1.13 (lut2p): Nr. 183 Ministerialdirektor Pünder an Staatssekretär Kempner, z. Z. in Locarno. 12. Oktober 1925

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Nr. 183
Ministerialdirektor Pünder an Staatssekretär Kempner, z. Z. in Locarno. 12. Oktober 19251

R 43 I /426 , Bl. 164-167

[Stellungnahme der DNVP zur Kriegsschuldfrage; Art. 16 der Völkerbundssatzung; Affäre Sixt v. Armin]

Lieber Herr Staatssekretär!

Ich bin mir meiner Verantwortung durchaus bewußt gewesen, als ich am gestrigen Sonntag Ihnen über die gegenwärtige Haltung der Deutschnationalen zur Kriegsschuldfrage berichtete2. Da dieser Brief nur meine eigene Auffassung wiedergab, habe ich mich heute via Keudell (ohne den Ausgangspunkt dieser neuen Erörterung mitzuteilen) bei dem soeben zurückgekehrten Minister Schiele erkundigt. Ich habe von dieser Seite eben die ausdrückliche Bestätigung erhalten, daß meine Ihnen gestern mitgeteilte Auffassung die allein richtige ist. Derselben Auffassung ist auch Herr Planck, der sich auf meine Bitte heute bei ihm nahestehenden Herren über die Haltung der Deutschnationalen erkundigt hat. Demnach: keine Sorge hinsichtlich der Kriegsschuldfrage. In diesem Zusammenhang darf ich übrigens erwähnen, daß auch der Sonnabendartikel des Grafen Westarp in der Kreuzzeitung auf einen sehr milden Ton gestimmt war und keinerlei Andeutungen in Richtung eines erneuten Umfalls der Deutschnationalen enthielt.

[721] Meine heutigen Sorgen gehen nach einer anderen Richtung. Ihre letzten liebenswürdigen Mitteilungen vom 10. d. Mts., die heute früh eingelaufen sind3, und für die ich Ihnen herzlichst danke, bestätigen also in gewisser Weise die Mitteilungen der ausländischen Presse in den letzten Tagen, daß die losen Vermittlungsversuche hinsichtlich des Art. 16 dahin gehen, daß vorerst Deutschland eintritt, aber vorher sozusagen in obligatorischer, dagegen nicht dringlicher Form die Versicherung der vier anderen Vertragsmächte erhält, auf eine Deutschland günstige Interpretierung oder Abänderung des Art. 16 hinzuwirken. Sie fügen hinzu, es sei noch völlig ungewiß, ob die Delegationen der Gegner hierauf eingehen. Völlig ungewiß ist aber auch, ob eine solche Lösung in Deutschland durchzusetzen sein wird. Wenn die Lösung tatsächlich nach dieser Richtung hin sich abheben sollte, so wird es zum mindesten allerfeinster Regie bedürfen, um in Deutschland damit durchzudringen. Der rechte Flügel der deutschen Regierungsparteien hat vor nichts mehr Angst, als durch mehr oder weniger moralische Bindungen der Deutschen Delegation vor ein Fait accompli gestellt zu werden. Gerade weil sie den dringenden Wunsch haben, den Herrn Reichskanzler Luther noch lange an der Spitze der Regierungsgeschäfte zu sehen, wird einem diese Besorgnis bei jeder nur passenden Gelegenheit entgegengebracht. Diese Besorgnis bezieht sich nun gerade auf den Art. 16 und die Möglichkeiten eines irgendwie gearteten Kompromisses auf diesem Gebiet. Ich halte es daher für dringend erforderlich, daß, wenn sich eine Lösung im Punkte 16 am Horizont abheben sollte, sofort ein maßgebliches Mitglied der Deutschen Delegation – und zwar wieder am besten der Herr Reichskanzler persönlich – nach Berlin käme, um über diese Lösungsmöglichkeiten zu sondieren. Ohne eine solche peinliche Beachtung der Form würde hier nach meiner festen Überzeugung ein Unglück geschehen. So würde z. B. eine telegraphische Rückfrage der Deutschen Delegation in Berlin zwecks Herbeiführung einer Entscheidung des Kabinetts unter gar keinen Umständen genügen.

In diesem Zusammenhang muß ich mich noch folgenden Auftrags entledigen: Zunächst bitte ich, die beiden nachstehenden, durch W.T.B. mitgeteilten Nachrichten von Reuter und vom Temps lesen zu wollen4.

