber die sofortige Einberufung des Reichsrat soeben verlangt habe.

Das Kabinett stimmt zu, daß der Reichsrat auf Mittwoch, den 24. Oktober nachmittags 5 Uhr einberufen werde10.

Der Reichskanzler soll vorher die Länder über ihre Haltung sondieren.

Das Kabinett beschließt ferner, dem Herrn Reichspräsidenten das Verlangen auf Aufhebung des Bayerischen Ausnahmezustandes zu stellen, jedoch erst nach den Reichsratsverhandlungen.

Fußnoten

1

S. Anm. 14 zu Dok. Nr. 159.

2

S. Schultheß 1923, S. 200.

3

S. dazu Anm. 14 zu Dok. Nr. 159.

4

Der ehem. StSRkei Hamm hatte hierüber in einer Aufzeichnung über das Verhältnis des Reichs zu Bayern geschrieben: „Die Bayerische Regierung hätte die Möglichkeit gehabt, die Auffassung, daß General v. Lossow nicht ohne Zustimmung der bayerischen Regierung entfernt werden konnte, vor den Staatsgerichtshof nach Art. 19 der Reichsverfassung zu bringen. Sie hat dies nicht getan. Die Reichsregierung hat noch sehr wohl die Möglichkeit, diese Frage wie die Unvereinbarkeit des bayerischen mit dem Reichsausnahmezustand wie die Rechtswidrigkeit der bayerischen Anordnung auf Loslösung des bayerischen Teils der Reichswehr, vor den Staatsgerichtshof zu bringen. Unbeschadet vorläufiger und endgültiger Verwaltungsvorschriften kann daher die Reichsregierung die Rechtswidrigkeit und Ungültigkeit der bayerischen Anordnungen zur Feststellung des Staatsgerichtshofes bringen, um damit die moralische Stellung der Reichsregierung klarzustellen und zu stärken. – Ich persönlich hielte einen solchen Zug für sachgemäß und vorteilhaft. Er müßte geschehen nicht im Sinne der Entscheidung einer Zweifelsfrage, sondern der Bestätigung und Verstärkung der getroffenen Entscheidung“ (R 43 I /2264 , Bl. 115/116).

5

Vor Vertretern des bayer. Beamtenbundes meinte MinPräs. von Knilling am 22.10.23 zu einem Konflikt zwischen Reich und Bayern wäre es auch ohne den Fall von Lossow gekommen: „‚Denn die Weimarer Verfassung‘, so sagte er wörtlich, ‚ist für uns auf die Dauer unerträglich‘. Er hoffe zwar immer noch, daß eine gütliche Beilegung des Konflikts erfolgen könne. Doch liege es am Reich, das im Falle Lossow die bayerischen Verhältnisse verkannt habe, seinerseits einzulenken. Dabei werde jedenfalls eine Abänderung der Weimarer Verfassung in Frage kommen müssen. Verharre das Reich schroff auf seinem Standpunkte oder provoziere es durch Gegenmaßnahmen, so werde sich das Weitere zwangsläufig ergeben“ (Vertreter der RReg. München an Rkei, 22.10.23; R 43 I /2246 , Bl. 136).

6

Minister Schweyer erklärte im Gespräch mit Victor Naumann (s. Anm. 7 zu Dok. Nr. 159), die württembergische Aktion werde in Bayern gering geschätzt und es werde kein Minister nach Berlin fahren. „Er wisse auch nicht, was bei ihr herauskommen solle, da das Gremium des Reichsrats so zusammengesetzt sei, daß bei bestem Wollen niemals eine günstige Stimmung für Bayern zu erzielen sei“ (R 43 I /2264 , Bl. 85).

7

S. Schultheß 1923, S. 200.

8

In der Abschrift in R 43 I /2264 , Bl. 134 stattdessen: „Ministerium“.

9

Haniel meldete am 22.10.23 um 15.30 Uhr telefonisch als Äußerung Hamms: „Unter den Reichsbeamten in Bayern herrsche eine gewisse Ratlosigkeit. Heute abend fände eine Versammlung von Reichsbeamten statt, in der voraussichtlich beschlossen werden würde, dem Reich und der Verfassung die Treue zu halten. – Zu befürchten sei aber, daß, wenn die Reichsregierung starke Maßnahmen diktiere, wie beispielsweise Geldsperren, daß dann die Stimmung unter einem Teil der Reichsbeamten umschlage und sie in das blau-weiße Lager getrieben würden“ (R 43 I /2264 , Bl. 131). Am 21.10.23 hatte Hamm geschrieben, entscheidend sei, was RFM, RPM und RVM ihren Beamten befehlen würden. Einer Verkehrseinstellung werde v. Kahr mit den schärfsten Mitteln, wie Streikverbot und Standgericht entgegentreten. „Es wird erklärt werden, daß der Verfassungsstreit nicht auf dem Rücken der Bevölkerung und nicht mit den Mitteln des Hungers ausgefochten werden darf, und das wird auf die bayerische Bevölkerung wie auf die bayerischen Beamten der Reichsverkehrsbetriebe starken Eindruck machen. Daher wäre ein solches Verbot wohl ein zweischneidiges Schwert und wäre besser zu unterlassen“ (R 43 I /2264 , Bl. 116).

10

S. dazu Dok. Nr. 174.

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