„London, 11. 10. Der Sonderbericht Reuters aus Locarno betont, daß die Alliierten Deutschlands Schwierigkeiten wegen Artikel 16 durchaus würdigten und mehr als bereit seien, ihm auf halbem Wege entgegenzukommen. Gegenwärtig werde zweifellos mit äußerster Anspannung der Versuch gemacht, die Standpunkte der Deutschen und der Alliierten zu versöhnen. Die Lage sei zwar delikat, aber im Ganzen aussichtsreich.“

„Paris, 11. 10. Der Sonderberichterstatter des Temps in Locarno ist der Ansicht, daß es sich bei den gegenwärtigen Verhandlungen über den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund darum handele, Deutschland eine[722] gewisse Ausnahmestellung zu sichern. Dies lasse sich auf zweierlei Art erreichen. Zunächst wäre es möglich, Deutschland von gewissen Verpflichtungen des Artikels 105 und auch des Artikels 16 des Völkerbundsstatuts teilweise und provisorisch zu entbinden. Die Völkerbundsspezialisten versicherten, daß man in Entscheidungen, die der Völkerbund auf vorgetragene Wünsche bereits in einigen Fällen getroffen habe, Material genug finden würde, um auch Deutschland in dieser Weise entgegenzukommen. Es gäbe aber noch ein anderes Verfahren, das viel einfacher sei. Artikel 16 behalte dem Völkerbundsrate das Recht vor, Maßnahmen zu empfehlen, an denen teilzunehmen Deutschland mehr oder weniger starke Befürchtungen hege. Die Parteien des Sicherheitspaktes könnten Deutschland versprechen, daß ihre Vertreter im Völkerbundsrate die Teilnahme Deutschlands an gewissen Sanktionen in ein Verhältnis zu der militärischen Schwäche Deutschlands setzen würden. Im übrigen könnten die Entscheidungen des Völkerbundsrates in dieser Hinsicht nur einstimmig getroffen werden. Die Formel für dieses Deutschland zu gebende Versprechen würde noch zu finden sein. Anscheinend suche man auf diesem Wege die Beunruhigung Deutschlands über den Artikel 16 zu beheben.“

Diese beiden Ausschnitte stammen vom Herrn Reichspräsidenten persönlich. Auch die Bleistiftstriche stammen von seiner Hand6. Durch Staatssekretär Meissner hat er mir zur Weitergabe an die Deutsche Delegation mitteilen lassen, daß er über diese beiden Nachrichten sich stark beunruhigt fühle. Herr Meissner fügte hinzu, der Herr Reichspräsident habe überhaupt ständige Sorge wegen des Art. 16 und habe die Befürchtung, es könnte uns bei diesem Punkt doch „noch irgendwie eine Schlinge um den Hals gelegt werden.“ Zur Beruhigung des Herrn Reichspräsidenten wäre es dringend geboten, wenn in dem nächsten an mich gerichteten Telegramm von Ihnen in einer zur Weitergabe an den Herrn Reichspräsidenten bestimmten Form zu obigen beiden Notizen Stellung genommen würde. Herr Oberstleutnant von Schleicher, der bekanntlich häufig dem Herrn Reichspräsidenten Vortrag hält, hat noch heute früh Herrn Planck gegenüber erklärt, der Herr Reichspräsident scheine auch ihm hinsichtlich des Art. 16 völlig unnachgiebig zu sein. Er werde deshalb auch bei einem etwaigen Streit der Reichsregierung mit den Deutschnationalen über Kompromisse auf diesem Gebiet zweifellos auf seiten der Deutschnationalen stehen.

Da Sie, sehr verehrter Herr Staatssekretär, genau wissen, wie wenig ich die Neigung verspüre, der Deutschen Delegation überflüssige Sorgen zu machen oder Alarmnachrichten zu verbreiten, darf ich umso mehr bitten, die Aufmerksamkeit der Deutschen Delegation mit allem Ernst auf vorstehende Mitteilung lenken zu wollen.

Aus obigen Gründen habe ich Herrn Meissner auch nur in der allervorsichtigsten Form Mitteilungen von den Kompromißmöglichkeiten auf dem Gebiet des Art. 16 gemacht, und zwar auch nur gegen seine ausdrückliche Versicherung,[723] vorläufig hierüber dem Herrn Reichspräsidenten keinerlei Mitteilung zu machen.

[…]

Heute mittag wurde ich zu einer Stunde, wo gewöhnliche Sterbliche etwas Futter zu schütten pflegen, eiligst zu Herrn Minister Brauns beordert. Bei ihm war eben ein Telegramm eines Zentrums-Chefredakteurs Krauss aus Locarno folgenden Inhalts eingetroffen:

„Heute bei französischer Delegation beunruhigende Gerüchte über Schwierigkeiten im Reichskabinett. Angeblich neue dortige Information an hiesige Delegation unterwegs. Franzosen erklären Stimmungsumschlag unvermeidlich, wenn Mitteilungen richtig und bis heute abend nicht positives Ergebnis erreicht. Erbitte Mitteilung, um Stimmungsmache entgegenzutreten.“

Der Herr „stellvertretende Kanzler“ witterte sofort so etwas wie Nebenregierung, sei es des Auswärtigen Amts, der Reichskanzlei oder irgendeiner Partei. Es ist mir natürlich gelungen, ihm jeden dahingehenden Verdacht zu nehmen, wobei ich mich darauf berufen konnte – und was er mir auch gern bestätigte –, daß ich ihm als dem gegenwärtigen Chef der Reichsregierung in aller Form fortlaufend Vortrag halte und „Weisungen einhole“. Immerhin war das ganze Gespräch in Anbetracht der vielen sonstigen Belastungen reichlich überflüssig und ist m. E. wohl nur auf die Sensationslust des genannten tüchtigen Redakteurs zurückzuführen. Von der großen Aktion, die Herr Minister Brauns zunächst vorhatte (sofortige Rückfrage in Locarno mittels Telephon und Fernschreiber und anderer wichtiger Staatsaktionen), ist auf mein Betreiben schließlich nur ein Privattelegramm mit der Unterschrift Brauns (nicht Reichsarbeitsminister Brauns) an den Herrn Krauss übriggeblieben folgenden Inhalts:

„Im Reichskabinett liegen keine Schwierigkeiten vor und haben auch nicht vorgelegen. Auch keine neuen Informationen an deutsche Delegation unterwegs.“

Vielleicht wäre es möglich, über Herrn Kiep auf die sensationslüsternen und anscheinend ziemlich unbeschäftigten Herren Berichterstatter dahin einzuwirken, daß sie sich nicht auch noch auf einem besonderen Dienstwege bei ihren Vertrauensministern im Kabinett Rat einholen. Sonst wird nämlich die Arbeit hier unerträglich. Das Stauchen der Redakteure müßte nur in einer Form geschehen, daß das letzte Glied der Kette nicht ein Stauchen meiner Person durch Herrn Minister Brauns sein würde.

In der Besprechung mit Herrn Minister Brauns habe ich gleich versucht – natürlich in vorsichtiger Form und ohne Bezugnahme auf Ihr Schreiben –, seine Stellungnahme zu den Kompromißmöglichkeiten bei Art. 16 zu sondieren. Ich knüpfte hierbei an englische Presseausführungen an, worauf mir Herr Minister Brauns gleich erklärte, auch er sähe hier durchaus Möglichkeiten. Ihm scheine es auf den ersten Blick nicht untragbar, wenn wir uns vorerst nur mit verbindlichen Erklärungen der vier beteiligten Mächte der Gegenseite begnügten und die Interpretierung oder Abänderung des Art. 16 dann dem Völkerbund[724] überließen. Herr Minister Brauns sagte ausdrücklich, er halte den Kabinettsbeschluß7 nach dieser Richtung hin nicht für „sakrosankt“; also bezüglich des Augenleidens dieselbe Feststellung, über die ich bereits mehrfach berichtete8. Obige ziemlich besorgnisvollen Mitteilungen bitte ich nicht dahin auffassen zu wollen, als ob mir eine Lösung auf dieser Basis innenpolitisch völlig untragbar erscheine; nur muß eben feinste Regie zur Anwendung kommen. Es dürfte unter keinen Umständen in irgendeiner mehr oder weniger amtlichen Auslassung von einer solchen vorläufigen Lösung gesprochen werden, ohne daß gleichzeitig seitens der Deutschen Delegation hier in Berlin die entsprechenden Erläuterungen mündlich gegeben werden könnten. Andernfalls werden sofort äußerst unbequeme Resolutionen und Festlegungen bei den verschiedensten maßgebenden Stellen die Folge sein, von denen diese Herren dann nicht mehr herunter können.

[…]

In den Zeitungen werden Sie von einem Zwischenfall anläßlich der Einweihung eines Kriegerdenkmals hier in Berlin gelesen haben. Der bekannte General Sixt von Armin hat in recht überflüssiger Weise betont, daß er im Auftrage Sr. Majestät des Kaisers spreche, obschon eine Reichswehr-Komp. zugegen war und (glücklicherweise allerdings nach dieser Rede) der Herr Reichspräsident an dieser Feier teilgenommen hat. Ich kann mitteilen, daß der Herr Reichspräsident über das Vorgehen des Herrn Generals v. Armin sehr entrüstet ist und auch das Reichswehrministerium die Rede für eine ganz besonders starke Taktlosigkeit hält. Eine offizielle Richtigstellung wird vom Reichswehrministerium alsbald erfolgen, Beunruhigung ist also nicht erforderlich9.

[…]

Mit nochmaligem Danke für Ihren lieben interessanten Brief bin ich mit vielen Grüßen und der Bitte um ehrerbietigste Empfehlung an den Herrn Reichskanzler

Ihr getreu ergebener

Pünder

Fußnoten

1

Obiger Bericht ist Teil des zwischen Kempner und Pünder während der Konferenz geführten, durch Fernschreiber und Kurier übermittelten Schriftwechsels, der insgesamt 26 Schreiben umfaßt. Pünder berichtet täglich über die Reaktionen der politischen Parteien zu den Vorgängen in Locarno, über diesbez. Stellungnahmen der Presse, aber auch über zahlreiche Angelegenheiten des politischen Alltags. Kempners Berichte beschränken sich dagegen auf knappe Schilderungen des Konferenzablaufs. Sie tragen gelegentlich den Kopfvermerk: „Für Ministerialdirektor Pünder, Auswärtiges Amt und Staatssekretär Meissner“, dienen z. Teil also auch der Unterrichtung des RPräs. Sämtliche Schreiben in R 43 I /426 .

2

Pünder hatte am 11. 10. über verschiedene Anzeichen der Beunruhigung in DNVP-Kreisen wegen der Behandlung der Kriegsschuldfrage durch die Dt. Delegation berichtet, jedoch auch betont, daß ernsthafte Schwierigkeiten gegenwärtig nicht zu befürchten seien. Sollte sich im weiteren Verlauf der Konferenz jedoch keine Gelegenheit zu der beabsichtigten Erklärung in der Kriegsschuldfrage (vgl. Dok. Nr. 168) ergeben, so würde es ihm angezeigt erscheinen, „daß ein Mitglied der Deutschen Delegation, am zweckmäßigsten wohl der Herr Reichskanzler selber, nach Berlin käme, um hier dem Kabinett und den Parteiführern zu berichten“ (R 43 I /426 , Bl. 162 f.).

3

Kempner gibt in diesem Schreiben (R 43 I /426 , Bl. 200 f.) einen kurzen Bericht über die Verhandlungen des 9. und 10. und erläutert die zu Art. 16 der Völkerbundssatzung in Aussicht genommene Regelung (vgl. Anm. 1 zu Dok. Nr. 182).

4

Die nachfolgend wiedergegebenen WTB-Meldungen sind in Form von Zeitungsausschnitten in das Original des obigen Schreibens eingeklebt.

5

S. dazu Anm. 3 zu Dok. Nr. 75.

6

Im zweiten WTB-Ausschnitt vier Bleistift-Unterstreichungen. Die betr. Passagen hier in Kursivdruck.

7

Gemeint ist wohl Punkt III der am 2. 10. beschlossenen „Richtlinien für die Ministerzusammenkunft in Locarno“. S. Dok. Nr. 170, dort bes. Anm. 24.

8

Pünder am 6. 10. an Kempner: „Ich habe die Empfindung, daß man ihm [Brauns] in der Provinz tüchtig eingeheizt hat, jedenfalls war von dem ‚Augenleiden‘, das Sie und ich letzthin mehrfach beobachten zu müssen glaubten, keine Spur mehr zu bemerken. Er sagte, seine Partei könne eine Nebenregierung irgendwelcher Art der Deutschnationalen Partei unter gar keinen Umständen dulden.“ Und am 9. 10.: „Auch sonst macht sich Herr Minister Brauns schon Sorge, die Konferenz möchte scheitern. Von dem ‚Augenleiden‘ ist immer weniger zu verspüren. Er hat mich ausdrücklich beauftragt, dem Herrn Reichskanzler als seine Auffassung mitzuteilen, an der Kriegsschuldfrage dürfe die Konferenz unter gar keinen Umständen scheitern.“ (R 43 I /426 , Bl. 141-143, 158 f.).

9

Näheres hierzu in Dok. Nr. 185, dort auch Anm. 3.

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